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Auf der Straße

Verdammte des Verfalls

Auf der Straße: Verdammte des Verfalls
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Ich kam vom Waldlauf und wusch mich unter der Dusche mit einem Stück Bienenwachsseife, in der Hoffnung, dieser Stoff werde mir die Kraft geben, bis zum bitteren Ende wider den Stachel zu löcken. Blödsinn. Diese Redewendung hat nichts mit dem Stachel der Biene zu tun, vielmehr mit Ochsen, die sich weigern, den Pflug zu ziehen. Der aber ist mit dem scharfen Eisen eines Knüppels verbunden, der die Tiere verletzt, sobald sie meutern. Diese Sauerei finden wir in der Bibel – als lutherische Metapher. "Löcken" bedeutet: mit den Füßen ausschlagen, wofür nicht nur Ochsen hinter Pflugscharen gute Gründe haben.

Meine Füße sind nicht mehr das, was sie eh nie waren. Meine Waldlaufkraft hat nachgelassen, und dagegen helfen weder Bienenwachsseife noch die Unmengen Pferdesalbe, die ich mir jedes Mal nach der sportlichen Erniedrigung in meine malträtierte Lendenwirbelzone schmiere. Im gesicherten Wissen, dass diese Therapie so viel nützt wie ein Fußbad bei Vollmond. Aber dick auftragen kann nicht falsch sein in den Zeiten der Rosstäuscher. Näheres bei der FDP.

Noch ist das Alter für mich kein "Massaker", wie Philip Roth in seinem Roman "Jedermann" geschrieben hat, von Mal zu Mal aber erscheint mir mein Waldweg länger als die Strecke meines Restlebens. Über diese Sache an sich wird nicht gern geredet. Meine Auseinandersetzung damit beschränkt sich in der Regel darauf, mit einem grinsenden Totenkopf aus Mexiko auf meinem Schreibtisch herumzuspielen und selber zu grinsen. Der Skelett-Kerl ist aus Ton, nicht größer als eine Kaffeetasse, und identitätsstiftend trägt er einen Hut.

Altern im Anti-Aging-Kapitalismus ist für jeden Jedermann und jede Jedefrau eine Schmach. Immer, wenn ich auf die Frage, was ich denn so mache, mit der Enthüllung "Ich bin Rentner" reagiere, ernte ich Spott. Rentner ist ein Synonym für Trottel. Für Gartenzwerg. Das Wort Rentner ist verpönt. Wir sind Verdammte des Verfalls. Mich stört das allerdings nicht, ich weiß zu schätzen, dass niemand länger das Recht hat, mich als seinen Ochsen einzuspannen. Ich habe die Chance, was zu tun.

Selbstverständlich weiß ich, wie beschissen es vielen Rentnerinnen und Rentnern geht. Das Thema Altern = Armut riecht schlecht. Wirkt nicht cool in einer Kolumne, deren Titel "Auf der Straße" einen Vorwärtsdrang ahnen lässt – oder gar die Courage, wider den Stachel zu löcken. Vielleicht sollte ich die Kolumne umtaufen in Dead End Street.

Mit Totenköpfen auf AfD-Nazis

Der Verdacht, mein Hinweis auf das Massaker des tabuisierten Alterns hätte einen akuten persönlichen Anlass, wäre falsch. Auch ein Waldweg ist nun mal eine Straße, und mein Weg im Wald verändert mich. Ich hasse ihn. Dennoch fühle ich mich noch relativ gut zu Fuß, weil ich als Spaziergänger nicht dem Olympia-Wahn des Joggers verfallen bin. Nach wie vor ist es mir im allgemeinen Temporausch eine Freude, mich im Vorwärtsgang auf eigenen Beinen zu wissen. Fuck your E-Bike!

Ich spaziere an einer Tafel zur Erinnerung an Robert Walser vorbei. 1895/96 hat der Dichter in der Gerberstraße 2a eine Weile bei seinem Bruder, dem Maler Karl Walser, gewohnt und darüber den kleinen Text "Die Brüder" verfasst. Bei der Lektüre wird mir klar, warum das Spiel mit meinem toten Hutkopf unterbewusst größere Bedeutung hat, als ich ahnte: "Ach es ist vielleicht … hundert-, wenn nicht gar tausendmal schöner, seinen oder seines Bruders Hut aus dem Fenster fliegen und wirbeln zu lassen, damit Vorübergehende unten staunen, als ein vollendetes Gedicht zu schreiben, damit das Publikum staune."

Und wie wird das Publikum unten erst staunen, wenn unsereiner eine Ladung grinsender Totenköpfe mit Hut aus dem Fenster im dritten Stock fliegen lässt, damit es auf der Straße nur noch so kracht und scheppert. Da müssen doch die Vorübergehenden, sofern ich sie nicht tödlich treffe, endlich begreifen, wie endlich wir sind auf dieser Welt. Und dass wir etwas mit uns anfangen müssen, damit wir nicht schon vor unserem Ende am Ende sind. Deshalb werde ich grinsende Totenköpfe mit Hut auf Vorübergehende in der Absicht hinunterwerfen, jeden Fünften von ihnen zu treffen, immer den, der laut Umfragen die AfD-Nazis wählt.

Ich lese in Walser Buch "Der Spaziergang", darin heißt es: "Leuten, die in einem sausenden, staubaufwirbelnden Automobil sitzen, zeige ich immer mein böses und hartes Gesicht, und sie verdienen auch kein besseres." Diese verdammten Automobilisten sollen denken, er sei ein Polizist in Zivil und habe sie im Auge, "denn ich begreife nicht", dass es "ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist, vorüberzurasen. Als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln."

So erklärt sich mir die elende Raserei der Tollen im Stuttgarter Kessel, wo unsere schöne Erde ihrer Schönheit eine Pause gegönnt und die Stadt mithilfe nicht geerdeter, reichlich Staub aufwirbelnder Politiker den Immobilienhaien überlassen hat.

Schnappen und werfen bis zum Abgang

Am Kleinen Schlossplatz komme ich mit bösem und hartem Gesicht an Transparenten vorbei, die an einem Bauzaun hängen. Diese mit Cartoons in Gelb und Rot gestalteten Dinger wurden zur Warnung aufgehängt, sie fordern gutes Benehmen von Menschen, die man anscheinend nicht per Sie ansprechen muss, vermutlich Rentner. Auf einem der Lappen steht: "Nutze bitte eine Toilette! Ein Verstoß kann ganz schön teuer werden." Auf einem andern heißt es: "Freitags, samstags und vor Feiertagen von 20 Uhr bis 6 Uhr Videobeobachtung am Schlossplatz, Kleinen Schlossplatz und im Oberen Schlossgarten". Ich danke für diese Aufklärung, jetzt weiß ich, wann ich mich unbeobachtet an den Bauzaun stellen und ganz schön günstig pinkeln kann.

Auf solche Dinge müssen wir achten, wenn 2024 der Fußballsport in der Stadt Raum für Massenwahn einnehmen wird – bei der EM, die mich nur am Rande interessiert, weil ich mich nach unserem Aufstieg in die vierte Liga auf die Stuttgarter Kickers konzentrieren muss. Viele lachen über die Regionalliga, wie sie über Rentner lachen, weil sie kein Klassenbewusstsein haben. Und keine Ahnung vom Fußball.

Die Wahrheit über dieses Geschäft, das sich inzwischen Video-Scharfrichter in Darkrooms unter den Nagel gerissen haben, las ich in Don DeLillos 2020 erschienenem Roman "Die Stille"; er beschreibt das Szenario eines Welt-Blackouts. Da warten fünf Menschen vor dem Fernseher auf die Super-Bowl-Übertragung, das größte Ereignis im American Football. Vorab plaudern sie über den Fußball, wie er bei uns gespielt wird. "Hab's einmal geguckt, kurz. Dauernd die Scheißschwalben", sagt einer. "Was soll das überhaupt für ein Sport sein, wo du deine Hände nicht benutzen darfst? Bloß wenn du Torhüter bist, darfst du den Ball anfassen. Das ist eine Selbstunterdrückung des normalen Impulses. Hier hast du den Ball. Schnapp ihn dir und lauf dann los. Das ist normal. Schnappen und werfen."

Und das ist es, was das Massaker meines Restlebens erträglich machen wird: schnappen und werfen. Gegen die Selbstunterdrückung, ohne Schwalbe, ohne Rücksicht auf den Stachel. Das ist der Kick. Bis zum finalen Abgang.


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1 Kommentar verfügbar

  • Christoph Behrendt
    am 28.06.2023
    Antworten
    Wieder mal wunderbar geschrieben, Danke!
    Wobei nur anzumerken bleibt: „Rentner“ ist ja nur ein verwaltungstechnischer Bezugs-Zustand, der manchmal günstigeren Eintritt mit sich bringt. Aber „Rentner“ ist ja keine Daseinsform. Um mich herum habe ich nur lauter Best Ager! Also sicherstellen:…
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