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Bilder einer Epoche

So golden waren die 20er nicht

Bilder einer Epoche: So golden waren die 20er nicht
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Mit der Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit" prägte Gustav Friedrich Hartlaub, der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, 1925 das Bild seiner Zeit. Hundert Jahre danach greift die Kunsthalle das Thema wieder auf und zeigt einen neuen Blick auf die 1920er-Jahre.

"Es ist keine freudige Angelegenheit", schrieb ein Kritiker 1925 nach Besuch der Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit" in der Kunsthalle Mannheim. "Ernst und gedrückt verlässt man diese Ausstellung, die von Not und Entbehrungen erzählt. Das Gefühl trostloser Vereinsamung, das sich oft bis zur Platzangst steigert, spricht aus vielen dieser Bilder. Der Begriff des Sparens ist zum künstlerischen Stil umgeprägt worden."

Als "Jahrhundertjubiläum" feiert die Mannheimer Kunsthalle nun eine Ausstellung unter demselben Titel, die jedoch mit der von 1925 nicht identisch ist. Nur jedes vierte der damals gezeigten Werke ist ausgestellt, insgesamt sind es jedoch fast doppelt so viele. Gleichwohl geht es erneut um die 1920er-Jahre: um die Malerei, für die Gustav Friedrich Hartlaub, der damalige Direktor der Kunsthalle, den Begriff "Neue Sachlichkeit" prägte. Nur sehen wir diese Bilder und ihre Zeit heute mit anderen Augen.

Die Besucher:innen, die sich insbesondere in den ersten Räumen der Ausstellung drängeln, tun dies sicher nicht, um sich in eine Stimmung trostloser Vereinsamung zu versetzen oder die Kunsthalle ernst und gedrückt wieder zu verlassen. Sie wollen die berühmten Werke von Max Beckmann, Otto Dix und George Grosz sehen, mit denen die Ausstellung eröffnet, und sich die Zeit vor 100 Jahren anschaulich vor Augen führen.

Wer hingegen nicht nur die Klischeebilder bestätigt haben will, die er oder sie bereits im Kopf hat, sollte den Rundgang von hinten anfangen: in der zweiten Etage, bei den Landschaften und Stillleben, wo sich die Besucher:innen nicht auf die Füße treten. Mag es auch etwas fantasielos erscheinen, Gemälde nach Themen zu sortieren und eine Landschaft neben die andere zu hängen – gerade in diesem Bereich gibt es viel zu entdecken: Die 1920er-Jahre waren eine Zeit großer Umbrüche.

Dies war 1925 so noch kaum erkennbar, denn die ersten Jahre der Weimarer Republik waren eine Zeit großer wirtschaftlicher Probleme. Die Idee zur Ausstellung kam Hartlaub bereits 1923, doch da grassierte die Hyperinflation und ein solches Vorhaben war nicht finanzierbar. Die überwiegend städtischen Landschaften der heutigen Ausstellung, nahezu alle nach 1925 entstanden, zeigen Baugerüste, Fabriken, Bahnhöfe und Autostraßen, Flugzeuge am Himmel, Plakatwerbung an Bauzäunen und Brandmauern, den Scheinwerferkegel eines Autos über der Silhouette der Kühlerhaube auf der nächtlichen Landstraße.

Drohend ragen auf einem kleinen Gemälde Gustav Wunderwalds hinter einer hohen Mauer drei gewaltige Schornsteine der Maschinenfabrik Loewe & Co. empor. 1935 malt Carl Grossberg das Stahlskelett des entstehenden Reichsluftfahrtministeriums in Berlin, während sich auf Wilhelm Heises nächtlichem Münchner Stiglmaierplatz ein Lastzug, Straßenbahnen, Omnibusse, Autos und Pferdefuhrwerke gegenseitig blockieren. Die Mannheimer Maler Manfred Fuhr und Eugen Knaus sind mit je zwei gewaltigen Rheinbrücken vertreten. Auch um Reinhold Nägeles Darstellungen vom Abbruch des alten Stuttgarter Hauptbahnhofs und von der Weißenhofsiedlung anzusehen, muss man derzeit nach Mannheim fahren.

Bei den Stillleben halten sich die meisten Maler:innen an das klassische Bildschema: Blumen, Flaschen, Gläser, Essbares stehen oder liegen auf einem kleinen Tisch. Und doch sehen die Innenräume mit Kakteen, Calla und Gummibäumen, einer gelegentlichen Glühbirne oder moderner Töpferware anders aus als zu früheren Zeiten. Alexander Kanoldt malt kostbare Vasen und Flacons, Hans Mertens dagegen einen Putzeimer mit Schrubber und Kehrrichtschaufel, Max Unold Kartoffeln und Zwiebeln auf einem alten Hocker, dekoriert mit einem schmutzigen Küchentuch.

Zwischen Aufbruch und Höllensturz

Handelt es sich nun um die "Goldenen Zwanziger" oder um eine Epoche voller Not und Entbehrung? Schlug in der Weimarer Republik die Geburtsstunde der Demokratie oder hielten sich die alten Kräfte weiterhin an der Macht wie auf den Werken "Industriebauern" und "Kriegerverein" von Georg Scholz, wo ein Mann bereits 1922 ein kleines Hakenkreuz am Revers trägt? Befindet sich die Welt gar in einem Höllensturz wie auf einem Gemälde von Georg Grosz aus der Stuttgarter Staatsgalerie?

Kaum ein Bild bringt die politischen Verhältnisse der Zeit so genau auf den Punkt wie Scholz‘ "Von kommenden Dingen", benannt nach einem Buch des Reichsaußenministers und AEG-Präsidenten Walther Rathenau. Rathenau selbst ist in der Mitte zu sehen, zwischen dem Industrie-Boss Hugo Stinnes und dem Amerikanischen Banker Frank Arthur Vanderlip, während im Hintergrund die Schornsteine dünne Rauchsäulen in den Himmel schicken. Er wurde im selben Jahr, als das Gemälde entstand, von einem rechtsextremen Antisemiten ermordet.

Mit der Berufung auf eine Professur in Karlsruhe im Jahr der Ausstellung änderte Scholz freilich seinen Stil. Die beißende Kritik verschwindet, die Politik bleibt außen vor. Damit ist er nicht der Einzige. Georg Schrimpf, in der damaligen Ausstellung ebenfalls stark vertreten, war zwar Aktivist der Münchner Räterepublik gewesen, neigte nun aber zum Idyll so wie Alexander Kanoldt, der einmal zum Kreis um die Künstler des "Blauen Reiter" gehört hatte.

Die Ausstellung zeigt alles: Reichtum und Armut, Profiteure wie Verlierer, Elend und Not, Bettler und Kranke, Proletarier und Prostituierte, den Bankier und Kunstsammler Robert von Mendelssohn ebenso wie eine abgearbeitete Haushälterin, den Ruhrkampf, einen verbissenen, einsamen Agitator, einen berechnenden "Schieber" neben einem auf der Straße liegenden Betrunkenen. Allerdings hält sich die Zahl der eindeutig politischen Bilder in Grenzen. Das berühmteste stammt von Otto Griebel: Eine Proletariermasse singt "Die Internationale".

Frauen treten in die Öffentlichkeit

Außerordentlich vielseitig sind vor allem vier Abteilungen der Ausstellung, die den sich überschneidenden Themen "Das Bild des Menschen", "Das Bild der Frau", "Körperideale" und "Selbstbildnis" gewidmet sind. Gerade das Bild der Frau war dabei, sich erheblich zu wandeln. Vorbei die zugeknöpften, fußlangen Kleider der wilhelminischen Epoche: Die Frau der Zwanzigerjahre trug Reformkleidung und kurze Haare, rauchte Zigarette, arbeitete – auch als Künstlerin – und ging ins Café. Soweit das Klischee, das die Bilder bestätigen. Die Realität war wesentlich vielseitiger.

Das Spektrum reicht von einer mondänen Dame im Pelzmantel, die mit wehendem Haar im offenen Auto sitzt, bis zur Arbeiterfrau mit Kindern oder einer würdevoll gealterten Antwerpener Prostituierten; von der Büglerin, die aus schierer Notwendigkeit arbeitet, bis zur Laborantin mit Kurzhaarfrisur, die sich offenbar in ihrem Beruf verwirklichen kann. Jeanne Mammen, Illustratorin eines "Führers durch das lasterhafte Berlin", zeigt bemerkenswerterweise ein ausschließlich von Frauen bevölkertes Café.

Deutlich treten die Gegensätze in einigen Selbstporträts von Künstlerinnen hervor: Die später nach Schweden emigrierte herausragende Malerin Lotte Laserstein hat die Augen im verschatteten Gesicht weit geöffnet, hinter ihr das unermessliche Berlin. Fridel Dethleffs-Edelmann, Unternehmersgattin, präsentiert sich dagegen altmeisterlich in weißer Kutte vor einer gemalten Landschaft. Das fahlgelbe Selbstbildnis von Kate Diehn-Bitt wiederum, Seitenscheitel und geschorener Nacken, erinnert eher an einen jungen Mann. Mit dem Frauenbild der Nazis war dieses 1935 entstandene Werk nicht vereinbar. Die Künstlerin erhielt noch im selben Jahr ein Berufs- und Ausstellungsverbot.

Der herausragende Porträtist seiner Zeit war Rudolf Schlichter. Drei Werke hängen nebeneinander: Schlichters Frau Speedy im zitrongelben Kleid sieht dem Betrachter, das Kinn auf die Hand gestützt, aufmerksam entgegen. Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch, Zigarette im Mund, steht nervös vor einer Litfaßsäule. Bei der Schauspielerin Carola Neher scheint sogar der graue Hintergrund vor Erregung zu flimmern. 1933 floh sie vor den Nazis nach Prag und dann nach Moskau, wo sie in einem stalinistischen Arbeitslager zugrunde ging.

Anders als die Menschen im Jahr 1925 wissen wir heute, wann und wodurch die Weimarer Epoche zu Ende ging: Dem Aufbruch, der in den Bildern trotz allem spürbar ist, setzte der Nationalsozialismus ein Ende. Die Ausstellung spricht dies immer wieder an und zeigt zum Vergleich einige Werke aus der NS-Zeit: darunter eine Bauernfamilie, vier blonde, wie geklonte Turner und eine Odenwaldlandschaft von Franz Lenk.

Kein Leben gleicht dem anderen

Lenk, befreundet mit dem 1933 aus dem Lehramt entlassenen Otto Dix, war sogar eine Zeit lang leitender Kulturfunktionär. Arbeiten des konservativeren Flügels der neusachlichen Maler wie Schrimpf und Kanoldt waren zu Beginn der NS-Zeit weiterhin beliebt. Selbst der ehemalige Kommunist Barthel Gilles konnte weiter ausstellen. Alles in allem widersprach die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit jedoch den kleinbürgerlichen Geschmacksvorstellungen der Nazis, wie ein Aufsatz im Katalog am Fall Dix aufzeigt.

Jüdische Künstlerinnen und Künstler emigrierten oder wurden ermordet. Die zwanzig Malerinnen, die in der heutigen Ausstellung zu sehen sind, konnten in der Regel allenfalls privat weiterarbeiten und gerieten vollends in Vergessenheit. Der Bildhauerin Renée Sintenis gelang es dagegen weiterzuarbeiten: trotz jüdischer Vorfahren und obwohl ihr Mann in den ersten Tagen als Gegner des neuen Regimes auf sich aufmerksam machte.

Kein Fall gleicht dem anderen, und genau deshalb lohnt es sich, sich mit den Biografien der rund 120 heute zumeist kaum noch bekannten Künstler:innen zu befassen. Ihre Werke führen die Widersprüche der Zeit auf eindrucksvolle Weise vor Augen.


Die Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit" läuft noch bis 9. März. Die Kunsthalle Mannheim ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, mittwochs bis 20 Uhr, am ersten Mittwoch des Monats bis 22 Uhr.

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1 Kommentar verfügbar

  • Philipp Horn
    vor 1 Tag
    Antworten
    Am Samstag war ich endlich in Mannheim. Sehr lohnender Kunstausflug . Auch wenn 230 Bilder etwas viel sind.
    Danke für den Tipp, mit den Landschaften bzw Stillleben anzufangen.
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