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Kontext-Sommerserie

Sehnsuchtsort Sylt?!

Kontext-Sommerserie: Sehnsuchtsort Sylt?!
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Sylt. Hach. Eine Insel zwischen Punks und Luxus, Fahrrad und Porsche-Cayenne-Bobbycars. Und dann noch geküsst von herrlich kitschigen Sonnenuntergängen. Unser Autor hat sein Herz an die friesische Insel verloren. Teil sieben unserer Sommerserie.

Sommergedanken

"Was für ein schönes Angebot!", hieß es vielfach, als wir unsere Autor:innen für unsere Sommerserie anfragten. Ob sie nicht ein Thema hätten, über das sie schon immer mal schreiben wollten? Selbstverständlich. Angesichts konkfliktvoller Zeiten wird nicht alles leicht und luftig werden. Rassismus und Systemkritik kommen vor, Armut und Lachen, aber auch Sylt und sogar das Videospiel Counter-Strike. Zum Auftakt haben wir Don Eulogio, eine echte Type in Mexiko-Stadt, vorgestellt. Dann ließen wir uns von einer geheimnisvollen Postkarte entführen, begleiteten eine Frau, die Inklusion tagtäglich lebt, staunten über Zufälle und Weichenstellungen. Mit Counter-Strike holten wir aus zum Gegenschlag, wir sinnierten über Kapitalismus und gefräßige Raubtiere. Folge sieben führt uns auf eine Insel der Gegensätze.  (red)

Vor ziemlich genau 18 Jahren ist der Kinderbuggy einmal quer über die Fußgängerzone von Westerland geflogen. Ziemlich spektakulär, ziemlich weit, verfolgt von fassungslosen Elternblicken. Und von verzweifelten Schreien und Schluchzern des Zweijährigen, der sein Lieblingsgefährt schon auf Nimmerwiedersehen entschwinden sah. Seine ruckartige Kopfbewegung beim rasanten Abgang des Buggys traf den Papa voll. Dessen Brille hielt der Verzweiflung des Sohnemanns nicht stand, ging prompt zu Bruch. Beule samt Kopfschmerzen schwollen erst später an. Das alles bei Sturmböen, peitschenden Regenschauern, 14 Grad, mitten im August. In einer nagelneuen und als solcher gebauten Familienunterkunft, die mit viel zu steilen Treppen, scharfen Kanten und noch nicht fertigen Spielplätzen absolut kleinkinduntauglich war. Alles in allem also nicht die besten Voraussetzungen für den Sylt-Premierenurlaub, schon gar nicht für eine Wiederholung.

Knapp 20 Jahre später ist Sylt trotzdem immer noch ein Sehnsuchtsort. Oder wieder? Oder wieder mehr? Zumal von Stuttgart aus, wo das Mittelmeer tatsächlich näher liegt? Es muss ja nicht unbedingt Westerland sein, wie von den Schickimicki-unverdächtigen Ärzten einst besungen, das ist Geschmacksache. Aber auf der immer wieder und mit jedem Jahr mehr vom Untergang bedrohten Insel gibt es eine ganze Menge Orte, an denen man gut sein kann. Vorausgesetzt, die Bahn hat es geschafft, den Hindenburgdamm zu bewältigen, was immer mal wieder aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht so ganz klappt.

Sundowner mit Heidelandschaft

Sylt ist toll. Die endlosen Strandspaziergänge, wenn nicht -wanderungen, kilometerlang den Weststrand rauf und runter. Zugegeben nicht immer alleine, aber das lässt sich zeitlich und örtlich ein bisschen selbst bestimmen. Die spannenden Wattwanderungen auf der anderen Seite. Die Einsamkeit des Ellenbogens ganz oben im Norden mit dem nördlichsten Punkt Deutschlands. Die Sonnenuntergänge von romantisch bis wild, die in gewisser Weise zu einem eigenen Geschäftsfeld geworden sind, gibt es doch inzwischen zig Sunset-Locations, die zum Sundowner locken. Die Vielfalt der Natur, egal ob Weltnaturerbe Wattenmeer, Dünen, Heidelandschaften, Salzwiesen, Rotes Kliff, Morsum-Kliff und mehr, alles auf engstem Raum und per Rad erreichbar. Wobei die Radwege in den paar Hauptsaison-Wochen fast zu schmal sind für die vielen Radler. Und zumal manche der Urlaubsradler das sichtlich öfter trainieren und üben sollten, als nur zwei-, dreimal auf Sylt.

Ja, Sylt ist so widersprüchlich und hakelig wie diese Geschichte. Hier die Luxushotels und -unterkünfte, dort die Erholungsheime für Kinder, Jugendliche und Familien als Rückzugsorte im Kampf gegen Krebs, Asthma oder einfach die Mühen des Alltags. Hier die geräumigen Nobelvillen mit Reetdach, dort die Probleme der Einheimischen und der vielen in der Tourismusbranche Beschäftigten, überhaupt und dann auch noch bezahlbare Wohnungen auf der Insel zu finden, statt tagtäglich vom und zum Festland zu pendeln. Deswegen geht der Kreis Nordfriesland gegen die vielen nicht genehmigten und manchmal auch überteuerten Ferienwohnungen vor, die eigentlich mal für ganz normale Wohnzwecke gebaut worden waren. Die Widersprüchlichkeiten lassen sich endlos fortsetzen. Bis hin zum Punksommercamp, mit dem Punks aus ganz Deutschland jedes Jahr gegen Gentrifizierung und soziale Ungleichheit protestieren. Die Ärzte und ihr Westerland-Song lassen grüßen.

Das schnieke Stuttgart gibt's auch auf der Insel

Sylt ist ein Prototyp für Kommerzialisierung, seit Jahrzehnten schon. Vielleicht lässt es gerade aber auch ein bisschen nach. Nicht alle, aber viele der zu ausgewachsenen Restaurants gewordenen "Strandbuden" haben Sponsoring-Partner in der Regel aus dem Luxussegment. Champagner-Kellereien sowieso, Hersteller von Luxusuhren, natürlich Automarken. Stuttgart ist dabei selbstredend stark vertreten. Breuninger und Herbert Seckler mit seiner Sansibar sind verpartnert, weswegen es unter anderem auch im Breuninger in der baden-württembergischen Landeshauptstadt eine beliebte Sansibar-Niederlassung gibt. Mercedes-Benz war viele Jahre Partner der Sansibar auf Sylt, inzwischen ist Porsche dort präsent. Und auf dem bei Familien so beliebten Sansibar-Spielplatz stehen jetzt Cayenne-Bobbycars statt der früheren SLK-Modelle zur Ausfahrt bereit. Die Marke mit dem Stern ist einige Kilometer weiter nördlich zur Sturmhaube in Kampen gewechselt, inklusive der Bobbycars.

Mercedes begründet das Sylt-Engagement so: "Sylt ist eine begehrte und in Deutschland einzigartige Reisedestination der Premiumkategorie. Für uns ist es deshalb wichtig, auf der Insel eine ,Homebase' zu haben, die Nachhaltigkeit, Luxus, Zeitgeist und das Außergewöhnliche repräsentiert.“ Deswegen gab es dieses Jahr in Kampen auch den "Sommerort", von einer Stuttgarter Agentur konzipiert, an dem Autos gezeigt und ausprobiert werden konnten, auch die elektrische G-Klasse, Preis um die 200.000 Euro. Ein Mercedes-Sprecher weiter: "Der große Zuspruch, die zahlreichen Kundenkontakte und die daraus entstandenen Leads für den Handel bestätigen uns darin, dass unsere Sylter Erlebnisorte eine wertvolle Entscheidung sowohl im Hinblick auf unser Image als auch auf die Kundengewinnung sind."

Sylt leidet ziemlich vielfältig

Spannend dabei: Dieser Sommerort liegt unmittelbar in Strönwai-Nähe, also dort, wo einst und manchmal auch heute noch Verbrenner-Fetischisten ihre hochmotorisierten Schlitten lautstark zur Schau ausfahren. An diesem Ort werden aber seit Jahren praktisch ausschließlich E-Autos vorgestellt und können probegefahren werden. Tesla, als die Marke noch neu und positiv besetzt war, war ganz früh da, BWM im vergangenen Jahr, Mercedes jetzt gerade. Das ist für Sylt in gewisser Weise überlebenswichtig, droht der Insel mit dem Klimawandel doch tatsächlich der Untergang. Gerade sind wieder Studien veröffentlicht worden, wonach sich der Meeresanstieg weiter beschleunigt, ausgelöst durch die höheren Temperaturen, die damit verbundene Ausdehnung des Meerwassers, die Eisschmelze. Die Insel ist an der engsten Stelle gerade einmal um die 600 Meter breit. Da kann schneller als man denkt mal was drüberschwappen. Höchste Zeit also, etwas fürs Klima zu tun, gerade auf Sylt, gerade beim Autoverkehr, erst recht bei Teilen der dortigen Klientel.

Sylt leidet also und das ganz vielfältig. Im vergangenen Jahr haben einzelne ausländerfeindlich grölende Partygäste ziemlich am Image gekratzt. Der betroffene Club Pony hat sich mehrfach davon distanziert und stellt heute schon draußen per Aushang klar: "RASSISMUS HAT HIER KEINEN PLATZ! Weder auf dieser Veranstaltung noch irgendwo sonst. Diskriminierung, Ausgrenzung oder rassistische Sprache werden nicht toleriert." Und: "SOLIDARITÄT STATT STIGMATISIERUNG. Wir stehen ein für eine Veranstaltung, auf der sich alle Menschen sicher, respektiert und willkommen fühlen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion. AWARENESS GEHT UNS ALLE AN!"

Und plötzlich gibt's Plätze im Nobelrestaurant

Die Insel leidet manchmal auch an sich selbst. Ein Gastronom reagiert ziemlich allergisch auf eine einfache Frage nach seiner Partnerschaft mit einer Luxusmarke. "Diese Mär von der Insel der Reichen und Schönen zu bedienen, sind wir leid", schreibt er. Wobei sein Personal manchmal dann doch damit umgehen muss. Szene in der Warteschlange vor der Getränke- und Essensbestellung des Strandrestaurants. Eine Frau ordert freundlich etwas zu trinken und zu essen, darunter ein Putenschnitzel. Die Restaurantmitarbeiterin: "Das Schnitzel ist aber ziemlich scharf gewürzt." Verständnisloser Blick der Bestellenden. Die Mitarbeiterin: "Nur falls Sie das für Ihren Hund bestellen wollen. Da haben sich schon Gäste beschwert, dass ihr Hund das nicht gefressen hat." Auch die Sylter Gastronomen können sich ihre Gäste halt nicht aussuchen. Und ein anderer einheimischer Gastronom, der schon ähnliche Begebenheiten erlebt hat, erzählt ganz offen, dass er auf diese Art Gäste gerne verzichten würde.

Sylt ist im Wandel, nicht nur, weil die Nordsee an der schönen Insel nagt. So viele Wohnungen und Häuser – ja, auch mit Reetdach – wie selten zuvor stehen zum Verkauf, wenn auch noch nicht ganz zu Preisen für Normalverdiener. Sylturlauber müssen nicht mehr schon Monate im Voraus Plätze fürs Abendessen in den beliebten Restaurants und Strandbuden reservieren, im Juli war auch kurzfristig noch was frei. Exorbitant teuer muss auch nicht sein, in der nördlichsten Fischbude in List gibt es Fisch auch für unter 15 Euro. Natürlich kann man sich hier wie andernorts für zig hundert Euro pro Nacht und Nase zur Ruhe betten. Es gibt aber auch kleine schnuckelige Appartements für zwei Personen beispielsweise in List für 49 Euro pro Nacht und Apartment, nicht pro Person, wenn auch nicht in der Hauptsaison. Von da sind es nur zwei Kilometer bis zum Weststrand – und den wildromantisch-kitschigsten Sonnenuntergängen ever. Dafür ist kein Weg zu weit, kein Foto zu viel!

PS: Die Ärzte haben 1988 (!) gedichtet (und auch bei einem Auftritt in Westerland gesungen): "Es ist zwar etwas teurer / Dafür ist man unter sich / Und ich weiß jeder Zweite hier / Ist genauso blöd wie ich". Vielleicht muss der Liedtext ja dann irgendwann auch mal umgedichtet werden.

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