Schon vor dem Verschwinden war das Lesen betreut. Seit dem Frühjahr 2024 fand sich unter allen "Telepolis"-Texten, die vor dem bislang einzigen Wechsel in der Chefredaktion erschienen sind, ein Warnhinweis: "Der folgende Beitrag ist mehrere Jahre alt und entspricht daher möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen." Gekennzeichnet wurden alle Beiträge, die nicht unter der Leitung von Harald Neuber entstanden sind. Offenbar war die pauschale Distanzierung vom eigenen Inhalt nicht ausreichend: Unter dem Schlagwort "Qualitätsoffensive" erfolgte im Dezember 2024 die Löschung zehntausender Artikel, da "Telepolis", wie in der Erklärung zum Vorgang steht, auf "Transparenz und Glaubwürdigkeit" setze.
Das Verschwinden des Archivs sei aber "keinesfalls" als "Misstrauensvotum gegen frühere Autoren und damalige Beiträge heutiger Autoren" zu verstehen, heißt es weiter. Man habe sich lediglich eingestehen müssen, dass die Qualitätskontrolle im Einzelfall bei so vielen Artikeln nicht realistisch sei, "in einigen dieser alten Beiträge ließen sich mögliche Urheberrechtsverletzungen nicht ausschließen" und "zudem waren Bilder nie barrierefrei und damit nicht für alle Leser zugänglich". Nun sind Text und Bild wieder für alle und jeden gleichermaßen verfügbar: nämlich gar nicht. Doch soll nicht alles auf ewig verloren sein. Die Redaktion werde "die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten". Einige "Perlen aus dem Archiv" würden so schrittweise wieder zugänglich gemacht werden. Dazu zählen etwa Gastbeiträge des 2006 verstorbenen Science-Fiction Autors Stanisław Lem.
Dass Medien ihre Ausrichtung ändern, wenn neue Führungsfiguren die Leitung übernehmen, ist zwar nicht völlig ohne Präzedenzfall (in Baden-Württemberg hat erst kürzlich die "Schwäbische Zeitung" einen drastischen Kurswechsel hingelegt). Die eigene Geschichte verschwinden zu lassen, erweist sich allerdings als höchst ungewöhnlich. Die "Telepolis"-Redaktion habe "schon immer einen ganz eigenen Blick auf geopolitische Themen, Freiheitsrechte und das politische Geschehen gehabt", erklärte der neue Chef Neuber, als er Anfang 2021 den Posten übernahm, es sei doch "langweilig, wenn man das schreibt, was alle berichten". Dennoch wies er damals als Ziel aus, "Telepolis" stärker zu einem "Referenzmedium" entwickeln zu wollen.
Neuber hat nach eigenen Angaben "keine klassische journalistische Ausbildung absolviert", studierte eigentlich Latein- und Altamerikanistik, arbeitete von 1999 bis 2008 als Redakteur bei der "Jungen Welt", anschließend als Berlin-Korrespondent für die kubanische Nachrichtenagentur "Prensa Latina" und daraufhin als wissenschaftlicher Mitarbeiter der ehemaligen Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (damals die Linke, heute BSW). Anfang 2021 beerbte Neuber als Chefredakteur von "Telepolis" Florian Rötzer, der das Portal seit der Gründung 1996, also ziemlich genau 25 Jahre lang, verantwortete. Ursprünglich auf netzpolitische Themen spezialisiert, startete eine aus drei Personen bestehende Kernredaktion mit Unterstützung durch die Heise Gruppe, zu der noch heute zahlreiche Fachpublikationen auf dem Gebiet der Computer- und Informationstechnik gehören; auch Preisvergleiche und Online-Shopping sind Teil des Geschäftsbereichs.
Experimentaljournalismus
In der Anfangsphase war die "Telepolis"-Expertise auch bei den Redaktionen etablierter Medien gefragt. 1997 erschien etwa ein Themenschwerpunkt zu Netzpolitik in Kooperation mit dem Berliner "Tagesspiegel". Obwohl "Telepolis" allein aufgrund der Reichweite eine gewisse Relevanz zugestanden werden könnte – für den März 2011 vermeldete das Medium Spitzenwert von 19,2 Millionen Zugriffen innerhalb eines Monats –, ist der bemerkenswerte Vorgang der Archiv-Löschung den meisten großen Zeitungen nicht einmal eine Randnotiz wert. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass eine inhaltliche Einordnung des Portals schwierig ist.
Über die Jahre verlagerte sich der Themenschwerpunkt des Online-Magazins mit dem Untertitel "Zeitschrift der Netzkultur" von Computern und Technik hin zu breit gefächerten Formen der Gegenöffentlichkeit. Der in Tübingen lehrende Amerikanist Michael Butter, der zu Verschwörungstheorien forscht, ordnete "Telepolis" in einer 2019 veröffentlichten Publikation in eine Reihe mit Alternativmedien wie "KenFM" und "Rubikon" ein – wobei er dem inkriminierten Medium 2018 noch ein umfang- und aufschlussreiches Interview zu Verschwörungstheorien gegeben hatte.
Die Zeitung "nd" schreibt in einer Art Nachruf auf das "Telepolis"-Archiv: "Das Magazin galt lange als eine wichtige Stimme auch im links-alternativen Diskurs – selbst wenn es immer wieder Kritik an verschwörungsgläubigen Artikeln wie etwa zu 9/11 oder der Männerdominanz unter den Autor*innen gegeben hat." Autor Tomasz Konicz, der 13 Jahre lang Beiträge für "Telepolis" schrieb und sich kurz nach Rötzers Abgang mit der neuen Chefredaktion überwarf, bilanziert in einem Blog-Beitrag, das Medium habe in seinen guten Zeiten als Nische fungiert, "als eine offene Publikationsplattform, die keiner Blattlinie untergeordnet war. Telepolis war dann tatsächlich offen für alle möglichen Autoren und Ideen, die sonst ignoriert wurden im bürgerlichen Medienbetrieb. (…) Es schrieben dort auch manchmal Spinner. (…) Telepolis als eine Anomalie in der deutschen Medienlandschaft war für fortschrittliche, kritische wie auch reaktionäre, problematische Artikel offen." Unter Neuber sei "Telepolis" dann zu einem "von einem opportunistischem Kalkül befeuerten Querfront-Projekt" verkommen, das sich dem Lager um Sahra Wagenknecht anbiedere.
Der amtierende Chefredakteur reagierte nicht auf eine Gesprächsanfrage von Kontext. Sein Vorgänger Florian Rötzer sagt, er habe mit "Telepolis" schon lange abgeschlossen und lese dort gar nicht mehr mit. Persönlich, sagt der studierte Philosoph, finde er es "schon etwas ärgerlich", dass sein Nachfolger und der Heise-Verlag auf Knopfdruck 25 Jahre Geschichte löschen können, aber das Projekt, das sich offenbar für seine Vergangenheit schämt, unter dem selben, einigermaßen prominenten Namen fortführen wollen.
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Arnold Weible
vor 6 Tagen