In der Zeit, die man gemeinhin "zwischen den Jahren" nennt, habe ich gelesen. Hilft ja nix, sich die ganze Zeit aufzuregen darüber, dass im Alexandra Palace zu London bei der Darts-WM indoor, maskenlos und rabenstrack die Löcher aus dem Käse fliegen, während hierzulande Neujahrsspringen Nummer 100 der Vierschanzentournee in Garmisch-Partenkirchen ohne Zuschauer stattfindet. Oder dass Atomkraft und Gas jetzt zu den nachhaltigen Energien gezählt werden sollen. Oder dass wir unseren Fußballclubs die Kosten für unsere Dauerkarten spenden sollen, während deren angestellte Multimillionäre uns bei Instagram zeigen, wo sie überall Firstclass hingeflogen sind, um sich mit den neuesten Virusvarianten zu infizieren.
Lesen also, mit vollem Bauch und einem Glas Rotwein, da kam der gute 500 Seiten starke Wälzer "Die Spiele des Jahrhunderts" gerade recht. Die Autoren Roman Deininger und Uwe Ritzer gehören zum besten, was der deutschsprachige Journalismus zu bieten hat, und das Thema, nämlich die Olympischen Spiele 1972 in München, jährt sich ja nun heuer zum 50. Mal. Und was soll ich sagen – dieses Buch ist ein Schatz. Ganz leicht sich anlehnend an die Lebensläufe von vier Menschen, nämlich von Hans-Jochen Vogel, 1972 Oberbürgermeister von München, Willi Daume, damals NOK-Chef, Otl Aicher, der den Spielen als Grafiker die Farben gab und noch so viel mehr, und Architekt Günther Behnisch, der den Olympiapark schuf und zusammen mit Frei Otto das Olympiastadion, zeichnen die Autoren nicht nur eine Geschichte der Sommerspiele 1972 sondern sie erzählen beinahe das gesamte 20. Jahrhundert nach, grade als wäre das alles ein spannender Roman.
John Aki-Bua, der Erfinder der Ehrenrunde
Ohhhs und Ahhhs immer wieder beim Lesen, manches wusste man, vieles wusste man nicht oder hatte es vergessen. Ältere Jahrgänge können sich sicher an einiges erinnern, an die erstmals auch farbigen Telefone der Bundespost, an die Mannschaft der DDR mit eigener Flagge und Hymne, an das Farbfernsehen, an die bolivianische Mannschaft, die aus Unkenntnis glatt den Hitlergruß zeigt – und die jüngeren lernen umso mehr.
Wir begegnen John Aki-Bua, dem "Sohn eines ugandischen Ziegenhirten", der im Olympiastadion 1972 die Ehrenrunde erfindet. Wir staunen heute noch, wenn wir lesen, dass bei Olympia 1972 fast nirgends Werbelogos zu sehen waren, dass im Olympiapark damals fast immer die Sonne schien und auch sonst einiges durchaus vergleichbar war mit der Geschichte des Sommermärchens, also der Fußball-WM in Deutschland 2006. Vor allem in Sachen Stimmengeschacher bei der Vergabe und weiterer flankierender Maßnahmen finanzieller Natur.
Schrecklich, die Geschichte des furchtbaren Attentats der Terrorgruppe "Schwarzer September" auf die israelische Mannschaft mitsamt des stümperhaften Versuchs der Geiselbefreiung nochmals aufbereitet zu bekommen. Zum Haare raufen die Tatsache, dass ausdrücklich vor derartigen Aktionen gewarnt wurde, nicht nur mehrmals, sondern vielmals. Skurril geradezu, wie Ulrike Meinhof, damals inhaftiert in Köln-Ossendorf, die Ermordung der Israelis feiern kann. Der Gegensatz zwischen dem Glück der Spiele bis zum Attentat und der Schwere danach, sehr eindrücklich kommt das rüber.
Und viel mehr noch lernen wir. Wie Hitler 1936 "seine" Spiele bekommt, wie das US-amerikanische NOK unter Avery Brundage da den Steigbügel hält, wie die Nazis 1936 nur 40 Kilometer vom Berliner Olympiadorf, dem "Dorf des Friedens", das KZ Sachsenhausen errichten, wir erfahren von der wunderbaren Freundschaft zwischen dem Schwarzen US-Superstar Jesse Owens und dem Leipziger Weitspringer Luz Long. Mit Gustav Heinemann gehen wir durch die Jahrzehnte. Für die Autoren markiert seine Wahl zum Bundespräsidenten 1969 "noch vor Brandts Wahl das Erwachsenwerden der jungen Bundesrepublik."
Schmunzeln über die "Reichsgletscherspalte"
Ein wenig schmunzeln wir, wenn Carl Zuckmayer in einem Dossier an die US-Geheimdienste 1943 "Leni Riefenstahl – die Reichsgletscherspalte" schreibt. Oder wenn Hans-Heinrich Isenbart 1956 "Halla lacht" ruft, mit Hans Günter Winkler drauf, dem Goldmedaillengewinner mit dem Leistenbruch, der bei jedem Sprung schreit vor Schmerzen.
Wir wundern uns, dass "fast nichts durchsickert", als Vogel und Daume 1965 bei Kanzler Ludwig Erhard in Bonn sind, über die mögliche Olympiabewerbung Münchens und die Frage der Kosten sprechen. Wäre heute unmöglich.
Wir lesen von Willy Brandts erster Regierungserklärung, wo er sagt, "auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland". Und erinnern uns, dass es sich eigentlich doch schon sehr nach Ausland angefühlt hat, da damals hinzufahren. Und wir lesen von Erhard Eppler, der anlässlich des Todes von Gustav Heinemann diesem nachruft: "Ein solches Leben ist also auch in diesem Jahrhundert möglich. Es ist also nicht wahr, dass Politik nur aus taktischen Winkelzügen bestehen muss. Es ist nicht wahr, dass Macht korrumpieren muss. (...)." Und wir fragen uns, wem Eppler das wohl heute nachrufen könnte, wäre er noch am Leben.
Joe Biden war auch mal 29
Manchmal ist es ein regelrechtes Stakkato an Informationen, die auf uns einprasseln. Willy Brandts Wahlsieg mit sagenhaften 91,1 Prozent Wahlbeteiligung, sein neuer Referent Günter Guillaume, die Staatssekretäre West und Ost, Egon Bahr und Michael Kohl, unterschreiben den Grundlagenvertrag, die Gleichbehandlung beider deutscher Staaten bedeutet gleichzeitig den "Anfang vom Ende für die DDR", und sogar eine kurze Exkursion nach den US of A ist drin – nämlich zum 29-jährigen Rechtsanwalt Joe Biden, der seinen Konkurrenten bei den Wahlen zum Senat überraschend besiegt.
Am Ende der Lektüre ist der Kopf voll wie der Bauch nach einem guten Essen. Zufriedenes satt sein. So viele tolle, schockierende, überraschende, faszinierende Dinge hat man gelesen, dass jederzeit ein Zitat, eine Anekdote bereit liegt. Ein bisschen wie beim Asterix. Wer da als junger Mensch die Hefte eingesaugt hat, der kann sein Leben lang draus zehren.
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