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Flucht ins Chaos

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Die Situation der Flüchtlinge im Land spitzt sich immer weiter zu. Alle Erstaufnahmestellen sind überfüllt, Ausweichquartier Mangelware. Und den größten Teil der politisch Zuständigen eint nur eins: die Schuld zuerst bei anderen zu suchen, anstatt endlich eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen.

Am vergangenen Wochenende hat sich der Grüne Oberrealo Alexander Bonde zu Wort gemeldet. Als Minister kennt er sich aus im ländlichen Raum, ist zuständig für Tourismus und Naturschutz. Schon seit Monaten hätte er konkret vor Ort für die Unterbringung von Asylbewerbern werben können – in leer stehenden Gasthöfen oder alten Hotels, die ausweislich einschlägiger Immobilienportale durchaus vorhanden sind im Südwesten, in Jugendherbergen oder Naturfreundehäusern. Er hätte Überzeugungsarbeit leisten können auf seiner Sommertour von Trossingen nach Calw, einer Stadt, in der der Wohnungsleerstand mit fast sieben Prozent deutlich überm Landesdurchschnitt liegt. Bonde warf lieber der Bundesregierung vor, die Dringlichkeit des Themas nicht erkannt zu haben. Dafür kassierte er prompt eine Breitseite von CDU-Landeschef Thomas Strobl: Das sei schäbig. 

Strobl weiß, wovon er spricht. Er gehört ebenfalls zu jenen, die nur zu gerne mit dem Finger auf andere zeigen, statt selber aktiv zu werden. Seine selbst ernannte Baden-Württemberg-Partei rühmt sich stolz der über 800 Stadt-, Gemeinde- und Ortsverbände im Land. Hätte davon nur jeder zweite mitgeholfen, jeweils 20 Flüchtlingen ein Dach überm Kopf zu besorgen, wären 8000 untergebracht. Stattdessen attackiert Strobl seit Wochen die Landesregierung, immer in der Überzeugung, dass die Asylpolitik noch nie ein Gewinnerthema war. Und der stellvertretende CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzende Winfried Mack verlangt aktuell, dass die neue Lenkungsgruppe der Koalition höchstpersönlich in der Erstaufnahmeeinrichtung (LEA) in seinem Wahlkreis erscheint. Als wäre damit auch nur eines der vielen Probleme gelöst.

Die ehemalige Reinhardt-Kaserne in Ellwangen ist mit ihrer täglich wachsenden Überbelegung nicht nur Symbol für die Zunahme der Zahlen in diesem Sommer, sondern fürs multiple Systemversagen. Denn sie steht, neben den für die Erstaufnahmeaufnahme adaptierten fünf Gebäuden und der inzwischen eröffneten Nothalle, halb leer. Ohne großen Aufwand könnten weitere Komplexe für Flüchtlinge – in Ellwangen kommen ganz überwiegend Syrer an – freigegeben werden. Der örtliche CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter, ein Oberst a. D. und Präsident des mehr als hunderttausend Mann zählenden Reservistenverbands, hat eine viel bessere Idee: Der Ellwanger Gemeinderat solle möglichst schnell eine sogenannte Veränderungssperre verhängen, um genau das zu verhindern. Nach den Vorstellungen der Kanzlerin darf die Unterbringung nicht mehr an Emissions- und Brandschutzrichtlinien scheitern. An der herzlosen Engstirnigkeit von Parteifreunden im Bemühen um billige politische Erfolge offenbar schon.

Guido Wolf will da natürlich nicht beiseite stehen. "Die Zustände in der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen sind untragbar", stellt der CDU-Spitzenkandidat wie immer forsch fest. Die Einrichtung sei hoffnungslos überbelegt. Wolf kann oder will seine Worte nicht wägen. Was laut Polizeibericht Schlägereien in der LEA, Rangeleien oder schnell wieder beruhigte handgreifliche Streitigkeiten um die Nachtruhe waren, nennt er "gewalttätige Auseinandersetzungen". In Haftung nimmt er natürlich die grün-rote Landesregierung und ihre "Konzeptlosigkeit". Kein Wort dagegen an die Adresse der inzwischen fast 5000 Like-its zählenden Zuwanderungsgegner im Ostalb-Kreis, die auf ihrer Facebook-Seite zur Wahl der NPD aufrufen, männliche Flüchtlinge als Deserteure verunglimpfen oder darauf hoffen, dass sich die unterschiedlichen Ethnien "selber die Schädel einschlagen". Auch Kiesewetter postete auf "Kein Asylheim in der Reinhardt-Kaserne": Die Landesregierung habe "die gutmütige Ellwanger Stadtverwaltung verraten". 

Überall dasselbe Drama

Egal wo in Baden-Württemberg, das Schauspiel ist angesichts der Entwicklung vielerorts dasselbe: Die einen zeigen anklagend aufs Land, die anderen auf den Bund, Dritte auf Europa, CDU-Politiker auf Grüne und umgekehrt. Das SPD-geführte Kultusministerium hat nichts Besseres zu tun, als schon zwei Wochen vor Ferienende an die Kommunen zu appellieren, Turnhallen doch rechtzeitig wieder frei zu machen – als gäbe es derzeit nichts Wichtigeres als überdachte Leibesübungen. Die vielen aktiven Helfer sitzen in den Kreisen und Kommunen, im Ehren- und im Hauptamt. Der Bürgermeister von Tamm, Martin Bernhard, hat sich wie sein Tübinger Kollege Boris Palmer persönlich auf die Suche nach Wohnungen gemacht. Mitarbeiter arbeiten nachts, Urlaube sind gestrichen, auf Bahnsteigen verteilen sich selber über soziale Medien organisierende Helferteams Trinken, Essen oder Teddys.

Vorbilder für die, die tatsächlich Entscheidungsgewalt haben? Die eigene Autorität mit der des Amtes kombinieren könnten? Eher im Gegenteil: Bei Bundesinnenminister Thomas de Maizière laufen viele Fäden zusammen, in seine Zuständigkeit fällt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), er verantwortet Personalausstattung und Prognosen und eröffnet einer staunenden Öffentlichkeit in den letzten Augusttagen, dass Deutschland von den Zahlen "überrascht" wurde. Was schlicht nicht stimmt. Denn seit Jahren warnen nicht nur Pro Asyl oder die Flüchtlingsräte, sondern auch die Vereinten Nationen davor, die globalen Wanderungsbewegungen zu unterschätzen. 2010 sind fast 44 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, 2014 sind es schon 60 Millionen, so viele wie noch nie, die meisten aus Syrien, Afghanistan und Somalia. Auf einer Liste des UN-Hilfswerks der besonders engagierten Gastgeber, die das Bruttoinlandsprodukt mit der realen Migrantenversorgung vergleicht, liegen Äthiopien, Pakistan, der Tschad, Uganda und Kenia auf den ersten fünf Plätzen – und die Bundesrepublik auf Rang 49.

Entgegen den eindringlichen Appellen des Hohen Kommissars António Guterres, legale Fluchtwege zu schaffen, plädierte de Maizière, früher Richard von Weizsäckers Redenschreiber, beharrlich für engmaschigere Kontrollen der EU-Außengrenzen, sogar um den Preis massenhaft im Mittelmer ertrinkender Männer, Frauen und Kinder. Dabei hätte sich der größte Abschreckungsbefürworter außerhalb Bayerns ein Vorbild an seinem Vorgänger nehmen können. Wolfgang Schäuble hatte schon 2008 für die freiwillige Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus dem Irak plädiert. Mit vielen neu oder wieder gegründeten Unterstützerkreisen reagieren weite Teile der Zivilgesellschaft in Baden-Württemberg seither Ende des vergangenen Jahrzehnts sensibel auf die Entwicklung. Die CDU/FDP-Bundesregierung reagierte auch: Das BAMF baut weiter einschlägige Stellen ab.

Für die Flut gab es acht Milliarden, für Flüchtlinge nur eine

Im Dezember 2013 folgte de Maizière auf Schäuble. Schnell stellte er sich als "Verfassungsminister", wie er selber sagte, gegen Kirchengemeinden, die Asyl anboten, gegen ein Einwanderungsgesetz, viel zu lange selbst gegen Verbesserungen im Alltag bereits in Deutschland lebender Migranten. Und er hielt an den falschen Vorhersagen fest. Bei einer Naturkatastrophe, der Oderflut oder dem Jahrhundertorkan Lothar hätte ein verantwortlicher Minister angesichts derartig eklatanter Fehleinschätzungen den Hut nehmen müssen. Aber derartige Vergleiche hinken ohnehin: Nach dem Hochwasser an der Donau im Juni 2013 stellte die Bundesregierung eine Soforthilfe von acht Milliarden Euro zur Verfügung, zwei Jahre später erhöhte sie die magere Flüchtlingshilfe von 500 Millionen auf eine Milliarde. Die Folgen lassen sich konkret in der Ellwanger LEA besichtigen: Dort stehen die Menschen inzwischen mehr als zwei Stunden fürs Mittagessen an. Und die auch nicht gerade christliche Idee, Geld- wieder durch Sachleistungen zu ersetzen, würde schon allein am fehlenden Personal für die Ausgabe scheitern.

Was alles an der Attraktivität gerade der prosperierenden Länder im Süden Deutschlands nichts ändert. Baden-Württembergs Städte und Gemeinden richten sich in Sonderschichten auf die Organisation zusätzlicher Notunterkünfte ein. In den sozialen Medien engagieren sich spontan täglich neue Hilfsgruppen. Die Landesregierung, die für Zuwanderer 1,3 Milliarden Euro im Doppelhaushalt 2015/2016 veranschlagt hatte, wird Kreisen und Kommunen zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen. Eine Rücklage von 450 Millionen Euro ist bereits gebildet.

Und sie kann sie ihren Berechnungen zur Nullverschuldung schon mal neu zugrunde legen, dass die Ausgaben weiter steigen werden. Ganz unabhängig davon, ob über die Anträge im BAMF endlich wieder in angemessener Zeit entschieden wird. Die Verfahrensdauer sei Dreh- und Angelpunkt, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), und alles weitere "nicht sehr bedeutend". Auch das verengt die Perspektive. Denn ein zentraler Aspekt ist über all den Schuldzuweisungen, über den Appellen an die nächsthöhere politische Ebene und an Europa, über die Rufe nach weiteren sicheren Herkunftsstaaten aus dem Blick geraten. Sehr viele Flüchtlinge zieht es nach Deutschland, und zwar nur nach Deutschland, weil sie hier Verwandte haben, weil sie schnell auf Arbeit und auf ein besseres Leben hoffen. Von den 3600 Menschen, die am vergangenen Montag aus Ungarn ausgereist sind, stellten nur sechs ihren Antrag in Österreich. 

An dieser Attraktivität können, solange die innereuropäischen Grenzen offen bleiben, selbst EU-weite Verteilungsquoten wenig ändern. In Polen sitzen einige der ohnehin nur gut hundert aufgenommenen christlichen Asylbewerber auf gepackten Koffern und wollen nur nach Westen. "Thank you, Germany!", skandierten Syrer in der Nacht auf Dienstag im Münchener Hauptbahnhof nach wochenlanger Irrfahrt, bevor sie in den Zug nach Stuttgart stiegen. Jetzt muss sich die Politik dieses Danks nur noch als würdig erweisen.


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7 Kommentare verfügbar

  • Schwabe
    am 08.09.2015
    Antworten
    Und es passiert wieder, direkt vor unseren Augen! Unter dem Vorwand der "Ursachenbekämpfung" der Flüchtlingsströme "nach Art des Westens (USA und EU)".
    Um das seit Jahren gesetzte, jedoch in typisch feiger Manier nicht öffentlich kommunizierte Hauptziel des Westens zu erreichen - nämlich den…
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