Oft weiß der Käufer einer gedruckten Zeitung nicht, ob er das gefühlt wachsende Angebot von vorgeblich unverzichtbaren Premium- und "Plus"-Texten im Blatt selbst überhaupt finden wird oder ob ihm der Zugriff nur im Rahmen eines Online-Abonnements gewährt ist: eine fatale Markenstrategie, wenn die Premium-Angebote eines Pressehauses vom Markenkern – der Zeitung auf Papier – separiert werden und so ein mehr oder minder angesehenes Traditionsprodukt plötzlich zum Einwickelpapier degradiert wird.
Was herauskommt bei diesem neuesten "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Titel einer legendären Studie von Jürgen Habermas, erschienen 1962), hat gegen Ende der 90er Jahre ein amerikanischer Medienberater beschrieben: "All style, no content". Alles Aufmachung und krampfig-originelle Benutzeroberfläche – aber mit schwindendem journalistischen Ertrag.
Deutsche Publikumsmedien – Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Nachrichtenmagazine – gewinnen zwar immer mal wieder internationale Auszeichnungen für die Überarbeitung ihrer optischen Aufmachung, aber nur um den Preis einer scheinbar "leserfreundlicheren" Balance von Text, Bild und sogenanntem Weißraum; geringere Textmengen, mehr Bilder und maximale Anteile an unbedrucktem Papier (vielleicht aber auch nur: blinde Flecken, in der Gesamtwirkung eher ein fetter Happen Unterkomplexität) sollen den Appetit der Leserschaften auf frische, provokante Gedanken dämpfen, auf (zu) anspruchsvolle Analysen oder ausufernde Hintergrundgeschichten; dabei aber den "Lesespaß" mit gefühlt maximierter Übersichtlichkeit erhöhen.
Gratulation zur genussfreudigen Leserschaft
Wer sich heute ein schnelles Bild über das Qualitätsprofil und -gefälle der deutschsprachigen Presselandschaft verschaffen will, muss sich nicht dicke Bündel von Lokalblättern und das halbe Dutzend überregional ausgerichteter "Leitmedien" kaufen. Es genügt die Eingabe der Verlagstitel, und schon zaubern die Suchmaschinen des Internets genau das auf den Bildschirm, was Zeitungen als Markenprodukte mitsamt ihren Leserschaften wirklich voneinander unterscheidet: Es geht nicht um das Neueste vom Neuen, sondern den Verweis auf jene Textbeiträge, die auf Grundlage ihrer jeweiligen "Klickraten" als "meistgelesen" "-geteilt" oder "empfohlen" angezeigt werden.
Hier eine vergleichende Stichprobe, beobachtet im Rahmen eines schmalen Zeitfensters Anfang 2018. Meistgelesen in Stuttgarts größter Tageszeitung sind am 13. Januar Texte mit folgenden Überschriften: "Hier testen wir Stuttgarts beste Brezeln", "Diese Tiere suchen ein Zuhause", "Hier testen wir die neuesten Italiener". Befund: Nun ja, eine bodenständige, empathische und genussfreudige Leserschaft. Gratulation an den Verlag!
Kaum zwei Wochen später im Ranking, jetzt doppelt empathisch: "Zwei Urlauberinnen stürzen bei Kreuzfahrten in den Tod" und "Lucas schlafend in Kindertagesstätte gefunden". Tags darauf aber triumphiert schon wieder der Appetit: "Frühstück satt in Stuttgart" und "Hier kommt Schwäbisches auf den Tisch". Und dann werden die Leser plötzlich nüchtern: "AfD im Bundestag: Stephan Brandner kann und darf nicht gewählt werden"; "Aufregung um FPÖ-Politiker wegen Nazi-Liederbuch"; "Facebook weiß, wer wie lange welchen Porno schaut".
Etwa zeitgleich der Blick auf die Leserpräferenzen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Türkei rückt in Syrien vor – mit deutschen Panzern?" und "Der PC stirbt einen schönen Tod". FAZ-Leser interessiert auch Donald Trump und sein beziehungsweise "Das amerikanische Wirtschaftswunder" sowie ein "HSV-Antrag auf Ausschluss von AfD-Mitgliedern"; empfohlen wird ein Blick auf die "Gomringer-Debatte: Erschreckender Akt der Barbarei"; da ging es um faktisch harmlose, aber vermeintlich sexistische Lyrik an der Fassade einer Berliner Kunstschule, die seitens der Studierenden für intolerabel erklärt und entfernt wurde. In Stuttgart stellt sich der Kosmos der attraktivsten Schlagzeilen in diesen Tagen gemütlicher dar: "Die scheue Fürstin wird 40" – gemeint ist Charlène von Monaco; "10 000 Besucher bei den Legokunstwerken"; "RTL-Bachelor – Zuwachs in der Lady-Villa".
Kosten sparen, Standards senken und auf Wallungsthemen setzen
Die hier in Text-/Leser-Statistiken gespiegelte FAZ-Lektüre ist einen Hauch kosmopolitischer orientiert als die Aufmerksamkeitsreflexe einer eher lokalpatriotisch gestimmten Leserschaft im Schwäbischen; gleichzeitig spiegelt sich in solchen Klickanalysen recht anschaulich wider, wie Verlage ihre jeweiligen Zeitungs-Marken heute steuern: Nicht unbedingt nach journalistischen Gesichtspunkten, vielmehr nach Kriterien der Kosteneinsparung, gern auch der Senkung qualitativer Standards und mit publizistischen Konzepten, welche die Themenschwerpunkte einer Zeitung nicht mehr souverän gewichten und professionell präsentieren, sondern nur noch nach Maßgabe einer vermeintlich "bewährten" Algebra der Klicks: Was bringt Leser zuverlässiger in Wallung – der beste Burger-Brater, der Skandal im Flatrate-Bordell oder jener bequeme Hund, der selbständig U-Bahn fährt?
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Claudia Heruday
am 10.05.2018