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Auf der Straße

An die Pumpen!

Auf der Straße: An die Pumpen!
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Keine Frage, auch ich habe die ChatGPT-App auf meinem Taschentelefon, bin als fortschrittlicher Stadtspaziergänger also mit mobiler Künstlicher Intelligenz ausgerüstet. Dennoch vertraue ich in meiner anscheinend abgrundtiefen Rückwärtsgewandtheit viel zu oft noch auf die Restbestände meiner eigenen Hirnzellen. Damit ähnle ich politischen Führungskräften. 

Als junger Kerl habe ich Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilm "Vier im roten Kreis" gesehen, und eine Szene hat mich so beeindruckt, dass ich sie bis heute als Kopfvideo gespeichert habe und immer wieder abrufe. Yves Montand spielt einen Ex-Bullen, einen Scharfschützen, der die Branche gewechselt hat. Als er mit seinen neuen Kollegen an einem Einbruch in ein Juweliergeschäft teilnimmt, hat er die verantwortungsvolle Aufgabe, mit einem einzigen Schuss das Auge des Sicherheitssystems im Laden zu zerstören. Weil er Alkoholiker ist, wird ihm vorsichtshalber ein Stativ hingestellt. Nach kurzem Zögern entscheidet er, freihändig ohne Krücke zu schießen – und trifft.

Nicht aufgrund von Drogen, aber wegen seines Alters muss unsereiner damit rechnen, immer seltener zu treffen, worauf er zielt. Ich bin nicht Yves Montand (und der war eh kein Ehrenmann). Mit finalem Sportsgeist habe ich dennoch in dieser letzten Kolumne des Jahres 2024 noch einmal auf KI verzichtet – und alles eigenhändig ohne geistige Digitalprothese getippt. Möglich, dass ich schon beim nächsten Schuss das Stativ nehmen muss. Meine Verwirrung beim Blick auf diese Welt nimmt zu.  

Gut, die Beine und die Füße funktionieren noch tadellos. Der moderne Mensch würde sagen: "läuft!" – und für diese blöde Floskel umgehend einen Tritt von mir kassieren. In meiner vorherigen Kolumne "Tempo, Tempo" habe ich geschildert, dass es laut Forschungen einer britischen Universität möglich ist, bei etwa 10.000 Schritten pro Tag mit mindestens 6,44 Kilometern pro Stunde den menschlichen Körper um sagenhafte 16 Jahre zu verjüngen. Dass ich angesichts der politischen Zustände daran nicht interessiert bin, dürfte klar sein. Und von revolutionärem Kampfgeist ist rundum kaum etwas zu spüren. So folge ich schnurgerade dem norwegischen Weltenwanderer und Schriftsteller Erling Kagge: "Bei so vielen Dingen in unserem Leben geht es um hohes Tempo. Gehen tut man langsam. Und ist damit das Radikalste, was du tun kannst." 

Der Tod ist ein Hund

Womöglich sogar radikaler als die Aufforderung des Münchner Kabarettisten Claus von Wagner an sein Publikum, die Luft aus den Reifen eines parkenden SUV zu lassen und eine Luftpumpe danebenzustellen, um juristisch einem Kollateralschaden zu entkommen. In seinem neuen, virtuosen Solo-Testprogramm "Projekt Equilibrium" sagt Wagner, wählen allein reiche nicht: "Demokratie ist kein Lieferando." So gesehen müssen wir die Pizzen samt Vorderschinken endlich den Richtigen um die Schweinsohren hauen.  

Leider liefert Kagges Strategie des Langsamgehens nicht nur die Glücksmomente meiner Ein-Mann-Bewegung. Schlendere ich ohne jeden olympischen Anspruch halbwegs ausgeschlafen vor mich hin, entgeht mir diese "Bild"-Schlagzeile an einem Kiosk-Aufsteller nicht: "Müll, Wasser, Hunde, der Tod – 2025 wird alles teurer". Da haben wir's. Der Tod ist ein Hund. Und jetzt will er noch mehr Asche für sein schmutziges Geschäft.

Ich hoffe, dass es mir diesmal gelungen ist, den Tod eher unauffällig als Co-Autor in meine Kolumne zu schmuggeln. Damit ich mir nicht schon wieder anhören muss, ich sei ein Depri-Dödel, ein Raubauz, der seinen Mitmenschen vor lauter mieser Laune die Luft aus ihren Reifen lässt, ohne auch nur daran zu denken, eine Rettungspumpe hinzustellen. Symbolisch gesehen arbeite ich stets ohne Stativ. Blast doch die Dinger mit dem Mund auf.  

Bin ich ein schlechter Mensch? Eher nicht. Auch wenn wir an dieser Stelle bereits auf die Themen Banditen, Protzmobile und Kläffer zurückblicken, habe ich noch kein einziges Mal Christian Lindner erwähnt. Einen anderen Ehrenmann dieser Kategorie muss ich allerdings kurz nennen. Am Tag, als ich den Kiosk-Aufsteller sah, lautete die aktuelle "Bild"-Schlagzeile: "Der Merz-Plan für IHREN Geldbeutel! Rente, Steuern, Pendler-Pauschale, Soli". Gegen die explodierenden Gebühren für Hunde und den Tod unternimmt der wandelnde CDU-Geldbeutel demnach nichts. Er reist ja vorzugsweise im privaten Propellerflugzeug, und im Namen aller demokratischen Kampfflieger sage ich euch: Vermutlich hat auch der Himmel ein Ventil. Eine Luftpumpe wird selbstverständlich eingeflogen.  

Es ist jetzt ein milder Dezember und schon viel zu spät für mich, noch einen konkurrenzfähigen Jahresrückblick abzuliefern. Angesichts des hohen Tempos im heutigen Mediengetöse sollte man den spätestens Ende Januar starten. Inhaltlich kein Problem. Auch nach dem Januar wird nichts besser werden. Da können wir wählen, so oft wir wollen. Dauernd sagen wir brav und in ehrbarer Absicht "gemeinsam gegen extrem rechts" – so gut wie nie aber, als gäbe es angesichts der monströsen Ungerechtigkeiten keine Zusammenhänge: "gemeinsam gegen extrem reich". 

Der Pudel-Act im Zirkus war wirklich gut

Schauen wir dennoch, wie es meine Art ist, optimistisch nach vorn. An der Urbanstraße, in der ich wohne, hat die Stadt Stuttgart ein Plakat mit Großbuchstaben in eine Vitrine hängen lassen: "Frohe Weihnachten und ein glückliches Jahr 2025". Frage an ChatGPT: Spricht irgendwas gegen die Erfüllung dieser Wünsche? Vielleicht der Müll, die Stadt und der Tod? Oder ein anderer Hund? Die Antwort behalte ich erst mal für mich. KI ist mir noch nicht seriös genug. Sicher ist nur, wie ich einem Mitteilungsblatt entnehme, dass die Urbanstraße in eine "Fahrradstraße umgewandelt" werden soll: irgendwas mit "Vorrangregelung zugunsten des Radverkehrs". Welche Freude. Endlich was los im Luftpumpengeschäft. Übrigens sollen auch die Gehwege verbreitert werden. Welcome Pressluftbohrer. Dann knallt der Asphalt, und dann haben noch mehr Hunde Platz.

Im Weltweihnachtszirkus hat mir der Pudel-Act gut gefallen, wenn auch nicht ganz so gut wie der Messerwerfer. Dieser präzise arbeitende Mann ohne Stativ aus Las Vegas ließ mich leicht erregt an die vielen prächtigen SUV-Schlappen in unserer Fahrradstadt denken. Die Ernüchterung kam prompt. Nachdem ich all die Körper in der Manege gesehen hatte, kam ich mir ziemlich blöd vor, als ich am nächsten Morgen routinemäßig zum Muskeltraining bei Kieser ging. Um kurz vor Weihnachten und Silvester wenigstens einen Hauch von Selbstwertgefühl herzustellen, bearbeitete ich in meiner Not erst die Gesundheits-App und dann den Rechner auf meinem Taschentelefon: das volle KI-Programm des analog geschulten Mannes. Und das ergaben meine digitalen Recherchen: Bei durchschnittlich 10.450 zurückgelegten Schritten pro Tag komme ich im Schaltjahr 2024 auf insgesamt 3.824.700 Schritte. Das sind 7,4 Kilometer pro Tag und 2.708,4 Kilometer im ganzen Jahr – lächerlich. Schaue ich mich um, bin ich in Wahrheit keinen Schritt vorangekommen. Und weiß weniger denn je, wo's langgeht.

Was soll ich machen. Radikal langsam werde ich weitergehen, mich dem Weltenzirkus aussetzen und als Gedankenspringer so lange zwischen SUVs und Fahrrädern herumstiefeln, bis die Luft raus ist. Vielleicht habe ich ja Glück. Genügend Luftpumpen haben wir in dieser Stadt. Frohe Weihnachten und ein glückliches Jahr! Bis Ostern halten wir noch durch.

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