"Über Nacht war das Werkstor weg", erzählt Richard Königsdorfer vom Verein Adapter. Das Pförtnerhäuschen, das einst den Zugang zum Fabrikgelände überwacht hat, soll in ein Entree verwandelt werden, das Neugierige nicht fernhält, sondern anzieht und einlädt. Die Idee hatten Studierende eines Seminars, das Königsdorfer gemeinsam mit Vertretungsprofessor Markus Vogl am Städtebau-Institut der Uni Stuttgart angeboten hat. Es ging darum, den Eingangsbereich der Wendlinger Neckarspinnerei für das IBA-Festival ganz neu zu gestalten: vom Entwurf bis zum fertigen Bau. Und dabei störte eben das Tor.
IBA'27-Festival – Neckarspinnerei
Die Fabrik am Fluss
Fotos: Jens Volle
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Die unkomplizierte Art, wie die HOS, der Besitzer des Areals, auf den Wunsch reagierte, zeugt von einer Planungskultur, die sich wohltuend abhebt von der Überregulierung, den vielen Abschreibe-Investorenprojekten, dem Zwang zum schnellen Profit. HOS – ausgeschrieben Heinrich Otto und Söhne – ist ein Familienunternehmen, das Dirk Otto in siebter Generation leitet. Nach dem Ende der Textilproduktion will er das Neckarspinnerei-Quartier (NQ) in eine neue Zukunft führen. Die Entscheidungswege sind kurz. Für Anfragen hat er ein offenes Ohr.
Im Rahmen des IBA-Festivals bietet sich nun am kommenden Samstag Gelegenheit, sich anzusehen, was auf dem fast fünf Hektar großen Areal geschieht und geplant ist, das zur Hälfte aus denkmalgeschützten Altbauten besteht, während die andere Hälfte neubebaut werden soll. Im März ist der Wettbewerb entschieden worden, die Entwürfe sind ausgestellt. Doch das Quartier hat bereits begonnen, sich weiterzuentwickeln. HOS-Geschäftsführer Andreas Decker nimmt sich viel Zeit für einen Gang durch das Areal, das auf besondere Weise Geschichte und Zukunft verbindet.
Vernetztes Denken im Quartier
Der Kontrast zeigt sich am Otto-Quartier am Wendlinger Bahnhof, das aus der Liste der IBA-Projekte wieder gestrichen wurde. Die HOS hat das Areal vor vier Jahren zu 80 Prozent verkauft, um, wie Decker sich ausdrückt, an liquides Eigenkapital zu gelangen. Seitdem ist dort kaum etwas passiert. Der Verkauf an die CG Elementum des Berliner Immobilienmoguls Christoph Gröner sei ein Fehler gewesen, bedauert Decker. Das Unternehmen spekuliere nur auf Wertsteigerung: "Das wird noch allen auf die Füße fallen."
Bei der Neckarspinnerei verhält es sich anders. Decker, Stadtplaner und Immobilienökonom, spricht von ESG: Environmental, Social and Governance. Dahinter verbergen sich Kriterien für nachhaltiges Handeln: ökologisch, sozial und in Bezug auf transparente und ethische Unternehmensführung. Ein Quartier biete die Chance, vernetzt zu denken, erklärt er. Wärmenetze etwa seien viel effizienter als eine energetische Sanierung von Einzelgebäuden.
Geplant ist eine Mischung von mindestens 70 Prozent Gewerbe und maximal 30 Prozent Wohnen. Solche gemischten, sogenannten urbanen Gebiete sind planungsrechtlich erst seit Kurzem möglich. Es gibt sie – als Neubaugebiete – noch gar nicht, aus Angst vor Klagen. "Wir haben ganz dicke Bretter bohren müssen im Gemeinderat", erzählt Decker. Die Stadträte wollten ein konventionelles Gewerbegebiet. Dabei war die Neckarspinnerei schon immer ein gemischtes Quartier. Weiter hinten, am Neckarufer, steht ein Wohnhaus, davor eine Motorrad- und Kfz-Spezialwerkstatt. Dass die Neckarspinnerei ein IBA-Projekt ist, half die Gemeinderäte zu überzeugen.
Die HOS ist auch selbst weiterhin auf dem Gelände aktiv. Gleich im Eingangsbereich rechts hat der Luxorette-Laden Einzug gehalten, mit guter Bettwäsche, Küchentextilien und anderem mehr. In der alten Unternehmervilla gegenüber hat das Handelsunternehmen Otto Textil seinen Sitz.
Biergarten als Traum
Und es gibt neue Interessenten. Der Verein Leben inklusiv möchte gern eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung einrichten, vielleicht schon ab Ende des Jahres. Decker denkt sofort weiter: Ein dazugehöriges Café oder Restaurant könnte ein erster Schritt hin zur Inklusion auf Quartiersebene sein. Der Kreisjugendring würde hier gern seine Geschäftsstelle einrichten. Die ArtFactory27, die in Esslingen seit einigen Jahren unter anderem Mal- und Schweißworkshops anbietet, hat angefragt. Gastronomen zeigen sich interessiert: ein Biergarten am Neckarufer? Ein Traum.
Ungefähr so stellt sich Decker die künftige Nutzung des viergeschossigen Hochbaus vor: das Erdgeschoss öffentlich zugänglich. Darüber Coworking. Oben vielleicht Clusterwohnungen mit kleinen Privatbereichen und großen Gemeinschaftsräumen. Die alte Schlosserei dahinter könnte Bewohner:innen, Künstler:innen und Handwerker:innen auf dem Areal als Gemeinschaftswerkstatt dienen. Dort stehen alle erdenklichen Metallbearbeitungs-Maschinen bereit – alt, aber voll funktionsfähig. So robust wären sie heute überhaupt nicht mehr erhältlich, sagt der Projektentwickler.
Was aus dem früheren Baumwollmagazin und dem Kesselhaus werden soll, steht noch in den Sternen. Sicher ist jedoch: Die beiden Turbinenhäuser werden eine wichtige Rolle spielen. Wasserkraft wurde anfangs direkt zum Antrieb der Spinnereimaschinen genutzt. Die beiden Turbinen aus den Jahren 1928 und 1956 laufen immer noch einwandfrei und sind Ausgangspunkt des Konzepts für ein energieneutrales Quartier. Zwar ist im Moment nur die neuere in Betrieb: Der Wasserstand ist niedrig, die Sonne scheint, seit Wochen hat es kaum geregnet. Hier kann in Zukunft aber Photovoltaik einspringen – eine ideale Kombination, die durch weitere Komponenten wie Eisspeicher ergänzt werden soll.
Am weitesten ist der Umbau des Pentagon gediehen: ein fünfeckiger Nachkriegsbau am oberen Ende des Areals. Sehr niedrig waren früher die Räume im Erdgeschoss und in der ersten Etage. Daher wurden die Decken entfernt. Dadurch gibt es nun weniger Flächen, aber mehr Raum. Fünf Start-ups arbeiten bereits in dem Gebäude. Bei der schönen Lage, direkt am Wasser, könnte Decker sich vorstellen, später einmal mit Wohnungen in Holzbauweise aufzustocken.
Früher Textilien, heute Lithiumbatterien
In einem weitgehend leeren Erdgeschossraum sitzt Nguyễn Thị Ðiḝu Thanh an ihrem Laptop. Sie ist die Geschäftsführerin von Batene, einer Ausgründung des Max-Planck-Instituts für medizinische Forschung, das acht Jahre lang an einer neuen Generation von Lithium-Ionen-Batterien geforscht hat. Ein Metallgewebe – passend zur Neckarspinnerei – spart Gewicht und ermöglicht eine deutlich höhere Energiedichte.
Nguyễn gibt eine kleine Führung durch die neuen Laborräume im benachbarten Batteurbau. Ein 230 Quadratmeter großer, gläserner Reinraum ist nach dem Haus-in-Haus-Prinzip in die 160 Jahre alte Fabriketage gestellt. Darin befindet sich, nur durch eine Schleuse zu betreten, ein weiterer Glaskasten: ein Trockenlabor. Mehr als 0,5 Prozent Luftfeuchtigkeit darf es hier nicht geben, sonst fängt das Lithium Feuer. Nguyễn hat durch die IBA-Website von der Neckarspinnerei erfahren. Sie war gerade dabei, nach Räumlichkeiten für Batene zu suchen. Nach dem Besuch in Wendlingen hat sie alle weiteren Termine abgesagt. "Wo gibt es das sonst?", fragt sie. "So ein Labor ist normalerweise nur von Neonleuchten belichtet." Hier fällt der Blick durch die Glaswände auf alte Mauern und das grüne Neckarufer.
Im zweigeschossigen Shedbau hat schon vor zwei Jahren, unter Corona-Bedingungen, der Verein Zeltspektakel Musik, Comedy und Zauberkunst aufgeführt. Die riesigen Fabrikhallen, in denen früher dicht an dicht Maschinen standen, eignen sich bestens für Veranstaltungen. Das Zeltspektakel wird sich Ende Juli mit zwei Konzerten zurückmelden. Zuvor aber findet am kommenden Samstag, als ein Programmpunkt des IBA-Festivals, das große NQ-Festival statt, für das die Studierenden den Eingangspavillon gebaut haben.
Der Workflow einer Kathedrale
"Bauhütte@NQ" haben Vogl und Königsdorfer ihr Seminar an der Stuttgarter Uni genannt. Das Entree sollte ein Gemeinschaftswerk sein, ein Work in Progress wie die mittelalterlichen Kathedralen. 60 Studierende hatten sich beworben, 18 konnten teilnehmen. Vogl findet drei Dinge wichtig: dass das Seminar nicht nur an der Uni, sondern auch außerhalb stattfindet, dass sich nach fünf Gruppenentwürfen am Ende alle auf ein Konzept geeinigt haben und das Thema Anbauen – Umbauen – Weiterbauen. Der Anbau besteht aus Holz, alles ist rückbaubar. Das Pförtnerhäuschen bleibt bis auf acht Bohrlöcher unangetastet.
Die Studierenden des Seminars gestalten auch einen Großteil des Festivalprogramms: Führungen durch das Areal, auch speziell zur Wasserkraft, zu Batene, durch die Kellergewölbe und zwei Podiumsdiskussionen zu den Potenzialen der Neckarspinnerei. Der Verein Adapter, der sich inzwischen zu einem wichtigen Player der alternativen Stadtentwicklung mit fast zwanzig Mitgliedern gemausert hat, hat schon im Vorjahr das Sommerprogramm der Neckarspinnerei gestaltet. Eine temporäre Wohneinheit, die die jungen Architekt:innen damals in die Fabrik gestellt haben, ist weiterhin zu besichtigen.
Bands und Performances, ein Handwerkermarkt und eine Ausstellung mit Künstler:innen aus Stuttgart, Nürnberg, Berlin und Kirchheim ergänzen das Programm. Menja Stevenson zum Beispiel nimmt alte Textilien der Firma Otto, die sie mit fotografischen Aufnahmen der alten Fabrik bedruckt. Die Kuratorin Kathrin Wörwag habe sich einfach gemeldet und gefragt, ob sie in der Neckarspinnerei mal eine Ausstellung machen kann, erzählt Decker. "Alle, die hier etwas machen, sind auf uns zugekommen. Wir haben nichts getan, um das Areal zu bewerben."
Das NQ-Festival am Samstag, 8. Juli beginnt um 11 Uhr und geht bis in die späte Nacht. Hier das Programm im Detail. Die Kunstausstellung läuft bis 29. Juli und ist montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr, samstags bis 13 Uhr geöffnet. Am Freitag, 14. Juli hält der Beuys-Schüler Johannes Stüttgen aus Düsseldorf, Mitbegründer der Initiative "Omnibus für direkte Demokratie", einen "Aktionsvortrag" mit dem Bandwurmtitel: "Die Kunst als zukünftige Bestimmung des Menschen. Die Rolle des erweiterten Kunstbegriffs als Brückenfunktion von Ökonomie und Ökologie und die Energiefrage".
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