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"Telepolis"-Archiv gelöscht

Das Internet vergisst

"Telepolis"-Archiv gelöscht: Das Internet vergisst
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Eines der ältesten Online-Magazine der Republik hat alle Artikel gelöscht, die dort vor 2021 erschienen sind. Der frühere "Telepolis"-Chefredakteur Florian Rötzer verweist auf große Löcher im digitalen Gedächtnis. Was dokumentiert bleibt, entpuppt sich als Machtfrage.

Schon vor dem Verschwinden war das Lesen betreut. Seit dem Frühjahr 2024 fand sich unter allen "Telepolis"-Texten, die vor dem bislang einzigen Wechsel in der Chefredaktion erschienen sind, ein Warnhinweis: "Der folgende Beitrag ist mehrere Jahre alt und entspricht daher möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen." Gekennzeichnet wurden alle Beiträge, die nicht unter der Leitung von Harald Neuber entstanden sind. Offenbar war die pauschale Distanzierung vom eigenen Inhalt nicht ausreichend: Unter dem Schlagwort "Qualitätsoffensive" erfolgte im Dezember 2024 die Löschung zehntausender Artikel, da "Telepolis", wie in der Erklärung zum Vorgang steht, auf "Transparenz und Glaubwürdigkeit" setze.

Das Verschwinden des Archivs sei aber "keinesfalls" als "Misstrauensvotum gegen frühere Autoren und damalige Beiträge heutiger Autoren" zu verstehen, heißt es weiter. Man habe sich lediglich eingestehen müssen, dass die Qualitätskontrolle im Einzelfall bei so vielen Artikeln nicht realistisch sei, "in einigen dieser alten Beiträge ließen sich mögliche Urheberrechtsverletzungen nicht ausschließen" und "zudem waren Bilder nie barrierefrei und damit nicht für alle Leser zugänglich". Nun sind Text und Bild wieder für alle und jeden gleichermaßen verfügbar: nämlich gar nicht. Doch soll nicht alles auf ewig verloren sein. Die Redaktion werde "die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten". Einige "Perlen aus dem Archiv" würden so schrittweise wieder zugänglich gemacht werden. Dazu zählen etwa Gastbeiträge des 2006 verstorbenen Science-Fiction Autors Stanisław Lem.

Dass Medien ihre Ausrichtung ändern, wenn neue Führungsfiguren die Leitung übernehmen, ist zwar nicht völlig ohne Präzedenzfall (in Baden-Württemberg hat erst kürzlich die "Schwäbische Zeitung" einen drastischen Kurswechsel hingelegt). Die eigene Geschichte verschwinden zu lassen, erweist sich allerdings als höchst ungewöhnlich. Die "Telepolis"-Redaktion habe "schon immer einen ganz eigenen Blick auf geopolitische Themen, Freiheitsrechte und das politische Geschehen gehabt", erklärte der neue Chef Neuber, als er Anfang 2021 den Posten übernahm, es sei doch "langweilig, wenn man das schreibt, was alle berichten". Dennoch wies er damals als Ziel aus, "Telepolis" stärker zu einem "Referenzmedium" entwickeln zu wollen.

Neuber hat nach eigenen Angaben "keine klassische journalistische Ausbildung absolviert", studierte eigentlich Latein- und Altamerikanistik, arbeitete von 1999 bis 2008 als Redakteur bei der "Jungen Welt", anschließend als Berlin-Korrespondent für die kubanische Nachrichtenagentur "Prensa Latina" und daraufhin als wissenschaftlicher Mitarbeiter der ehemaligen Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (damals die Linke, heute BSW). Anfang 2021 beerbte Neuber als Chefredakteur von "Telepolis" Florian Rötzer, der das Portal seit der Gründung 1996, also ziemlich genau 25 Jahre lang, verantwortete. Ursprünglich auf netzpolitische Themen spezialisiert, startete eine aus drei Personen bestehende Kernredaktion mit Unterstützung durch die Heise Gruppe, zu der noch heute zahlreiche Fachpublikationen auf dem Gebiet der Computer- und Informationstechnik gehören; auch Preisvergleiche und Online-Shopping sind Teil des Geschäftsbereichs.

Experimentaljournalismus

In der Anfangsphase war die "Telepolis"-Expertise auch bei den Redaktionen etablierter Medien gefragt. 1997 erschien etwa ein Themenschwerpunkt zu Netzpolitik in Kooperation mit dem Berliner "Tagesspiegel". Obwohl "Telepolis" allein aufgrund der Reichweite eine gewisse Relevanz zugestanden werden könnte – für den März 2011 vermeldete das Medium Spitzenwert von 19,2 Millionen Zugriffen innerhalb eines Monats –, ist der bemerkenswerte Vorgang der Archiv-Löschung den meisten großen Zeitungen nicht einmal eine Randnotiz wert. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass eine inhaltliche Einordnung des Portals schwierig ist.

Über die Jahre verlagerte sich der Themenschwerpunkt des Online-Magazins mit dem Untertitel "Zeitschrift der Netzkultur" von Computern und Technik hin zu breit gefächerten Formen der Gegenöffentlichkeit. Der in Tübingen lehrende Amerikanist Michael Butter, der zu Verschwörungstheorien forscht, ordnete "Telepolis" in einer 2019 veröffentlichten Publikation in eine Reihe mit Alternativmedien wie "KenFM" und "Rubikon" ein – wobei er dem inkriminierten Medium 2018 noch ein umfang- und aufschlussreiches Interview zu Verschwörungstheorien gegeben hatte.

Die Zeitung "nd" schreibt in einer Art Nachruf auf das "Telepolis"-Archiv: "Das Magazin galt lange als eine wichtige Stimme auch im links-alternativen Diskurs – selbst wenn es immer wieder Kritik an verschwörungsgläubigen Artikeln wie etwa zu 9/11 oder der Männerdominanz unter den Autor*innen gegeben hat." Autor Tomasz Konicz, der 13 Jahre lang Beiträge für "Telepolis" schrieb und sich kurz nach Rötzers Abgang mit der neuen Chefredaktion überwarf, bilanziert in einem Blog-Beitrag, das Medium habe in seinen guten Zeiten als Nische fungiert, "als eine offene Publikationsplattform, die keiner Blattlinie untergeordnet war. Telepolis war dann tatsächlich offen für alle möglichen Autoren und Ideen, die sonst ignoriert wurden im bürgerlichen Medienbetrieb. (…) Es schrieben dort auch manchmal Spinner. (…) Telepolis als eine Anomalie in der deutschen Medienlandschaft war für fortschrittliche, kritische wie auch reaktionäre, problematische Artikel offen." Unter Neuber sei "Telepolis" dann zu einem "von einem opportunistischem Kalkül befeuerten Querfront-Projekt" verkommen, das sich dem Lager um Sahra Wagenknecht anbiedere.

Der amtierende Chefredakteur reagierte nicht auf eine Gesprächsanfrage von Kontext. Sein Vorgänger Florian Rötzer sagt, er habe mit "Telepolis" schon lange abgeschlossen und lese dort gar nicht mehr mit. Persönlich, sagt der studierte Philosoph, finde er es "schon etwas ärgerlich", dass sein Nachfolger und der Heise-Verlag auf Knopfdruck 25 Jahre Geschichte löschen können, aber das Projekt, das sich offenbar für seine Vergangenheit schämt, unter dem selben, einigermaßen prominenten Namen fortführen wollen.

Rötzer wehrt sich gegen eine pauschale Einordnung der von ihm verantworteten Inhalte, sagt, er wollte nie ein alternatives, aber sehr wohl ein experimentelles Medium leiten, mit Stimmen, die man sonst nicht so oft hört – dabei fallen auch die Schlagworte Meinungskorridor und Cancel Culture. "Wichtig ist mir, einen sogenannten Autorenjournalismus zu machen. Also ein Autor schreibt über Dinge, ohne Objektivität vorzugaukeln und macht klar, das ist seine Perspektive. Und geschrieben haben dann auch keine Dahergelaufenen, sondern eben Leute, die meist auch in anderen Medien publiziert haben und sich hier frei austoben konnten. Das Prinzip setzt dann ein mündiges Publikum und selbstverantwortliche Schreiber voraus."

Geschichte wird zur Ware

Diese Form von Selbstverantwortung schließt dann unter anderem ein, dass ein Mathias Bröckers eine Artikelserie veröffentlichen durfte, in der schon ab dem 13. September 2001 insinuiert wurde, dass die Anschläge vom 11. September in den USA von der Bush-Regierung gewollt worden wären. Rötzer vermutet, dass "Telepolis" mit der Löschaktion raus aus der Schmuddelecke will, um als "normales, angepasstes und marktkonformes Massenmedium vielleicht auch mal schwarze Zahlen zu schreiben" und weniger Werbekunden zu verschrecken. Gegenüber Kontext schließt er die Möglichkeit, mal ordentlich daneben gelegen zu haben, nicht aus, sagt, ein paar Beiträgen unter seiner Leitung habe "an manchen Ecken und Enden bestimmt der letzte Feinschliff gefehlt", nicht alle Einschätzungen seien gut gealtert. "Aber auch den traditionellen Medien unterlaufen Fehler, zum Beispiel wenn sie unkritisch Kriegslügen der CIA verbreiten."

"Wirklich gefährlich", sagt Rötzer, sei die mit den Löchern im digitalen Gedächtnis einhergehende Möglichkeit zur Geschichtsfälschung. Denn während gedruckte Presseerzeugnisse in der Deutschen Nationalbibliothek archiviert werden, fehle ein Pendant für Netzinhalte. So bestehe nun die Möglichkeit, dass ein Verlag oder eine Redaktion "einzelne Artikel rausnehmen kann, die man dann überarbeitet und dann wieder publiziert. Das ist aber genau nicht das, was ein Archiv zu leisten hat. Ein Archiv heißt: Es ist das, so wie es damals geschrieben worden ist." Wenn Beiträge dagegen überarbeitet werden, zieht Rötzer Parallelen zur stalinistischen Methode, Personen auf Fotos verschwinden zu lassen, als hätte sie es nie gegeben. Oder auch zum Wahrheitsministerium in Orwells "1984", das beständig die Vergangenheit umschreibt – nur eben mit dem Unterschied, dass hier nicht Regierungen, sondern privatwirtschaftliche Akteure bestimmen, wie die Geschichte aussehen soll.

Die Archiv-Löschung von "Telepolis" wird auch in einem Podcast bei "Übermedien" angeschnitten. Moderator Holger Klein meint, persönlich finde er es um "so dermaßen viel Stuss", der da veröffentlicht worden sei, nicht schade. Zu Gast ist der Journalist Titus Blome, der sich intensiv mit der Vergesslichkeit des Internets befasst und zuerst meint, er wäre ja froh, wenn manche seiner früheren Texte ebenfalls verschwinden würden. "Da sind die Leute, bei denen ich veröffentlicht habe, allerdings nicht so gnädig." Dann führt er jedoch aus, dass es sehr schwer sei, "in der Gegenwart abzuschätzen, was in der Zukunft mal interessant sein könnte". So habe es sich etwa bei den Inschriften des Rosetta-Steins um stumpfsinnige Propaganda in mehreren Sprachen gehandelt – aber später spielte das Relikt eine entscheidende Rolle beim Entschlüsseln ägyptischer Hieroglyphen. In diesem Sinne schreibt Blome in einem Beitrag für die "Zeit": "Zu viele berühmte Komponisten waren zu Lebzeiten erfolglos, zu viele Autorinnen mussten Jahrzehnte nach ihrem Tod wiederentdeckt werden, als dass wir großes Vertrauen in unsere Fähigkeiten der Vorhersage haben sollten."

Daneben macht Blome ein weiteres Problemfeld auf: Denn bei einer Archivierung durch private Anbieter gelte die Marktlogik: "Was kostet, muss sich lohnen. Was sich nicht lohnt, kommt weg." Als etwa Paramount Global "sang- und klanglos die Webseiten von MTV News und Country Music Television" eingestellt habe, gingen "jeweils Archive mit mehr als zwanzig Jahren Popkultur- und Musikjournalismus verloren". Laut einer Studie des Pew Research Center seien 38 Prozent aller Webseiten, die 2013 existierten, zehn Jahre später nicht mehr verfügbar gewesen.

Ein Teil dessen, was verloren ging, ist in Internet-Archiven gesichert, so auch ein paar tausend "Telepolis"-Artikel. Allerdings ist der Betrieb dieser Portale ehrenamtlich, nicht lukrativ und die Urheberrechtsklagen von Verlagen häufen sich.

Dass das Internet nichts vergisst, erweist sich daher als gefährlicher Fehlschluss. Was Geschichte bleibt, entpuppt sich insbesondere im digitalen Kapitalismus als Eigentums- und Machtfrage. "Das totale Marktsystem färbt seine eigene Geschichte nicht bloß schön, sondern löscht sie sogar großenteils aus", schrieb der Historiker, Philosoph und Krisentheoretiker Robert Kurz bereits 1999 im "Schwarzbuch Kapitalismus". Beschwöre der konservative Geist die Geschichte, "um sie im Namen der Autorität zu verfälschen", verscherble der wirtschaftsliberale sie "wie Unterhosen, Kampfbomber, Fertigsuppen und andere Marktgegenstände". Wo objektive Wahrheit von der Beliebigkeit der bunten Warenwelt verschluckt werde, entfalle die Grundlage für eine kritische Reflexion über das historische Gewordensein dessen, was ist. "Es ist einfach und damit Schluss."

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1 Kommentar verfügbar

  • Arnold Weible
    vor 6 Tagen
    Antworten
    Da hat Telepolis das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Es hätte bestimmt einen besseren Weg gegeben. Man hätte z.B. dem Archiv einen neuen Namen geben können, unter dem es unangetastet zugänglich wäre. Harald Neuber hätte sich dann pauschal von allem Alten distanzieren können und nach und nach das,…
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Letzte Kommentare:


Ausgabe 720 / Weiter so, Elon! / Cornelius W. M. Oettle / vor 7 Stunden 21 Minuten
Danke, werd ich mir gleich mal anhören!




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