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Stuttgarter Künstler Karl-Heinz Bogner

Stadt als Bühne, Raum als Macht

Stuttgarter Künstler Karl-Heinz Bogner: Stadt als Bühne, Raum als Macht
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In seinem Projekt "My Inner City" hält Karl-Heinz Bogner fest, wie Stadt auf uns wirkt. Der Stuttgarter Künstler zeigt in seinen Raummodellen und Zeichnungen, welche Macht Architektur ausübt – und wie man sich die Stadt zurückerobern kann.

Künstlerateliers sind mitunter rustikale Orte. Dort wird gerne die grobstoffliche Seite der Kunst zelebriert, das Material dem kreativen Exzess geopfert. Wer Fotos des überbordenden, angeblich niemals aufgeräumten Studios von Francis Bacon gesehen hat, weiß, was gemeint ist. Dann aber gibt es Ateliers wie das von Karl-Heinz Bogner: spartanische Denkräume, in denen der künstlerische Prozess gerade so viel äußere Gestalt annimmt wie nötig.

Die Ergebnisse dieses Prozesses, Zeichnungen, skulpturale Objekte, Raummodelle, wirken bisweilen wie Collagen architektonischer Formen. "Fragmente kommen bei mir zusammen", sagt Bogner. Bruchstücke, die der künstlerische Blick aus dem Stadtgefüge herausgelöst hat, neu zusammengefügt und mit imaginativem Gehalt versehen hat: Die Betrachter sind aufgefordert, das Gegebene weiterzudenken, weiterzubauen.

Bogner ist auf der Suche nach der inneren Stadt. "My Inner City" heißt sein aktuelles Projekt. Es geht ihm um das persönliche Bild der Stadt. Wie kann sich der Einzelne einen urbanen Ort aneignen? Wie wird ein Ort zu meinem Ort? Spricht Bogner über seine Kunst, kommt er auf das Motiv des Umkreisens. Er umkreist Orte und ihre Atmosphären. Äußerlich im Stuttgarter Stadtraum, innerlich im Raum der Empfindungen und Gedanken. Bogner ist Flaneur, ein Stadtspaziergänger. Einer, dessen Schritte Lücken in den Alltag reißen. Einer, dem die Stadt unverhoffte Szenen enthüllt.

Stuttgart ist ein dankbares Experimentierfeld

In Bogners urbanen Aneignungen spiegelt sich viel vom Konzept der dérive (dt. Drift) wider, das der französische Philosoph Guy Debord prägte – ein absichtsloses Umherschweifen durch die Stadt: Nicht Alltagsroutinen, sondern Stimmungen und architektonische Eindrücke leiten den Blick. Wahrnehmung als Experiment. Eng verwandt damit ist die sogenannte Psychogeografie. Sie untersucht, wie städtische Räume unsere Emotionen und unser Verhalten beeinflussen. Stuttgart ist dafür ein dankbares Experimentierfeld. In krassem Kontrast sind hier unterschiedlichste Eindrücke auf denkbar kleiner Fläche verdichtet. Nahtlos kippt das Wechselbad von urbaner Zerrissenheit (Paulinenbrücke) in den sterilen Shoppingraum (Gerber), vom kontrollierten Brennpunkt (Österreichischer Platz) zum quirligen Szenetreff (Tübinger Straße).

Karl-Heinz Bogners Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle von Architektur und bildender Kunst. Ein Grenzgang, der sich an seiner Vita ablesen lässt. Dem Studium an der Freien Kunstschule Stuttgart folgte das Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Seit rund 30 Jahren sind seine Werke in zahlreichen Ausstellungen zu sehen.

Kunst als urbaner Resonanzraum

Kritik wolle er mit seiner Kunst nicht üben, sagt Bogner. Politisch fruchtbar sind seine Arbeiten dennoch. Sie führen vor Augen, dass öffentlicher Raum wiederum Raum persönlicher Aneignung sein kann. Dass urbaner Raum subjektiv gestaltbar ist. So wie es die Modellcollage zu "My Inner City" zeigt, die in Bogners Atelier im Wachsen begriffen ist.

Den "Bausatz einer Wahrnehmung" nennt er das vielgliedrige, mit Fotografien und Zeichnungen bestückte Modell. Kontrastreiche Schwarzweißfotografien finden hier zu neuen Konstellationen zusammen. Panoramen vom Stuttgarter Kessel stehen neben Baustellendetails. Alles Ansichten bei Nacht. "Nachts ist die Stadt ehrlicher", meint Bogner. Menschenleer kommen die Orte zu sich, zeigen ihr wahres Gesicht.

Den Künstler interessieren keine Postkartenmotive. Sein Blick auf Stuttgart bleibt an Situationen hängen, die im Wandel begriffen sind. Baustellen etwa. Von denen gibt es in Stuttgart genug. Nächtliches Flutlicht verwandelt die Baugrube zur theatralen Szene. Wie ein Bühnenbild, das darauf wartet, bespielt zu werden. "Das sind für mich skulpturale Orte", sagt Bogner. Seine Fotografien spüren dem grafischen Potenzial dieser vergänglichen Konstrukte nach. Ein Potenzial, das Bogner im Atelier zeichnerisch entfaltet. Wie seine Raummodelle bewegen sich auch Bogners mitunter großformatige Zeichnungen im Spannungsfeld von konstruktiven Mustern und gestischem Impuls. Die Zeichnungen erinnern an Grundrisse oder topografische Details.

Das Repertoire der Architektur dient Bogner als künstlerisches Material: "Architektur war für mich immer ein Bild. Ich hatte nie den Wunsch, Gebäude zu bauen." Oft ist er mit dem Skizzenblock unterwegs, hält Sinneseindrücke fest. Mit leichtem, schnellem Strich übersetzt er Verkehrslärm oder herangewehte Fetzen von Klavierspiel in kleine Zeichnungen, die er Notationen nennt. Auch sie sind Teil der "inner city", auch sie sorgen für wechselseitige Resonanz in der Modellcollage.

Verbotene Räume – offene Kunst

Solch hereinprasselnden Eindrücken ist man im Stadtraum schutzlos ausgeliefert. Das kann an die Substanz gehen. Seit den Nuller-Jahren arbeitet Bogner an seiner Werkgruppe der "Eremitagen". Geschützte Räume des Rückzuges, die wie Architekturmodelle anmuten. Zwischen Konstruktion und Fragment eröffnen sie ein perspektivisches Spiel von Ein- und Durchblicken. Und sie laden ein, sich in sie hineinzuimaginieren: Fühle ich mich sicher oder droht das Eigenleben architektonischer Formen mich zu überwältigen? Die Frage bleibt dringlich, zumal die Arbeiten ohne Maßstab präsentiert werden. "Die Betrachter sind immer Bestandteil meiner Arbeiten", sagt Bogner, "sie haben die Möglichkeit sich darin zurückzuziehen."

Dass eine solche Zuflucht ein Privileg ist, ist ihm bewusst: "Es ist erschreckend, wieviel schutzbedürftige Menschen in einer so reichen Stadt wie Stuttgart sichtbar sind." Eine Tendenz, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Seine Objekte sollen ein Gegenbild sein: "Sie sind die Schutzräume, die viele bräuchten." Doch die Irritation bleibt: Können diese Konstruktionen wirklich als Orte des Rückzugs dienen?

Langgezogene Wandflächen in Bogners "Eremitagen" suggerieren eine Abtrennung zur Außenwelt und eröffnen doch zahllose Durchgänge. Die Räume sind zerbrechlich. Zwischen Rückzug und Unbehaustheit erscheinen sie als Zwischenlösungen. "Es sind Schutzräume, die dennoch offenbleiben", erläutert der Künstler, "sie sind für alle zugänglich, aber sie sind nicht abgeriegelt und halten niemanden ab." Qualitäten, die sich auch in "My Inner City", Bogners aktuellem Projekt, Ausdruck verschaffen. Denn die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum ist oft nicht eindeutig.

Diese Unschärfe erlebt Bogner in seiner künstlerischen Arbeit ganz konkret. Auf einem Abbruchgelände wurde ihm verboten zu fotografieren. Immerhin war das Terrain noch öffentlich zugänglich. Meist ist es anders: "Teile von Stuttgart sind abgeschottet und leer", stellt Bogner fest. Selbst Baustellen verbergen sich zunehmend hinter einem Sichtschutz.

Defensive Architektur soll Unerwünschte vertreiben

Als "hermetisch verschlossen" beschreibt Bogner etwa die Situation am inzwischen abgerissenen Breuningerparkhaus. Doch Abriegelung ist nicht nur ein Merkmal von Großbaustellen. Auch neue Gebäude überbieten einander in Unnahbarkeit.

Im Gegenzug schwindet der öffentliche Raum als Ort basisdemokratischer Aushandlung. Ein Gang durch die Stuttgarter City zeigt, wie die Interessen weniger mit Klauen und Zähnen verteidigt werden, wie Architektur als Instrument dient, um politischen Willen zu befestigen. Wer nicht konsumiert, hat zu verschwinden, und um dies durchzusetzen, wuchert "defensive Architektur". So nennt man Maßnahmen, deren Ziel die Vertreibung marginalisierter Gruppen ist. Sitzbänke, überdachte Bereiche vor Gebäuden und andere Orte, die etwa Obdachlose nutzen, um sich aufzuwärmen, werden so gestaltet, dass sie möglichst nicht nutzbar sind. Auch Familien oder Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung sind betroffen.

Repression wird einer feindlich auftretenden Architektur übergeben. Deren Waffen sind ebenso zahlreich wie erfinderisch: Metallspitzen an Vorsprüngen, Bänke mit Trennstangen, abriegelnde Betonblöcke und vieles mehr. "In der Stadt entstehen immer mehr verbotene Räume", beobachtet Bogner, "defensive Architektur wendet sich gegen diejenigen, die auf den öffentlichen Raum angewiesen sind. Zugleich werden Gebäude extrem abweisend, wie Trutzburgen."

Appell zur Wiederaneignung des öffentlichen Raums

Keine Frage: Bogners Kunst sensibilisiert. Können seine Werke gar einen positiven Einfluss auf städtebauliche Konzepte ausüben? Immerhin waren Bogners Arbeiten im Kontext des IBA'27-Netzes zu sehen - "IBA'27" steht für die "Internationale Bauausstellung 2027 der Stadtregion Stuttgart". Im Schulterschluss mit Verwaltungen, Investoren und den Menschen vor Ort soll das IBA-Netzwerk innovative Konzepte für ein menschengemäßes Leben, Arbeiten und Wohnen entwickeln. Dass steigende Preise und Verdrängung die Schattenseiten wirtschaftlichen Wachstums sind, ist dem IBA-Team klar. Deshalb tritt das auf zehn Jahre angelegte Projekt ausdrücklich für Inklusion und soziale Durchmischung ein: "Häuser, Straßen und Plätze sind Räume für Menschen und das gesellschaftliche Leben", ist in den Leitthesen der IBA zu lesen, "wir müssen dafür sorgen, dass diese Räume für alle offen und zugänglich sind."

Der Architekturkritiker Christian Holl ist hinsichtlich der Kunst von Karl-Heinz Bogner sicher, dass sich der Widerstand gegen die Raumordnung "von oben" lohnt. Denn gerade dort, wo soziale Gruppen oder Einzelne sich der herrschenden räumlichen Praxis entziehen oder offen widersetzen, entstünden, so Holl, "Reichtum und kulturelle Ressourcen".

Vor dem Widerstand steht die Reflexion, und dazu regt Bogners "My Inner City" an. Man fragt sich: Wenn urbane Orte Bühnenbilder sind, was ist dann mit den Figuren auf dem Theater, sprich: den Menschen, die den Stadtraum bevölkern? Wer sind die wirklichen Akteure? Wer hat Handlungsmacht? Ist es das städtebauliche Bühnenbild, das den Menschen ihre Rollen zuweist? Oder können Menschen wiederum über ihre Orte verfügen? Wenn wache Rezipienten Bogners "innere Stadt" in diesem Sinne weiterbauen, wäre dies sicher im Sinne des Künstlers.

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