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Auf der Straße

Der Wassermann

Auf der Straße: Der Wassermann
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Auf den letzten Drücker, einen Tag vor Silvester musste ich im Gewerkschaftshaus was abliefern. Da sah ich dieses Plakat mit den abgebildeten Riesenohren, den Rüsseln und Stoßzähnen: Es sei höchste Zeit, "die massive Ausbeutung in der Paketzustellung" zu beenden. "Zusteller*innen liefern täglich bis zu 300 Pakete aus. Das sind etwa zwei Tonnen oder Jeden Tag ein Elefant."

Wir sind auf Kurs. Gehetzte Menschen schleppen für miese Löhne Dickhäuter durch die Straßen, damit Online-Junkies weiterhin die letzten Ladengeschäfte ruinieren können. Unterdessen hat die Landesregierung beschlossen, 51,1 Millionen Euro für die neue Elefantenwelt im Zoo der Stuttgarter Wilhelma freizugeben für die artgerechte Haltung der Tiere. Ich will hier nicht Dickhäuter gegen Postboten ausspielen. Nur empfehlen, den Profiteuren der Paketzustellung einen Knoten in ihren gierigen Rüssel zu machen. Solidarisch zu sein mit denen, die von Berufs wegen auf eigenen Beinen unterwegs sind, bin ich mir als Spaziergänger schuldig. Ich gehe weiter herum im neuen Jahr, das erst angebrochen ist und einigen von uns, wir Optimisten wissen es, das Genick brechen wird.

Die Welt besser machen, nicht uns

Jeder Jahresanfang wird nicht nur mit Böllern, sondern auch mit Vorsätzen bombardiert. Aus gutem Grund hab ich keine: Eine Tat, wahrscheinlich auch die gute, wird härter bestraft, wenn sie vorsätzlich begangen wird. Kurz bevor die Silvesterschlacht ihren Höhepunkt erreichte, habe ich in meiner Hängerüssel- und Dünnhäuterwelt namens Sofa einen denkwürdigen Satz gelesen. Ausgesprochen vom Prediger auf der Bestattung des Schlagzeugers Rufus, der in James Baldwins Roman "Ein anderes Land" von der New Yorker Washington-Brücke gesprungen ist: "Lasst euch nicht zu Bitterkeit verführen ... Die Welt ist schon bitter genug, wir müssen versuchen, besser zu sein als die Welt."

Hör zu, Prediger, sagte ich, das ist kein guter Vorsatz. Wenn wir besser sind als die bittere Welt, dann ist die Kluft zwischen uns und der Welt noch unerträglicher. Das hält kein Elefant aus. Deshalb müssen wir nicht nur uns, sondern die Welt besser machen, auch wenn das in der Geldelefantenwelt der Musks und Trumps nicht mehr möglich scheint.

Es gibt immer mehr Tage, an denen vor meinen Augen Rufus auf der Washington-Brücke auftaucht. Irgendwo am Wasser. Dennoch gibt mir Wasser immer wieder eine Art Hoffnung, womöglich meine letzte. Damit meine ich heute ausnahmsweise mal nicht die magischen Mineralperlen im Bad Berg, die mir bei jedem Wetter und in jeder Lage etwas einflößen, das man Leben nennt. Einen Lichtblick durch den Feinstaubnebel des Stuttgarter Winters öffnet mir auch der Neckar. Schon vor langer Zeit hätte die Politik eine Neckarwelt bauen müssen, um den Menschen in ihrem Kessel ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Einen Provinzkosmos mit Promenaden und Zugängen zum Wasser. Ich gehe am Ufer entlang, einige Meter sogar recht nahe am Fluss zwischen Cannstatt und Münster. Und mir scheint, als wäre ich raus aus allem. In einer anderen Stadt. Ein schöner Dezembertag, klare Kälte, Sonne, gutes Licht. Weithin ist der weiße Rauch aus dem Kamin des Kraftwerks Münster zu sehen, Signale der Müllverbrennung und der Kohlekessel. Tröstend schimmert unter mir das Wasser des Neckars. Es scheint, als wolle mich der Fluss, wie in einem Gedicht von Hölderlin, zum Abtauchen in eine andere Welt auffordern. Vorwärts, ich nehme dich mit!

Fluss bedeutet Bewegung. "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen", sagt Heraklit. Das heißt auch: Wenn du in den Fluss schaust, siehst du ständig einen anderen Fluss. So gehst du weiter und weiter. Und hörst auf die treibende Stille, wenigstens so lange, bis dir ein bimmelnder Radfahrer die Keule gibt.

In Stuttgart ist der Neckar nicht erst seit heute kaum mehr als eine Randerscheinung – wie auch der große kontrastreiche Stadtbezirk Cannstatt, durch den er fließt. Lange war dieser Fluss nur ein verdreckter Industriekanal, eine Warenstraße, und all die politischen Versprechen von der "Stadt am Fluss" sind auch heute nur Treibgut aus Wahlkämpfen und Marketing-Müll.

Die Stadt und ihr Fluss

Seit bald einem halben Jahrhundert lebe ich in dieser Stadt, und wenn in der Kessellage eine spürbare Engstirnigkeit herrscht, dann hat das ganz sicher mit ihrem gestörten Verhältnis zum Neckar zu tun. Er ist nicht genügend in unserem Bewusstsein. Nicht das sogenannte Zentrum der Stadt, nicht das City-Getümmel öffnen die Sicht auf das Leben. Es ist der Fluss – selbst wenn er, wie in Mark Twains berühmtem Neckar-Zitat, so schmal ist, "dass man einen Hund hinüberwerfen kann, falls man einen hat".

Der Reiseschriftsteller Stefan Schomann schreibt in seinem 2024 erschienenen, zum besseren Eintauchen in blauer Schrift gedruckten Buch "Vom Wesen der Flüsse": "Seen sind sesshaft, Flüsse nomadisch. Reine Bewegungsenergie; der Wasserkreislauf als Perpetuum mobile." Let's go, im Namen der Langsamkeit. Wasser im Fluss drängt zu größerem Wasser. In Cannstatt schaue ich hinab auf den Neckar, er wird in den Rhein fließen, der Rhein wird in die Nordsee münden, und dann bin ich auch schon auf der Washington-Brücke, die mich über den Harlem River bringt, wo Rufus' Leiche schwamm.

Im Angesicht des Flusses gehst du hinaus aus deiner kleinen Welt, ohne dass dein Körper sie verlässt. Du spürst nicht nur Fernweh, du kannst es sogar stillen. Die Wellen tragen dich fort im Swing deiner Sehnsucht, du alter Fisch. Du erlebst, was man Entschleunigung nennt. Du bist ein Hirnnomade im Schneckentempo. Was dagegen ist ein touristischer Standortwechsel mithilfe des Flugzeugs.

Mag man das, was ich hier sage, für romantischen oder eskapistischen Quatsch halten. Ich lasse mich nicht beirren. Es ist keine Weltflucht, mit Blick auf den Fluss in die Stadt hinein- und aus ihr hinauszugehen, raus aus dem Mief: dorthin, wohin mich die Füße tragen, die Fantasie und die Poesie. Der Fluss ist ein großer Erzähler, ein Archiv der Geschichte und ein Spiegel der Wirklichkeit. Stefan Schomann erzählt vom Mississippi, der sich gegen die Zwänge von Menschen wehrt. Von der Lena, deren Namen sich wohl Lenin zur Tarnung entlehnte. Du erfährst etwas über die Loisach, die man in unserem Landstrich bestenfalls vom Alphorntechno-Musikanten Loisach Marci kennt. Und wenn du von all diesen Dingen liest, denkst du irgendwann an den Neckar und stiefelst los.

In Stuttgart gibt's Mineralwasser umsonst

So wie Lesen Reisen im Geiste bedeutet, so wie Gehen dich das Sehen lehrt, erscheint mir bewusstes Flüsseschauen wie eine Befreiung aus kleinstädtischer Kleingeistigkeit. Als gelernter Provinzler werde ich das sagen dürfen. Wer den Fluss, die Strömung in seiner Nähe missachtet, trocknet Teile seines Hirns aus. Nicht alles, was fließt, sollte man verdolen wie die Bäche in der Stadt.

Gegen Ende meines kleinen Neckar-Ausflugs, nachdem ich über eine Brücke das Ufer gewechselt habe, komme ich zur Mombachquelle. Lange nicht mehr hier gewesen. Leises Geplätscher direkt an der Straße, gegenüber ein kleiner Park mit Gewässer unterhalb des Hallschlags und des Römerkastells. An besagter Quelle mit ihrem runden Steinbecken trifft man tagsüber fast immer Leute, die Flaschen abfüllen und sich selbst zustellen. Es heißt, das sei das beste Mineralwasser der Stadt. Man bekommt es umsonst in einer Zeit, da internationale Konzerne ohne Rücksicht auf die Menschen weltweit Wasser in Beschlag nehmen und teuer verkaufen. An einem Ort wie der Mombachquelle kannst du, berauscht von reinstem Nass aus vierzig Metern Tiefe, rosa Elefanten sehen. Und irgendwo in Cannstatt bellt ein Seehund, falls wer einen hat.

Das Jahr hat begonnen, alles ist im Fluss und der alte Fisch wird weiter übers Wasser gehen.


Joe Bauers Flaneursalon gastiert am Dienstag, 4. Februar im neu gestalteten Traumpalast-Kino Metropol, Bolzstraße Stuttgart-Mitte. Live vor der Leinwand. Bühnengäste sind u. a. Eric Gauthier, Rolf Miller und Cemre Yilmaz. Infos und Karten gibtꞌs im Metropol und bei der Rosenau.

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1 Kommentar verfügbar

  • nesenbacher
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Im Eiszeitalter weilten in Cannstatt dereinst Mammut und Waldelefant.*
    Ob von unserer „Eiszeit“ später noch etwas Elementares übrig bleibt, bezweifle ich.
    Vielleicht sollte man die Kolumnen teilweise in Stein meiseln.????

    Dem Joe, der gesamten Kontext-Redaktion und allen anderen, nachträglich…
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