Zehn Jahre ist es her, dass der VfB Deutscher Meister wurde. Manch einer kam sich in den vergangenen Jahren wie sein eigener Großvater vor, wenn er von der guten alten Zeit erzählte, damals, als der VfB noch gewann, Thomas Hitzlsperger – alias "The Hammer" – den Stuttgartern zum Titel verhalf, und man ganz oben mitspielten konnte. Nie fand der VfB danach wieder ganz zu seiner Form. Es folgten Jahre der Kellerduelle in der ersten Liga, die schließlich mit dem Abstieg endeten – die Geschichte ist bekannt. Jetzt ist der VfB wieder wer, zumindest in der zweiten Liga. Zwei Spieltage vor Saisonschluss scheint der Aufstieg zum Greifen nah. Am 21. Mai könnten die Stuttgarter – auf den Tag genau 40 Jahre nach dem ersten Wiederaufstieg – die zweite Liga wieder verlassen.
Und jetzt? Cacau spielt nicht mehr, die Bäckerei backt vorerst noch keine Trikots, und von der großen Euphorie vor dem möglichen Aufstieg ist zumindest in der Kneipe im Stuttgarter Westen wenig zu spüren. Also suche ich weiter.
Ich erinnere mich an meine Großmutter. Sie verstand nicht viel von Fußball, doch wenn ihr VfB lief, saß sie da: Genüsslich zog sie an ihrer Zigarette und aschte in den geblümten Porzellanaschenbecher auf dem kleinen Beistelltisch mit der weißen Häkeldecke. Man muss kein Experte sein, um vom Fußball fasziniert zu sein. Zu größeren Spielen traf sie sich mit anderen Bewohnern des Altersheims, da stand dann Porsche an Mercedes – so nannten sie ihre Rollatoren – und gemeinsam feuerten sie die jungen Spieler auf dem Rasen an. Trifft sich die Gruppe Fußballfans womöglich heute noch? Nein, bedauert die Leiterin des Hauses, ihr sei nur eine Gruppe Kickers-Fans bekannt.
Mit Maxim nach einer reifen Avocado tasten
Dienstagabend, 2. Mai 2017, 19.30 Uhr, am Stuttgarter Olgaeck. Menschen schlängeln sich vom Eingang des Supermarkts an der Hauswand entlang. Eltern stehen geduldig mit ihren drängelnden Kindern hintereinander und warten auf Einlass. Denn drinnen sind Torschützenkönig Simon Terodde und Mittelfeldspieler Berkay Özcan, eine Stunde lang signieren sie Trikots, machen Selfies mit den Fans, unterschreiben Autogrammkarten, während Spielerkollege Alexandru Maxim ganz gemütlich im Laden einkaufen geht und an der Kasse noch kurz ein paar Autogramme verteilt. Neben Terodde an der Wursttheke stehen, mit Maxim nach einer reifen Avocado tasten, das muss schon ein besonderer Verein sein, der seine Fans dort abholt, wo sie nach Feierabend noch schnell sind. Oder gilt der Respekt eher den 400 Fans, die sich das nach Feierabend noch antun? Wie dem auch sei, endlich ist ein bisschen Stimmung zu spüren.
420 offizielle Fanclubs zählt der VfB, jährlich kommen zwischen fünf und zehn neue hinzu. Vom lesbisch-schwulen Fanclub "Stuttgarter Junxxx" oder der Frauengruppe "Stuttgarter Mädle" bis hin zum "Commando Cannstatt" oder dem "Schwabensturm". Nur ein Fanclub hat sich in der Spielzeit in der zweiten Liga aufgelöst.
Wer gründet einen Fanclub, kurz nachdem die Mannschaft, die man liebt, offensichtlich schlecht genug ist, um abzusteigen? Steffen Stauch zum Beispiel. "Echaz 1893" heißt der Fanclub für "alle Anhänger des VfB Stuttgart entlang der Echaz: Honau, Lichtenstein, Pfullingen, Reutlingen, Betzingen, Wannweil, Kirchentellinsfurt", heißt es auf der Facebook-Seite des Clubs. "In guten Zeiten kann ja jeder Fan sein", erzählt Stauch. Schon länger haben er und seine Freunde darüber nachgedacht, einen Fanclub zu gründen, doch als der VfB abstieg, war klar: "Jetzt müssen wir zusammenstehen." Seitdem steht der Gruppenchat der Freunde nicht mehr still, der VfB, die Hoffnung auf den Aufstieg, ist Thema Nummer eins. "Das ist schon toll, zu sehen, wie sich aus den Spielern in den letzten Begegnungen eine Mannschaft geformt hat, die zusammenhält. Und so machen wir's eben auch." Da ist er, der oft beschworene zwölfte Mann. Und die Bilder kommen wieder hoch: Auswärtsspiel gegen Nürnberg, am Samstag in der Kneipe. 20 000 Fans folgen den Schwaben nach Franken, und auf dem Platz, nach dem Siegtor in letzter Minute, tanzt die Mannschaft im Kreis, die Arme ineinander verschlungen.
Die Euphorie der Fans lässt niemanden unberührt
Nun will ich es wissen, will sie spüren, die große Aufbruchstimmung. Sonntag, 7. Mai, 12.00 Uhr, Mercedes-Benz Arena, gegen Erzgebirge Aue. Auf der Straße ergattere ich ein zu teures Ticket, Block 69 b, direkt über dem Gästeblock. Ich bin nicht begeistert, doch man nimmt, was es gibt. Das Spiel ist ausverkauft, schon wieder. 60 000 Zuschauer bei einem Zweitligisten. Im Schnitt schauten in dieser Saison mehr als 50 000 Menschen zu, schon jetzt ist klar, dass das ein neuer Ligarekord ist. Der Zweitligist versammelt mehr Fans als europäische Fußballriesen, wie Inter Mailand, FC Chelsea oder Ajax Amsterdam.
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Klaus Bremer
am 10.05.2017