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Ehrenvorsitzender in spe

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Günther Oettinger hat eine Rechnung offen mit Baden-Württemberg, seit er vor sechs Jahren auf Druck der Kanzlerin nach Brüssel rotieren musste. Jetzt wittert er die Chance, sein Image zu polieren: als Brücken bauender Strippenzieher.

Schon die Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten wären 2011 beinahe am überflüssigsten Tiefbahnhof in der Geschichte der Tiefbahnhöfe gescheitert. Fünf Jahre danach werden die Grünen von einem Thema eingeholt, das Winfried Kretschmann für gegessenen Käse gehalten hat: die Sprechklausel im Finanzierungsvertrag. Die hat Oettinger in seiner Regierungszeit erfunden, als "Neuverhandlungsverhinderungsklausel", wie er einmal selber sagte. Davon wollen die Verkehrspolitiker der CDU heute nichts mehr wissen. Trotz einschlägiger interfraktioneller Landtagsbeschlüsse soll nicht einmal der Begriff "Kostendeckel" ins koalitionäre Vertragswerk Eingang finden.

Das wäre die Stunde des EU-Kommissars. Der ist vergangenen Freitag schon mal in Stuttgart eingeflogen, um seinem alten Weggefährten Thomas Strobl den Rücken zu stärken. Während der Krisensitzungen absolvierte er einen Auftritt in der Attitüde des Durchblickers, die ihm derzeit aber nur wenige übel nehmen in seiner Partei. "Drei Minuten Oettinger bringen mehr", wird danach ein Vorständler sagen, "als eine halbe Stunde von manchen anderen." Viele, fügt er noch hinzu, hofften in dieser schwierigen Lage für die CDU auf "Hilfe aus Brüssel", und das hänge mit "unserer eigenen Orientierungslosigkeit zusammen".

Er sehe sich "in der Rolle des Unterstützers", hatte Oettinger im Wahlkampf gesagt. Natürlich hat der 62-jährige Ditzinger den Kontakt zur Heimat nie verloren. Seit einiger Zeit ist er aber besonders häufig zu sehen. Im Januar krönte er Guido Wolfs Auftakt in die heiße Wahlkampfphase mit vielen warmen Worten. Er warb landauf, landab von Straubenhardt bis Neckarhausen, von Rheinfelden bis Engstingen.

Mal Deutschland-Koalition, mal Grün-Schwarz

Keine Stunde nach Bekanntgabe der niederschmetternden CDU-Ergebnisse am 13. März stand er schon wieder mit Rat und Tat hilfreich zur Seite: Der Ehrgeiz seiner Partei müsse jetzt "darin bestehen, das Amt des Ministerpräsidenten zu erreichen". Ein Bündnis von CDU, SPD und FDP, die sogenannte Deutschland-Koalition, sei gegenüber Grün-Schwarz "realistisch, legitim und aus Sicht unserer Wähler klar die bessere Option". Sieben Tage später wiederum rät er dann doch zu Grün-Schwarz und sieht "bei gutem Willen aller Beteiligten eine gute Perspektive für diese Koalition".

Müsste sich der Fachmann fürs Digitale selbst beschreiben, gehörte Wankelmut sicher nicht dazu. Dabei zieht sich durch seine Vita wie ein roter Faden die ausgeprägte Neigung, Forderungen zu erheben, Vorschläge zu unterbreiten und Bewertungen abzugeben. Die allerdings verschwinden nur allzu oft entweder wieder in der Versenkung wie ins Wasser geworfene Steine: von der Schuluniform bis zum verpflichtenden Kindergartenjahr, von der grünen Infrastruktur über Geschwindigkeitsbegrenzungen(!) auf Autobahnen bis zu Methadonprogrammen für Schwerstabhängige, von der Nullverschuldung bis zur Länderneugliederung im Norden und Osten der Republik.

Oder er überrascht, wie jüngst in der Flüchtlingsdebatte, mit der Idee, Deutschland solle im Alleingang doch mehr Geld in die Hand nehmen, um die Lager in den syrischen Nachbarländern mit Schulen, Krankenhäusern und sonstiger Infrastruktur auszustatten. Sie könne ganze Regale füllen, sagt die langjährige SPD-Europaabgeordnete Evelyne Gebhardt mit solchen Vorstößen, die der Kommissar nie ernsthaft weiter verfolgt habe. Auch die Prognose, Bargeld werde bald verschwinden, ist auf ihre Halbwertszeit noch nicht getestet.

Ein Glas weniger wäre besser gewesen

Ebenfalls Regale könnten die Porträts und Kommentare füllen, in denen der Jurist als exzellenter Kenner von Land und Leuten beschrieben wird, zugleich aber auch als wenig beständig und zur Unernsthaftigkeit neigend. Regelmäßig, auch als Ministerpräsident, kokettiert er mit seinem Alkoholkonsum, sogar im öffentlichen Wortergänzungsspiel ("Was denken Sie, wenn Sie morgens in den Spiegel schauen?" – "Dass ich am Vorabend ein Glas weniger hätte trinken sollen"). Oder in Homestorys, als er nach etlichen Pannen um seine missglückte Trauerrede auf Hans Filbinger schon reichlich unter Druck war und ohne Not offenbarte, Flaschen zu sammeln.

Der alte starke Mann und der neue, Thomas Strobl, kennen sich seit Jahrzehnten. Zwischen 1992 und 1996 war der Heilbronner sogar parlamentarischer Berater der CDU-Fraktion, damals übrigens mit dem Ruf eines stramm rechten Flügelmanns. Ende der Neunziger, da saß er schon im Bundestag, legte sich der Schäuble-Schwiegersohn offen mit Oettinger an und beklagte als einer der "jungen Wilden", dass die CDU sich um die eigene Modernisierung zu wenig kümmere: "Wir brauchen den mündigen Christdemokraten." Daran könnte er jetzt in den schwierigen Verhandlungen mit den Grünen nahtlos anknüpfen. Es hakt nicht nur bei Stuttgart 21, sondern auch in der Verkehrspolitik insgesamt, in Fragen der Agrarpolitik oder beim Jagdgesetz. Und die Zukunft der Gemeinschaftsschule ist bisher noch gar nicht ernsthaft diskutiert.

Bevor diese Inhalte aber überhaupt aufgerufen werden, müsste Oettinger seine Rolle als gefühlter Ehrenvorsitzender im Ausgleich zwischen Fraktion und Landesvorstand ausfüllen. Ausgerechnet seit sein Gemälde im Staatsministerium hängt, dem Freunde sofort den Titel "Der Pate von Baden-Württemberg" gegeben haben, werden ihm neue Kräfte zu geschrieben. Am Dienstag, und damit nur vier Tage nach dem medienwirksamen Handschlag zwischen Strobl und Wolf, ging es hoch her hinter den Kulissen. Nicht wenige hatten sich munitioniert mit einzelnen Ergebnissen, speziell in Strobls Heimatstadt Heilbronn, in der die CDU mit gerade mal 22 Prozent deutlich unter dem Landesdurchschnitt lag. Einer will nicht gelten lassen, dass jetzt "landespolitische Nichtschwimmer" das Sagen haben. Ein anderer kann nicht akzeptieren, dass "allein das Brillengestell aus Tuttlingen schuld sein soll an der historischen Niederlage".

Die Lager in der CDU haben sich in Stellung gebracht

"Da sind Gräben aufgebrochen statt zugeschüttet worden", berichtet einer aus der Sitzung hinter verschlossenen Türen. Tatsächlich hat sich das alte Oettinger-Lager schon in Stellung gebracht. Allen voran einer seiner ältesten Kumpel, der frühere Finanzminister Willi Stächele, der Guido Wolf baldmöglichst als Fraktionschef ablösen will. Und die Gegenbewegung funktioniert wie eh und je: Der stellvertretende Landes- und Fraktionschef Winfried Mack, der gemeinsam mit Erwin Teufel ein Buch geschrieben hat ("Aus der Krise lernen"), verlangt einen "inhaltlichen Führungsanspruch" bei Grün-Schwarz für seine Partei. Und insinuiert, dass Strobl genau dazu nicht in der Lage ist.

Am Samstag findet in Schorndorf die erste CDU-Basiskonferenz statt, auf der sich Strobl und Wolf den Mitgliedern stellen. Auf Facebook hat einer aus Nordwürttemberg bereits einen Hilferuf an Oettinger geschickt, doch "bitte vermittelnd einzugreifen". Der zieht zum Ende der Woche allerdings Strippen anderswo und hat zum fünften "Europa Forum Lech" auf den Arlberg geladen. Da kommen die Gäste aus einer anderen Liga. Der gefallene Telekom-Chef Ron Sommer ist darunter, der abgewählte, mit der rechtspopulistische FPÖ paktierende frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel oder der frühere Daimler-Vorstand Klaus Mangold. Viele eint mit dem Gastgeber etwas, von dem die baden-württembergische CDU gerade reichlich zu bieten hat: die Niederlagen-Erfahrung.


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7 Kommentare verfügbar

  • by-the-way
    am 17.04.2016
    Antworten
    @ invino
    Zitat: "(...) der einen früheren regierungschef von baden-württemberg implizit als jemanden bezeichnet, der einer verbrecherorganisation angehört und eigentlich hinter schloss und riegel sitzen müsste."

    SUPER!
    Sie sind auf einem guten Weg und haben es schon fast verstanden...

    Ein…
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