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Klimastreik in Esslingen

Patient Planet

Klimastreik in Esslingen: Patient Planet
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Mit einem kleinen Theaterstück versuchen die Parents for Future in Esslingen auch Menschen außerhalb der Bubble klarzumachen, dass es höchste Zeit ist. Doch die sitzen lieber im Café und genießen die Sonne.

"Bitte helfen Sie uns, die Erde ist in Gefahr!" Der Angesprochene trägt ein großes Schild auf dem Hut, auf dem steht: "Regierung". Er würde ja gern, aber: "Es kostet alles Geld. In meinem Etat ist kein Geld mehr für Klimaschutz." Mehr als Aspirin kann er nicht anbieten. Gleich im Anschluss hat er noch einen Termin mit der Lobby – er korrigiert sich: mit den Verbänden. Wegen der Spritpreise.

Die Erde hängt am Tropf. In ein weißes Bettlaken gehüllt liegt sie, ein aufblasbarer Globus von vielleicht einem Meter Durchmesser, auf einer Bahre. Es ist die Abschlusskundgebung der Demo zum globalen Klimastreik auf dem Esslinger Marktplatz, organisiert von den Parents for Future. Die Bühne haben Veranstaltungstechniker kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Klimawandel macht sich hier nur als früher Frühling bemerkbar. Kurzärmlig sitzen die Menschen vor den Cafés im Freien und lassen es sich am Freitag nach Feierabend gut gehen.

"Ich sehe, es geht ihr wirklich schlecht", sagt der Mann mit dem Schild "Wirtschaft" auf dem Hut. Sie hat Fieber, erhöhte Temperatur. Aber die Wirtschaft muss sich ums Wachstum kümmern: "Damit's uns allen gut geht." Mehr als ein Pflaster hat sie nicht zu bieten. "Was für ein schönes Foto!", ruft die Frau mit dem Schild "Medien" dazwischen, als der Mann das Pflaster überreicht: "Die Wirtschaft rettet die Erde! Was für eine Schlagzeile!"

"Ich erkläre euch jetzt mal, was die Medien interessiert", gibt die Expertin, angesprochen auf den Ernst der Lage, zum Besten. Vor einem Jahr waren es die Überschwemmungen. Jetzt sind es die Spritpreise. "Die Menschen können immer nur an ein Thema denken", sagt sie, und auch die Einschaltquoten müssten stimmen. "Ich find' euch so süß", ruft sie den Fridays noch zu und überreicht ihnen einen Knusperriegel.

Oh nein, noch eine Krise

"Oh nein, noch eine Krise", stöhnt die Gesellschaft. "Ich bin doch kein Arzt. Was kann ich als Einzelner tun?" Sie bestehe aus vielen, wird sie belehrt. Und die müssten jetzt etwas tun. Doch die Gesellschaft denkt eher daran, nach zwei Jahren Corona endlich mal wieder ein Konzert zu besuchen. Oder ans Einkaufen und an die nächste Netflix-Serie.

Die Erde muss also ins Krankenhaus. "Es sieht übel aus", sagt der Arzt und misst die Temperatur: "Kurz vor 1,5 Grad. Wir müssen jetzt handeln, sonst muss sie auf die Intensivstation." Er ruft durch und stellt fest: Das Krankenhaus hat ein Problem. "Keine finanzielle Reserve, Personalmangel." Schräge Töne erklingen. Die Erde stürzt beinahe ab, über den Bühnenrand. Doch dann halten alle zusammen und ziehen sie wieder hoch.

Anne Newball Duke hat das Stück selbst geschrieben und die Parents for Future Esslingen 2019 mit gegründet. Fünfzehn Personen sind sie, zumeist um die vierzig – bis auf die Grandparents –, mehrheitlich kommen sie regelmäßig zu den Treffen. Die bisherigen Fridays for Future Esslingen, also die SchülerInnen, sind dagegen inzwischen fast alle weg zum Studieren. Doch die nächste Generation ist dabei sich einzuarbeiten. Einige von ihnen haben mit den Parents und Grandparents das Stück aufgeführt und diskutieren im Anschluss noch weiter.

Ein Mal haben sie geprobt. Um halb zwei vor der Demo, die um drei am Esslinger Bahnhofsvorplatz losging. Auf der großen Maille-Kreuzung hat es eine kleine Vorschau gegeben. Zehn Minuten lang war der Esslinger Haupt-Verkehrsknoten besetzt. Verärgerte AutofahrerInnen im Feierabendverkehr hupten, schimpften und wichen in die Seitenstraße aus, um sofort wieder auf die Hauptstraße einzubiegen.

Die Blase muss platzen

Auf dem Marktplatz bleibt es ruhig. Außer den CafébesucherInnen, die nicht zeigen, was sie denken, gibt es fast keine PassantInnen. Nur eine Roma-Familie steht etwas abseits und sieht zu. Einer der ihren sitzt auf der Bühne und spielt Akkordeon. Newball Duke hat ihn angesprochen, er war sofort bereit mitzumachen. Die Demo-TeilnehmerInnen sind daran zu erkennen, dass sie FFP-2-Masken tragen. Niemand sonst tut das an diesem schönen Nachmittag mit UV-Strahlung-Rekordwerten.

Newball Duke hat zwei Jahre in Kolumbien gelebt. Gefragt, ob sich der Klimawandel dort bemerkbar mache, antwortet sie: Während dieser zwei Jahre nicht, doch später hätten sie auf der Pazifikinsel Providencia Urlaub gemacht. Die wurde im November 2020 von einem Hurrikan der Stärke 5 fast vollständig verwüstet. Wirbelstürme hat es immer gegeben. Doch die Häufigkeit und Intensität nimmt zu. Von einem so starken Sturm wurde Providencia noch nie getroffen.

Newball Duke hat sich den kurzen Einakter ausgedacht, um auch Menschen "außerhalb der Klimabubble" zu erreichen. Damit sie "verstehen, in welcher Menschheits-Phase wir grad stecken und dass sie aus diesem Fühlen und Verstehen heraus in sich selbst so etwas wie den Willen zur Veränderung entdecken". Sehr viele Menschen außerhalb der Bubble dürfte sie an diesem Freitag nicht erreicht haben außer einigen genervten Autofahrerinnen und indifferenten Cafébesuchern. Doch Newball Duke ist in ihrem Element, und mit ihrer Begeisterung steckt sie alle an.

Die Parents for Future Esslingen haben auch den Hashtag #IchPlusDrei erfunden: JedeR soll beim nächsten Mal drei weitere Personen zum "Streiken" animieren, die noch nie auf einem globalen Klimastreik waren. Genau genommen ist es kein Streik. Selbst die SchülerInnen müssen am Freitagnachmittag nicht "Schule schwänzen", wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann das nennt. Ganz geklappt hat es auch nicht. Die Veranstalter haben 600 gezählt, vergangenen September waren es tausend. Dann also beim nächsten Mal.


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