Lesen, heißt es, sei reisen im Kopf. Mag sein. Fußreisen aber, da bin ich mir sicher, ist das Lesen der Welt. Du atmest sie sogar. Der New Yorker Spaziergänger Matt Green, der berühmteste Dauerläufer des gemäßigten Schritts, sagt: "So viele Dinge sind unsichtbar für die Menschen, die nicht zu Fuß gehen." Will man denn wirklich alles sehen? Ich mache keinen Kult aus dem Herumgehen, bin weder orthodoxer Beinarbeiter noch radikaler Müßiggänger – und in Wahrheit auch Straßenbahn- und Buspassagier. Unterwegs mit aller Welt.
Ich steige an der Bushaltestelle Libanonstraße aus. Dieser Name würde mir kaum auffallen, fände man ihn nicht an der Gablenberger Hauptstraße, die uns den Dorfcharakter der Autostadt Stuttgart vor Augen führt. Es gibt viel zu lesen an dieser Ecke. Gegenüber das verlassene Häuschen mit der verblichenen Fassadenschrift, die auf das Lebenskapitel eines Kohlenhändlers hinweist. In der Nachbarschaft die uralte Weinstube Träuble mit guter schwäbisch-österreichischer Kost. In der Ferne das Schild des China-Restaurants Palast; das Lokal hat lange auf Plakaten seine Pekingente als die beste der Stadt angepriesen, was unwidersprochen möglich war, weil ich nie Lust hatte, alle anderen besten Pekingenten in der Stadt zu testen.
Die Libanonstraße, 1913 so benannt, hat nur indirekt mit dem heutigen Libanon zu tun. Der Geologe und Anthropologe Oskar Fraas, im 19. Jahrhundert Direktor des Naturalienkabinetts, taufte nach einer Forschungsreise durch das Gebirge Syriens sein Haus "Villa Libanon". Von 1938 bis 1945 trug die Straße den Namen des Österreichers Georg Ritter von Schönerer, Führer eines nationalistischen Haufens und antisemitisches Vorbild des jungen Hitler. Nirgendwo, nicht mal in der Ära des virenbedingten Sicherheitsabstands, bist du sicher vor den rassistisch verseuchten Wahnfiguren.
Wenn ich jetzt noch erzähle, dass der frühere ARD-Nahostkorrespondent in Beirut, Gerhard Konzelmann, behauptet hat, er sei in dieser Libanonstraße geboren worden, gerate ich ins nächste trübe Fahrwasser: Dieser Herr wurde in den Neunzigerjahren als publizistischer Fälscher, unverfrorener Plagiator und sexistisch-rassistischer Märchenerzähler enttarnt (unter anderem von seinem im vergangenen April verstorbenen SWR-Kollegen Ulrich Kienzle). Vielleicht glaubt man mir jetzt, dass ein Vor-der-Haustür-Reisender wie unsereiner überall auf dem Asphalt was zum Lesen und Auflesen findet – eine Leidenschaft mit womöglich leicht krankhaften Zügen.
Diese Kolumne habe ich zuvor in einem Block mit einem Porträt von Frida Kahlo auf dem Deckel skizziert. Hingekritzelt im Regen vor dem Träuble mit einem Pelikan-Füller, den es wegen der Schulschließungen in der Pandemie-Krise sehr günstig zu kaufen gab. Den Block wiederum hatte ich vor ein paar Jahren nach einem Spaziergang durch Mexiko-Stadt erworben, als ich im Haus Frida Kahlos feststellte, dass ihr Vater aus Pforzheim kam. Damals habe ich mir geschworen, künftig auf Reisen außerhalb der Grenzen meines Rentner-Abos für den heimischen Nahverkehr zu verzichten. Es ist würdelos, durch Mexiko-Stadt zu gehen und in Pforzheim zu landen. Kommt doch aus diesem badischen Kaff auch ein Eintagsfliegen-Ministerpräsident namens Mappus, berühmt als Raging Bull.
Obacht, verehrtes Publikum. Mit diesem pauschalen Angriff auf eine mir eher fremde Stadt habe ich mich selbst rassistischer Vorurteile überführt. Das ist peinlich, weil ich mich seit langem bemühe, mir durch tägliche Hiebe gegen Schienbein und Stirnbein einen halbwegs human entgifteten Blick anzueignen. Unvergesslich für mich die Blamage, die ich mir vor Jahren einhandelte, als ich auf einem Straßenfest den mir bis dahin unbekannten Schwarzen Musiker Steve Bimamisa fragte: Sprichst du Deutsch? Antwort: Ich bin Deutscher wie du. An diese Dorftrottel-Panne erinnere ich mich oft, und nicht nur deshalb, weil ich seit diesem Tag auf der Straße zusammen mit Steve kleine Bühnensachen mache.
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Waldemar Grytz
am 17.06.2020