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Superblock Stuttgart-West

Ein Dank von den Politessen

Superblock Stuttgart-West: Ein Dank von den Politessen
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Weil es nicht nur um weniger Autos gehen soll, wird im Kulturcafé Merlin gehäkelt. Seit im Stuttgarter Westen in der Augustenstraße eine Art Superblock getestet wird, treffen sich im Kulturzentrum Frauen und Männer, um die Straße schöner zu häkeln. Eine Wohltat für die Nachbarschaft.

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"Unglaublich, wie diese Hände das machen. Ich verstehe es gar nicht." Demetris Panagakou schaut erfreut auf sein, nun ja, Fast-Quadrat aus weißer, roter und schwarzer Wolle, an dem er gerade häkelt. Der 77-jährige ehemalige Mathelehrer ist einer der wenigen Männer, die für den Superblock im Stuttgarter Westen häkeln. Nahezu jeden Mittwochabend treffen sich im Kulturzentrum Merlin in der Augustenstraße Nachbar:innen und Häkelenthusiastinnen, um sich gemeinsam der Textilkunst zu widmen. Denn es ist Kunst, betont Ursula Krumm, eine der Hauptakteurinnen des Kreises. "Die Textilkunst aber hat es in der Kunstwelt schwer, weil sie weiblich konnotiert ist. Wir machen sie bekannter und sichtbar."

Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Die gehäkelte Kunst ist öffentlich. Sie ziert die Parklets, also die Holzpodeste mit ihren Bänken, die im Rahmen des Verkehrsberuhigungsversuchs Superblock (Kontext berichtete) die Straßenränder auflockern und die Anwohner:innen mehr nach draußen locken sollen – auch um die Nachbarschaft zu beleben. Doch beginnen wildfremde Menschen tatsächlich, einfach miteinander zu quatschen, nur weil auf der Straße ein paar Holzbänke stehen? Eher selten, zumindest nicht in den hiesigen Breitengraden. Weniger aus Abneigung, mehr aus Scheu hält man hier lieber Abstand. Wenn es aber einen Anknüpfungspunkt gibt, ja dann ist das schon einfacher. "Immer wenn wir unser Gehäkeltes an den Geländern der Parklets angebracht haben, kamen wir mit Passanten ins Gespräch", erzählt Krumm. "Und immer waren die Reaktionen positiv", ergänzt Merlin-Chefin Annette Loers.

Sie ist an diesem vorweihnachtlichen Abend mit dabei und häkelt aus silberglänzender Wolle kleine Weihnachtssterne. Erst wollte sie ja goldene machen, aber die Goldwolle war zu faserig, da sah sie fast nichts und der geplante Stern endete als Kugel. Die silberne ist besser und nach wenigen Minuten hält sie ihr Exemplar in die Höhe – tatsächlich: ein Stern mit Zacken. Weihnachtsschmuck fürs Merlin, bevor das in die Winterpause geht.

Neben Loers häkelt Inge Indra-Singer, eine der ganz Engagierten. Aus ihrer Nadel stammen Schneemänner, Pippi-Langstrumpf-Engel, Weihnachtsbäume, auch ein Ottifant ist dabei. "Mich verbindet das Häkeln mit meiner verstorbenen Mutter, mit der habe ich viel Handarbeit gemacht", erzählt sie, und dass sie extra aus Botnang zum Häkeln in den Westen komme. "Weil es schön ist, in Gemeinschaft etwas zu machen, ein Ziel zu haben und plaudern zu können", sagt die einstige Einzelhandelskauffrau – "heutiger Hauptberuf: Oma" – und widmet sich wieder ihrer wollenen Misteln. Davon sollen heute ein paar entstehen, "damit man sich küssen kann".

Textilkunst trifft

Einen kurzen Weg zum Häkeln hat Eleni Panagakou, sie wohnt mit ihrem Mann Demetris gleich um die Ecke. Mit Stricken und Häkeln hat die Verwaltungsangestellte nach langer Pause so richtig wieder in der Coronazeit angefangen. Wie Inge findet sie das sehr entspannend. Aber: "Es kann auch sehr einsam sein, wenn man immer alleine zu Hause sitzt." Ins Merlin sei sie früher manchmal für einen Kaffee oder zu Veranstaltungen gegangen. "Da habe ich aber nicht mit anderen Leuten geredet. Jetzt in der Gruppe ist das anders." Und sie hat ihren Demetris dazu gebracht, die Häkelnadel in die Hand zu nehmen. Eleni Panagakou mag zwar keine umhäkelten Bäume – "Bäume sind alleine schön genug" – aber die metallenen Gitter der Parklets und die grauen Baumschutzbögen in bunten Farben erstrahlen zu lassen, gefällt ihr. "Gerade jetzt im kalten, düsteren Winter ist das aufmunternd."

Für die Merlin-Chefin ist wichtig, dass Menschen sich hier kennen lernen, etwas tun fürs Viertel und echtes Leben leben. Denn: "Was in den sozialen Medien stattfindet, ist nicht real", sagt sie und spielt damit auf negative Kommentare im Netz zum Superblock und Häkeln an. "Wer da mosert, wohnt hier in der Regel gar nicht." Im realen Leben komme die Textilkunst durchweg gut an. "Neulich kamen hier zwei Politessen rein. Wir haben erst befürchtet, dass irgendwas schief gelaufen ist. Aber dann wollten sie sich nur bedanken, dass wir es hier so schön machen. Das muntere sie immer auf", erzählt Loers, strahlt und beendet nebenbei den nächsten Silberwollstern.

Gehäkelt wurde und wird in der Gruppe nicht einfach drauflos, sondern mit Konzept. Angefangen habe man zwar zunächst einfach bunt. "Um uns auszuprobieren", sagt Krumm. Dann aber überlegte die Gruppe sich Mottos für die einzelnen Parklets. Das fürs Parklet vor dem Merlin ist unschwer zu erkennen: Schnecken, Blumen, Igel, Karotten – das Motto lautet Garten. "Ein Pilz ist verschwunden", berichtet Inge. "Mundraub", kommentiert Loers trocken. Hier können sich die Häkler:innen auch weiterhin austoben. Inge Indra-Singer verweist auf die Girlande, die aktuell weihnachtlich geschmückt ist. "Halloween hatten wir Gruseliges, dann kommt Osterschmuck … uns fällt immer was ein."

Ein anderes Parklet ist ganz in Schwarz-Weiß gehalten. "Da haben wir uns für etwas eher Grafisches entschieden", sagt Krumm. Ihr geht es auch darum, verschiedene Techniken wie Mosaik und Tapisserie auszuprobieren und ums Haptische. "Wenn es Erhebungen gibt durch Muster oder Figuren, ist das für Menschen, die nicht so gut sehen, schön und Kinder finden das auch spannend. Das sehen wir immer wieder."

So manche hat im Laufe der Superblock-Häkelei ihre Fertigkeit vervollkommnet. Von Merlin-Chefin Loers stammt zum Beispiel ein Eichhörnchen. Gewidmet ist es dem Gastro-Chef. "Der mag Eichhörnchen und trägt Brille, deswegen trägt das Eichhörnchen auch eine", sagt sie. Und als Hommage an das Musikprogramm im Merlin lehnt ein bekannter Blues-Musiker lässig auf dem Geländer. Bart, Sonnenbrille, grauer Anzug, Hut – eindeutig Big Daddy Wilson, der erst im Oktober im Merlin gespielt hat. Textilkunst trifft auf Musikkunst.

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