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Hegeleien zum Gesetz des Phallus

Hegeleien zum Gesetz des Phallus
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Allein der Anblick einer Intelligenz verkündenden Stirn gebietet Ehrfurcht. Meinen Philosophen mit großen Köpfen. Doch bisweilen menschelt es sogar in jenen geistigen Kathedrale. Halbseidenes über eine Ausstellung im Stuttgarter Hegelhaus.

"Aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert der geistige Dom." Mit dieser wortgewaltigen Schilderung beschreibt der Schriftsteller Stefan Zweig kein erhabenes Gotteshaus in der Morgenröte, sondern die nicht minder imposante Stirn von Fjodor Michailowitsch Dostojewski – die "wie eine Kuppel, weißstrahlend und gewölbt", über dem "engen bäuerischen Gesicht" in den Himmel emporragt: Hier hebt sich "harter Marmor über den weichen Lehm des Fleisches", und "blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige, königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in Krankheit vergrämt und vergeht." Selbst auf Dostojewskis Totenbett, "da strahlt sie wie morgens die Sonne über nächtiges Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem Glanz die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der Geist und der Glaube ihn erlösten vom dumpfen niederen und körperlichen Leben."

Wer schon einmal anhand der physiognomischen Beschaffenheit eines Vorderhauptes ermitteln konnte, ob dem Kopf zur Stirn ein metaphysischer Triumph über das weltliche Dasein geglückt ist, wird sich ohnehin wundern, warum die Redensart verbreitet ist, Leuten etwas "von der Nasenspitze abzulesen": Diese erscheint zum Vermessen des Geistes völlig ungeeignet. Sokrates etwa ist auf Büsten stets mit einem unansehnlichen Knollenzinken dargestellt; und von Tolstois Nase schreibt Stefan Zweig, ohne die Genialität ihres Trägers anzweifeln zu wollen, sie wirke "wie von einem Fausthieb hingeplättet" in "dieses tragische Werkmannsgesicht", mit ihren "weiten, offenen Tiernüstern".

Dahingegen notierte auch Arthur Schopenhauer einst in einer Fußnote: "Genie ist nie ohne hohe, breite, schön gewölbte Stirn; diese aber oft ohne jenes." Und an anderer Stelle liefert der buchstäblich große Kopf auch eine plausible Erklärung für diese naturgegebene Notwendigkeit: "Ein schön gewölbter, hoher und breiter Schädel, von dünner Knochenmasse, muss das Gehirn schützen, ohne es irgend einzuengen." Womöglich hat sich dem Narzissmen zugeneigten Denker diese Einsicht bei einem Blick in den Spiegel offenbart. Das Große, so liegt es schon im Wesen des Begriffs, verlangt nunmal nach Raum, und die Ideen für ein epochenprägendes Werk werden sich wohl kaum in einem krummschädligen Schrumpfkopf entfalten. Darum ist es auch so unmöglich, sich den Philosophen an sich vorzustellen, ohne eine Intelligenz verkündende Stirn dazuzudenken, die mindestens die Hälfte des Gesichts einnehmen muss und sich nach oben hin bis ins Unendliche weitet.

Hegel: Weltgeist-Hero oder widerlicher Scharlatan?

Da nun, hoffentlich, die Voraussetzungen hinreichend erörtet sind, unter denen sich das Genie in jene schwindelerregenden Sphären astronomischer Intellektualität emporschwingen kann, sei zum Trost für all jene, denen diese Möglichkeit genommen, darauf verwiesen, dass selbst die kühnsten Luftschiffer des Geistes, deren Schädel sich als geräumige Schatzkammern für geistigen Reichtum bewährten, bisweilen in allzumenschlichen Abgründen bruchlanden.

Schließlich ist auch der Philosoph, wie Schopenhauer zutreffend festgestellt hat, kein "geflügelter Engelskopf ohne Leib", sondern an einen Körper gebunden und dessen Wallungen unterworfen. Vielleicht war es daher weniger ein Urteil der reinen Vernunft als ein mit menschlichen Regungen amalgamiertes, das ihn eines Tages bewegte, folgende Zeilen über seinen verhassten (und deutlich erfolgreicheren) Widersacher zu Papier zu bringen: "Die größte Frechheit im Auftischen baaren Unsinns, im Zusammenschmieren sinnleerer, rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur in Tollhäusern vernommen hatte, trat endlich im Hegel auf." Während beispielsweise die "Stuttgarter Nachrichten" den wirkmächtigen Phänomenologen als "Weltgeist-Hero" oder gar "Philosophen-Gott" adeln, war er für Schopenhauer nicht mehr als ein "platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, welche von seinen feilen Anhängern als unsterbliche Weisheit ausposaunt und von Dummköpfen richtig dafür genommen wurden."

Weil das allein offenbar noch nicht beleidigend genug ist, um jenes dreiste Geschwätz abzukanzeln, das noch "den Verderb einer ganzen gelehrten Generation zur Folge" haben werde, prägte der mutmaßlich etwas neidische Schopenhauer, der in seinen Vorlesungen als Professor nur einen Bruchteil der Studierenden zu begrüßen hatte, erfolgreich den Begriff der "Hegelei": als Ausdruck für "unverständliche, mystifizierende Sprache, die den Eindruck von gedanklicher Tiefe, Komplexität und Wichtigkeit erzeugen soll, tatsächlich aber weitgehend inhaltsleer ist", wie Wikipedia aufklärt, was allenfalls minimalen "Erkenntnisgewinn ermöglicht und oft sogar im Gegenteil zu gedanklicher und begrifflicher Verwirrung führt".

Hegel hingegen wollte nie so recht auf derlei Provokationen eingehen, verfasste weniger polemische Tiraden als ganzheitliche Wissenschaft und erklärte auch noch, wie letztere leichter zu verstehen ist: "Der philosophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewöhnlichen Verhältnisses des Subjekts und Prädikats und des gewöhnlichen Verhaltens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben zerstört sein philosophischer Inhalt; die Meinung erfährt, daß es anders gemeint ist, als sie meinte, und diese Korrektion seiner Meinung nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders zu fassen."

Wo ein Edding liegt, ist das Pimmelbild nicht weit

Im Stuttgarter Hegelhaus, wo man sich gerade auf den 250. Geburtstag des Philosophen freut, den es im nächsten Jahr zu feiern gilt, bemüht sich eine Ausstellung aktuell darum, einen noch niederschwelligeren Zugang in die Hegelsche Gedankenwelt offenzulegen: Was wäre wohl, wenn man seine Tübinger WG mit Schelling und Hölderlin in die Gegenwart beamen könnte?, lautet die zentrale Frage. Im Keller gibt es daher viele Weinflaschen, im Obergeschoss noch mehr Bierkästen und eine Playstation mit einem Zitat von … Schiller? "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Aber passt schon. Hegel hat ja auch Sachen von Schiller gelesen, und daher fragt ein Zettel nun: Was hätte er wohl von Videospielen gehalten?

An den Wänden kleben gefühlt 6000 orange-rote Zettel mit dem Slogan "#geistesblitz", es soll ja attraktiv für die Jugend sein, und darum gibt es auch einen "Live-Philosophenpodcast" mit den Musikern der Orsons (Auszug: "Für mich ist Hegel, ich vergleich das mit einer Art Berg, wo ich immer, oft abrutsch und ich gar nicht so 'nen Eingang finde, man muss so kleine Höhlen finden, und es gibt aber die Möglichkeit, und zwar, indem man mit anderen Leuten ... spricht, weil, ähm, auch wenn's literarisch nicht wirklich, sag' ich mal, … ästhetisch ist für die heutigen Leser, weil die nur noch in 140 Zeichen irgendwas lesen, ist aber das Gedankengut ganz … toll. Brillant teilweise, richtig schön").

Wen das zu eigenen Geistesblitzen inspiriert, der hat im Erdgeschoss Gelegenheiten, selbige auf einer Holztafel für die Nachwelt zu erhalten. "Philosophie ist was für Trottel!", hat jemand draufgekritzelt, und nun pinkelt ein Penis auf die Aussage. Nebendran wird Nietzsches berühmtester Satz – "Gott ist tot" – Karl Marx zugeordnet, und auch hier, genau, ein Penis. "Das Gesetz des Phallus" hat einer aufgeschrieben, und kam – zack, bumm, #geistesblitz! – auf die Idee, ein paar Buchstaben im Wort "Phallus" durch, drei Mal dürfen Sie raten!, einen Penis zu ersetzen. Wieder einmal beweist sich:

Wo ein Edding herumliegt, ist das Pimmelbild nicht weit. Unterzeichnet wurde dieses Sammelsurium geistreicher Aphorismen, da war tatsächlich jemand originell, übrigens mit: "Liebe Grüße, Schopenhauer." Beleidigungen sind eben auch nicht mehr das, was sie mal waren. 


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