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Klimakunst in Stuttgart-West

Staub zu Staub

Klimakunst in Stuttgart-West: Staub zu Staub
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Barbara Karsch-Chaïeb hat vor drei Jahren einen Teil ihres Ateliers in den Ausstellungsraum "kunst [ ] klima" umgewandelt. Sie will keine Lösungen für den Klimawandel vorgeben, sondern Impulse liefern.

Ein Rehfell hängt von der Decke. Die Wirbelsäule eines Wildschweins windet sich unter dem lauten Geräusch einer mechanischen Vorrichtung. Die junge Künstlerin Josephine Boger hat sich selbst an Barbara Karsch-Chaïeb gewandt, weil sie ihre Abschlussarbeit an der Stuttgarter Kunstakademie in deren Projektraum ausstellen wollte, den sie "kunst [ ] klima" nennt. Vor drei Jahren, nach dem Ende der Corona-Kontaktbeschränkungen, zweigte sie den Raum ab von ihrem Hinterhof-Atelier im Stuttgarter Westen. Die Leerstelle in den eckigen Klammern deutet an, dass es zwischen den beiden Begriffen keine vorgegebene Verbindung gibt. Vielmehr muss diese mit jeder Ausstellung neu gefüllt werden.

Was hat es nun mit den tierischen Überresten auf sich? Josephine Boger setzt sich nicht nur in ihrer Kunst mit der Endlichkeit auseinander, sie arbeitet auch in einem Bestattungsinstitut. An der Jagd auf das Reh, dessen Fell ausgestellt ist, hat sie teilgenommen, das Fell selbst abgezogen und mit Leinöl und Eigelb gebeizt. Gerne wandert sie in Nordschweden und stellt sich vor, wie es wäre, selbst für ihr Überleben sorgen zu müssen.

"Dust, and to dust you will return", lautet der Ausstellungstitel. In der Lutherbibel heißt es: "Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden." Barbara Karsch-Chaïeb arbeitet häufig mit Erde. Sie verwendet nicht handelsübliche Erdpigmente wie Terra di Siena oder Umbra, um etwas darzustellen, sondern will die Materialität der Erde zum Vorschein bringen, die sie zum Beispiel der Stuttgart-21-Baugrube oder dem Olga-Areal nahe bei ihrem Atelier entnimmt: Den Abbruch des Kinderkrankenhauses dort hat sie künstlerisch begleitet.

NS-Geschichte und Umweltzerstörung als Kunstwerk

Karsch-Chaïeb stammt aus einer Bauernfamilie auf der Schwäbischen Alb. Ihr Vater gründete einen Aussiedlerhof am Fuß des Hohenzollern, zwischen Hechingen und Bisingen. In Sichtweite befand sich das KZ Bisingen, in dem Zwangsarbeiter im letzten Kriegsjahr Ölschiefer abbauen mussten, um daraus im "Unternehmen Wüste" Mineralöl für die Kriegsmaschinerie der Nazis zu gewinnen. Nach dem Krieg ließen die Menschen wortwörtlich Gras über die Angelegenheit wachsen. Doch ihr Vater wusste davon. Und immer wieder kamen Überreste ans Licht.

In Metzingen, wo es vor der "Outletcity" einmal ein "Kunstseminar Freie Hochschule Metzingen" gab, das dann nach Schwäbisch Hall umzog und 2013 geschlossen wurde, studierte Karsch-Chaïeb bei Jeanette Zippel, die sich in ihrer Kunst mit Bienen beschäftigt, und bei Andreas Mayer-Brennenstuhl. Ihre Abschlussarbeit, ausgestellt im Naturkundemuseum Reutlingen, bestand aus ölschiefergetränkten Stoffbahnen. Ein Verweis auf zwei große Probleme: ein verdrängtes Kapitel der NS-Geschichte und die Umweltzerstörung durch Fracking.

"Ich bin keine Klimaaktivistin"

Sämtliche bisherigen Ausstellungen im Raum "kunst [ ] klima" behandelten das Zusammenspiel von Natur und Mensch. In der ersten Ausstellung der in Athen geborenen Künstlerin Evangelia Ntouni standen ein Tisch und zwei Stühle in einem Krater aus Erde, ein Berg aus Erde türmte sich auf dem Tisch auf. Der Geruch der Erde füllte den Raum, das Mobiliar war unbenutzbar. Kunst, wie Barbara Karsch-Chaïeb sie versteht, soll keine Funktion erfüllen, sondern gewohnte Wahrnehmungen in Frage stellen.

"Ich bin keine Klimaaktivistin", erklärt Karsch-Chaïeb, angesprochen auf den Namen ihres Projektraums. "Wenn ich das wäre, wäre ich wahrscheinlich ziemlich radikal."

Die zweite Ausstellung zeigte die großen Papierbahnen, die Clemens Schneider in seinem Atelier im Leonhardsviertel herstellt. Alles ist recycelt: Der Künstler verarbeitet Altkleider mit Maschinen, die er aus gefundenen Bestandteilen selbst gebaut hat. Schneider beschäftigt sich auch mit dem Abrissfuror in Stuttgart: In der Ausstellung erklangen die Geräusche einer benachbarten Baustelle.

Wie eine Erdhöhle wirkte der Raum, nachdem das Designerduo Anima Ona ihn rundum mit einem braunen, aus Erden der Stuttgart-21-Baugrube gewonnenen Geopolymer verputzt hatte. In den Wänden eingelassene Handys zeigten Fundstücke aus der Grube der Bahnhofs-Großbaustelle, einer CO2-Orgie aus Beton. Geopolymere, an denen Freia Achenbach und June Fàbregas arbeiten, könnten als Baustoff eine klimaneutrale Alternative darstellen.

Flurina Badel und Jérémie Sarbach spürten mit einer Videoinstallation der Situation von Fischen in einem Fluss nach. Durch menschliche Eingriffe ist deren Lebensraum massiv gestört. Paradoxerweise sind es die Angler, die diese Störungen im Ökosystem zuerst wahrnehmen. Von der Decke hingen an Schnüren Fische aus Ton. Auf zwei Tonplatten an der Wand addierten sich Daumenabdrucke zu einem Fischschuppenmuster.

Nach Erde und Wasser ging es um die Pflanzenwelt – "blühen" nannte Benjamin Miller seine Installation aus pflanzlichen Bestandteilen. Von wassergefüllten Holzkästen an der Raumdecke hingen Wollfäden herab, an denen Pflanzenteile befestigt waren. Diese überlebten eine Weile, während das überschüssige Wasser klangvoll in Gläser tropfte, die auf dem Boden aufgestellt waren. An der Wand hingen zwei Bilder aus gepressten Herbstblättern. Es entstanden keinerlei Abfälle, außer den Pflanzen war alles wiederverwendbar.

Pralinen aus Torf und Schokolade

Ein dreiteiliges Projekt beschäftigte sich mit Mooren. Kurt Laurenz Theinert und Kurt Holzkämper machten die Mikrostrukturen in einer Klanginstallation sicht- und hörbar. Anja Fiedler stellte dann aus Torf und Schokolade Pralinen her. Moore sind wichtige Kohlenstoffsenken – einen wissenschaftlichen Vortrag hielt Gerald Jurasinski von der Universität Greifswald. Dafür konnte Karsch-Chaïeb einen Saal im Institut Dr. Flad nutzen: ein Berufskolleg für Chemie, Pharmazie und Umwelt auf der anderen Straßenseite. Die Betreiber seien zu ihren Ausstellungen gekommen, erzählt die Künstlerin. Sie boten ihr eine Zusammenarbeit an.

Renate Liebel hat das Fachgebiet Konversionstechnologien nachwachsender Rohstoffe der Universität Hohenheim besucht, was sie zu ebenso skurrilen wie ästhetischen pflanzlich-künstlichen Objekten und Zeichnungen angeregt hat. Das Fachgebiet forscht an der Umwandlung pflanzlicher Rohstoffe in Öl, Wasserstoff, Kohle, auch als Speichermedium für Akkus, oder in Kunststoffe – mit dem Nebenprodukt Phosphatdünger. "Warum wir all dies nicht anfangen umzusetzen?", fragt Karsch-Chaïeb.

Viviana González-Méndez hat Steine in ein dreidimensionales Netz eingehäkelt, das im Ausstellungsraum von der Decke hing. Ein kleiner Motor mit einer Spule zog die Maschen wieder auf, sodass sich ein Stein nach dem anderen löste und geräuschvoll auf ein am Boden liegendes Blech fiel. Ein Sinnbild vielleicht dafür, wie viel Arbeit es macht, etwas Schönes herzustellen, und wie leicht es wieder zerstört ist. Was fängt ein Pilz aus dem Englischen Garten in München mit einem Gemisch aus Holz, Haaren und dem Ruß einer Daimler-E-Klasse an? Dieser Frage ging Christina Maria Pfeiffer in ihrer Ausstellung nach.

Im Sommer 2024 hat Karsch-Chaïeb den Verein Neckarinsel eingeladen. Ein flaches Bassin, von einer Folie abgedichtet, diente auch als Bühne für verschiedene Lesungen und Veranstaltungen. Es war mit Neckarwasser gefüllt, das auch zum Trinken angeboten wurde. Was das mit dem Klima zu tun hat? Sehr viel. Weit mehr als aus Staub oder Erde bestehen wir Lebewesen aus Wasser, dem ersten Lebenselixier. Wo es fehlt, ist das Leben bedroht.

Im Herbst folgte eine Installation von Larissa Heim, die aus Gartenabfällen entstanden war. Ein großer Kranz aus Zweigen mit trockenen Blättern hing wie ein Vogelnest im Raum, während auf dem Boden scheinbar die Scherben der zerschellten Eier herumlagen. Nur: was für Eier? Sie waren ziemlich groß. Und manche hatten Stacheln.

Karsch-Chaïeb will keine Antworten auf den Klimawandel anbieten. Das kann Kunst nicht leisten. Auf den Chemietagen des Instituts Dr. Flad 2017 hat sie den Vortrag von Robert Schlögl gehört, Direktor mehrerer Max-Planck-Institute, seit Kurzem im Ruhestand. Schlögl glaubt nicht, dass die Politik die Energiewende bewältigen werde, stattdessen hofft er auf einen offenen Dialog der Gesellschaft. Das ist, was Karsch-Chaïeb im Kleinen versucht: "Allein können wir nichts erreichen", meint sie. "Wir müssen zusammen überlegen, wohin wir wollen."

Wegen Herz und Hirn in Schräglage

Josephine Boger stellt die Frage: "Wie kann ich nachhaltiger mit den Ressourcen umgehen?" Bei der Eröffnung ihrer Ausstellung wird es sicher wieder zu Diskussionen gekommen sein, wie wir als Gesellschaft dem Klimawandel begegnen sollten: Ist es okay, Rehfleisch zu essen? Sollten wir uns nicht lieber vegan ernähren?

Und wie gehen andere mit dem Thema um? Am selben Abend gab es in der Galerie von Marko Schacher eine Performance von Ursula Donn mit dem Titel "Tipping Point". Ihre ausgebreiteten Arme hingen an einem Seil, das über eine Umlenkrolle an der Decke geführt war. Die Besucher:innen konnten Säcke mit Herzen oder Hirnen über die Arme hängen, wie sie auch in ihren Gemälden vorkommen, woraufhin diese in Schräglage gerieten. Dazu waren ihre Herzschläge zu hören, musikalisch aufbereitet von Oliver Herrmann.

Die Performance war ursprünglich für eine Gruppenausstellung im Kunstraum Oberwelt entstanden, die unter dem Titel "Kipppunkte" stand. Die Beteiligten konnten sich auf den Klimawandel beziehen oder wie Donn den Titel beim Wort nehmen. Ihre Arbeiten sprechen das Körpergefühl an. Auf einem Gemälde liegt sie zusammengekauert da. Hände, collagiert aus Zeitungsartikeln, strecken sich nach ihr aus. Der Titel: "Wie geht Schwarzweißfühlen?"


Projektraum "kunst [ ] klima": Am Samstag, 1. Februar lädt Josephine Boger zum Gespräch in ihre Ausstellung ein. Ansonsten ist der Raum, bis auf die Finissage am 14. Februar ab 19 Uhr, nur nach Vereinbarung zu besichtigen.

Zur Galerie von Marko Schacher geht es hier.

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