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Georg W. F. Hegel

Kunst kann, muss aber nicht

Georg W. F. Hegel: Kunst kann, muss aber nicht
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Mit der Pandemie ging die Nicht-Behandlung anderer dringlicher Themen einher. Dabei dürfen Hegels goldrichtige Diagnosen zum Werdegang der Kunst nicht auf der Strecke bleiben. Unser Autor holt nach, was bislang versäumt geblieben.

Das Hegeljahr 2020 stand im Zeichen des Politischen und der Krisen. Keine Spur von jenem "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama), das schon Hegel mit den napoleonischen Kriegen und der Etablierung des vernunftbasierten bürgerlichen Rechtsstaates anbrechen sah. Statt dessen: autoritäres Gebaren und erratische Kommunikation eines US-Präsidenten, der chinesische Kommunikonfuzikapitalismus im Aufschwung, technologische Disruption, Terror, und dazu nicht gerade vernunftsverdächtiger Dauerzank über Identität, Gender, Klima.

Sogar eine archaisch anmutende Pandemie suchte die Welt heim und überraschte zuvorderst die Europäer in ihrem posthistorischen Schlummer. Im Gesumse des coronaberauschten Medienschwarms, der mit obszönen Todeszahlen-Livetickern für psychosoziale Kollateralschäden und die Nicht-Behandlung anderer dringlicher Themen sorgt, ging vollends unter, worüber sich anlässlich Hegels 250. Geburtstags auseinanderzusetzen wert gewesen wäre: Hegels Diagnosen zur Kunst, genauer gesagt zu deren Ende – denn im Gegensatz zum Ende der Geschichte lag er damit goldrichtig.

Zwar hat Hegel die ihm zugeschriebene Wendung "Ende der Kunst" nie im Wortlaut formuliert. Aber sinngemäß diagnostizierte der in Stuttgart geborene Philosoph, die Kunst sei in der Moderne nicht mehr imstande, unsere höchsten geistigen Bedürfnisse zu erfüllen – einzig die Wissenschaft vermöge dies, sprich: vor allem Universaldenker wie Hegel selbst. Auch so kann man sich seinen – im Falle Hegels übrigens nicht gerade üppig dotierten – Job sichern. Das Kunstschaffen, dozierte Hegel in seinen Vorlesungen im Berlin der 1820er Jahre, sei in ein Stadium des Epilogs eingetreten. Damit meinte er nicht, dass keine Kunst mehr produziert werde, dass keine Kunst mehr konsumiert werde, dass die Menschen sich nicht mehr an der Kunst erfreuten oder keine Kunstobjekte mehr erwürben. All das war nach wie vor, ja mehr denn je der Fall. In Berlin, wo Hegel am Ende seines Lebens als Professor amtete, gründete man zu der Zeit, als er seine Vorlesungen hielt, gerade mit großem Pomp die Gemäldegalerie. Was also steckte hinter dem Downgrading der Künste ex cathedra?

Was sagt uns eine Pyramide?

Zunächst einmal entdeckte Hegel in der Kunst um 1800 allerhand Nostalgisches, heute würde man sagen: müde Retro-Trends. Bezeichnend hierfür ist seine Kritik an Julius Schnorr von Carolsfelds Nibelungenfresken in der Münchener Residenz. Diese blieben laut Hegel einer mythischen Vergangenheit verpflichtet, anstatt den neuen Geist der Moderne auszudrücken. Aber vielleicht war Schnorr ja nur konsequent. Denn Hegel zufolge waren einzelne Kunstwerke gar nicht mehr in der Lage, als sinnliche Phänomene der Komplexität und dem rationalen Gepräge der Moderne Ausdruck zu verleihen. Wie dem auch sei: Jene Romantiker, die zu Hegels Lebzeiten Erfolge feierten, etwa die mittelalterselige Künstlergruppe der Nazarener, waren für den progressiven Systemdenker rückwärtsgewandte Träumer.

Die eigentliche Abkehr von einem emphatischen Kunstverständnis aber liegt in Hegels Geschichtsphilosophie begründet. Nach Hegel, der als Privatmann übrigens ein Kunstkenner wie auch -liebhaber war und in Künstlerkreisen verkehrte, hat Kunst unterschiedliche Aufgaben zu unterschiedlichen Zeiten. Als einer der ersten Philosophen periodisierte er die Geschichte auf systematische Weise und ordnete drei Epochen drei fundamentale Wirkweisen und Funktionen von Kunst zu. Alle folgenden Zitate stammen aus seinen Vorlesungen über die Ästhetik aus den 1820er Jahren, die nur als Mitschriften von Studenten erhalten sind.

Im Altertum sei die Kunst "symbolisch" gewesen, etwa bei den Ägyptern. Auf dieser Stufe blieb die Kunst aus Hegels Sicht willkürlich, beliebig. Das Natürliche galt zwar als göttlich, doch die Ästhetik selbst fremdelte mit der Natur. Keine Individualität, nichts Naturgetreues in der Darstellung. Statt dessen irgendwelche abstrakten Symbole, die irgendetwas bedeuteten, aber ebensogut etwas anderes hätten bedeuten können. Obelisken, Pyramiden? Come on! Diese Symbole eigneten sich aus Hegels Sicht nicht, um echte geistige Inhalte anschaulich zu vermitteln. Auch Freiheit, für Hegel ein hoher Wert, habe diese Kunst nicht gekannt. Und überhaupt war sie der Religion untergeordnet, nur ein Anhängsel irgendwelcher Kulte.

Skulpturen mit Warzen

Im antiken Griechenland hingegen, behauptete Hegel durchaus im Sinne von Johann Joachim Winckelmanns idealistisch durchpulster Antikenverklärung, sei die Kunst zu ihrer höchsten Blüte gelangt. Nun befand sich Kunst auf gleicher Augenhöhe mit der Religion – mehr noch, Kunst war laut Hegel "die höchste Form, in welcher das Volk die Götter sich vorstellte und sich ein Bewusstsein von der Wahrheit gab". Künstler galten Hegel nun sogar als die "Schöpfer" der griechischen Götter, die Kunst also als Bedingung der Möglichkeit derselben.

Den griechischen Bildhauern sei es gelungen, in ihren Werken das Allgemeine und das Individuelle, das Geistige und das Sinnliche miteinander zu verknüpfen. Idee und Gestalt kamen miteinander zur Deckung, also zur Schönheit. Denn Schönheit, das war für Hegel die gelungene Synthese von allgemeinem geistigem Inhalt und konkreter sinnlicher Darstellung. Diese synthetische Qualität der Kunst korrespondierte, so Hegel, mit der Stellung der Menschen in der athenischen Polis: Sie waren fester Teil eines Staatswesens und gleichwohl freie Individuen, die nicht unter Despoten zu leiden hatten. Sklaven, Kinder und Frauen spielten bei dieser These eine im wahrsten Sinne des Wortes untergeordnete Rolle.

Die anthropomorphen griechischen Götter zeichneten sich durch eine vergleichbare Doppelnatur aus: Sie waren irdisch und überirdisch, menschlich und göttlich, individuell und allgemein zugleich. In einem solchen kulturellen, sozialen, politischen Klima konnte die Kunst optimal gedeihen. Denn schöne Kunst, so die bekannte Formulierung Hegels, ist das "sinnliche Scheinen der Idee", mehr noch: der Wahrheit. Die der Diesseitigkeit und der Körperlichkeit zugewandte Wahrheit der Griechen fand vor allem in der Skulptur ihren kongenialen ästhetischen Partner. Die Statuen der Griechen waren realistischer als die der Ägypter, doch sie zeigten noch nicht, wie es in der Neuzeit üblich werden sollte, Individuen in all ihrer Individualität, inklusive Warzen, Zahnlücken, Nippelpiercings.

Gefolterte Zimmerleute statt strotzenden Schönheiten

Auf die griechisch-klassische folgt die dritte Epoche, die Hegel etwas irreführend die "romantische" nennt und dabei großdenkerisch alle möglichen Zwischenzeitalter überspringt. Gemeint ist das christliche Zeitalter, das sich bis in Hegels Gegenwart erstreckte. Hegel glaubte, im Endstadium der Kunst der romantischen Epoche zu leben. Anders als in der Kunst der alten Griechen klaffen in der Kunst der Christen Gestalt und Idee zwangsläufig weit auseinander. Der Gott der Christen ist schließlich körperlos, wenngleich sein kompromisslerischer Sohn ein wenig Spielraum für den PR-Apparat des Vatikans schuf. Allerdings richtete sich die Hoffnung der Christen weniger auf ihr unmittelbares soziales und politisches Gemeinwesen, sondern auf das Leben nach dem Tode, in welchem die ewig leidenden Menschen für ihre weltlichen Qualen kompensiert werden würden. Leid als Quelle von Moral und Sittlichkeit wäre den alten Griechen höchst befremdlich vorgekommen. Deswegen, so könnte man folgern, stellten sie keine Skulpturen von gefolterten Zimmerleuten auf, sondern von lebensstrotzenden Schönheiten mit Fitnesscenterabo.

War die in Stadtstaaten organisierte Gemeinschaft der Griechen überschaubar, so gestaltete sich die Gemeinschaft der Christen unüberschaubar, umfasste sie doch potentiell die gesamte, bekehrte Menschheit. Wie wollte man das aber sinnvoll in eine Statue quetschen, von wegen "sinnlichem Scheinen" und so? Da konnten die Jesuiten noch so viel Pomp produzieren – die ästhetische Rechnung ging nicht mehr auf. Schon gar nicht im Protestantismus! Die Medienphobie der Kontrakatholiken beruhte auf der Annahme, das Individuum könne eine Direktverbindung zu Gott herstellen, ganz ohne Kunstvermittlung. Koscht ja au ebbes.

In Neuzeit und Moderne schließlich wurden die Künstler von ihren aristokratischen und klerikalen Verpflichtungen freigestellt. Mal freiwillig, aber häufiger unfreiwillig fanden sie sich auf dem freien Markt wieder. Die Kunst konnte nun, im Rahmen der Gesetze, tun, was immer sie wollte – gerade weil sie kein Privileg auf die Befriedigung höchster geistiger Bedürfnisse mehr hatte und nicht mehr die "Wahrheit" als solche veranschaulichen musste. Geboren war das moderne Kunstsystem, wie es heute noch besteht. Hegel beobachtete hellsichtig: "Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann. Der Künstler steht somit über den bestimmten konsekrierten Formen und Gestaltungen und bewegt sich frei für sich, unabhängig von dem Gehalt und der Anschauungsweise, in welcher sonst dem Bewußtsein das Heilige und Ewige vor Augen waren."

Der ästhetische Staat in der Krise

Diese Diagnose Hegels sollte sich im 20. Jahrhundert auf radikale Weise bewahrheiten – man denke nur an Picasso, der mit allen möglichen Stilen und Materialien experimentierte, an die Ready-mades eines Marcel Duchamp, an die Futuristin Valentine de Saint Point mit ihrer Frühform der Performancekunst, an Künstlerforscherdesigneraktivisten wie Olafur Eliasson oder an Sylvie Fleury, die schon mal ihre Einkäufe im Museum präsentiert. Und immer so weiter. Kunst kommt nun tatsächlich von können – kann, muss aber nicht. Nicht zuletzt ist Kunst in höchstem Maße selbstreflexiv geworden. Hegel antizipierte also das postmoderne Anything Goes wie auch die Selbsthistorisierung und Selbstbeobachtung der Künste.

In seiner 2003 veröffentlichten Habilitationsschrift Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte sekundiert der Philosoph und Merkur-Herausgeber Cristian Demand Hegels Einschätzung: In Moderne und Postmoderne sei Kunst mit Blick aufs große Ganze nun mal beliebig geworden, daran ließe sich nicht rütteln. Hegel habe nichts anderes getan als das auszusprechen, was Kunst-Lobbyisten aus Gründen der Imagepflege bis heute nicht auszusprechen wagten. Trotzdem – oder gerade deswegen – sei Kunst zur globalen Erfolgsstory geworden: "Der Satz vom 'Ende' der Kunst behauptet … nicht, daß diese nunmehr überflüssig geworden wäre. Er macht lediglich darauf aufmerksam, daß ihre Funktion als Medium der Selbst- und Welterkenntnis mit dem Fortschreiten der Säkularisierung und des wissenschaftlichen Denkens in den Hintergrund tritt. Freigesetzt von der Vermittlung der Wahrheit folgt die Kunst fortan weniger inhaltlichen als vielmehr binnenkünstlerischen Kraftlinien." Man könnte auch sagen: Die neue Situation der Kunst zeigt, dass Freiheit nicht nur in Macht, sondern auch in Machtlosigkeit begründet sein kann.

Gerade die Distanz zu den politischen und religiösen Schaltzentralen erlaubt das, was Hegels Zeitgenosse Friedrich Schiller als wesentlich für ein humanes Gemeinwesen erachtete – einen "ästhetischen Staat" als Pufferzone zwischen der Härte der Natur und der Härte der Gesetze; einen imaginären Staat freier ästhetischer Erfahrung, in welchem Menschen spielerisch vernünftig werden können: "Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet" (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795). Dieser "ästhetische Staat" befindet sich heute, wertneutral betrachtet, in einer Krise. Mit dem "Social Turn" (Claire Bishop), identitätspolitischem Aktivismus, dem Anspruch an Kunst, zu "Empowerment" beizutragen, dem Einfluss nicht-westlicher Kunstverständnisse sowie dem wachsenden Sektor direkter oder indirekter Auftragskunst rückt Kunst wieder in die Nähe dessen, was der Philosoph Jacques Rancière, anknüpfend an Schillers Begriff "ethischer Staat", als "ethisches Regime des Bildes" bezeichnet. Vielleicht werden wir also auch Hegels treffende Diagnose zur Situation der Künste in naher Zukunft relativieren müssen.


Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte im Departement Fine Arts der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und regelmäßiger Gastdozent an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Seine Essays erscheinen unter anderem in der "Zeit", NZZ, FAZ und "Camera Austria". Seit 2003 ist er Sänger und Bassist des Metal-Duos Malmzeit und betreibt einen Heavy-Metal-Lieferservice. Er twittert unter twitter.com/joergscheller1.


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