KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Kontext-Sommerserie

"Sie verbiegen sich nicht"

Kontext-Sommerserie: "Sie verbiegen sich nicht"
|

 Fotos: Markus Leser 

|

Datum:

Gudrun Bosch aus Ravensburg begleitet Menschen mit Behinderung. Sie geht mit ihnen einkaufen, schenkt Geborgenheit und Selbstbewusstsein und organisiert auch mal eine Hochzeit. Besonders wichtig ist ihr, dass ihre Klient:innen ein selbstständiges Leben führen. Teil 3 unserer Sommerserie.

Sommergedanken

"Was für ein schönes Angebot!", hieß es vielfach, als wir unsere Autor:innen für unsere Sommerserie anfragten. Ob sie nicht ein Thema hätten, über das sie schon immer mal schreiben wollten? Selbstverständlich. Angesichts konkfliktvoller Zeiten wird nicht alles leicht und luftig werden. Rassismus und Systemkritik kommen vor, Armut und Lachen, aber auch Sylt und sogar das Videospiel Counter-Strike. Zum Auftakt haben wir Don Eulogio, eine echte Type in Mexiko-Stadt, vorgestellt. Dann ließen wir uns von einer geheimnisvollen Postkarte entführen. Folge drei begleitet eine Frau, die Inklusion tagtäglich lebt.  (red)

Die Wohnungen liegen mitten drin in den drei Gemeinden Rosenharz, Grünkraut und Bodnegg im Kreis Ravensburg. So sollen ihre Bewohnerinnen und Bewohner sichtbarer, ja bemerkbarer Teil der Gesellschaft werden und lernen, so viel wie möglich selbst zu erledigen. Gudrun Bosch, Diplom-Sozialpädagogin, betreut und begleitet die Menschen mit unterschiedlichen psychischen und geistigen Behinderungen. "Es ist ein Geschenk, dass ich mit diesen Menschen arbeiten darf", sagt sie.

In neun Wohnungen leben ihre Schützlinge zu zweit, einige zu dritt oder mehr zusammen in einem Projekt der katholischen Stiftung Liebenau in Ravensburg, das auf der Erkenntnis beruht, dass Menschen mit Behinderungen oft unter ihren Möglichkeiten in zentralen Einrichtungen untergebracht werden. Das Motto der Stiftung lautet aber "In unserer Mitte – der Mensch". Und so definiert sich auch das im Jahr 2002 konzipierte Projekt "Gemeindeintegriertes Wohnen".

Ein selbstständiges Leben

Ich treffe mich mit Gudrun Bosch und ihren Klienten Marcel und Fabian, die nur mit Vornamen genannt werden wollen. Einkauf beim kleinen Edeka in Grünkraut. Zwischen 100 und 170 Euro im Monat bekommt jeder zur freien Verfügung. Die können für ein paar Dosen Bier, für Zigaretten, Süßigkeiten oder einen Döner ausgegeben oder für etwas Teureres gespart werden. Dennoch haben die beiden für den gemeinsamen Einkauf nur eine kleine Summe von Gudrun Bosch erhalten. "Ein bisschen Unterstützung bei der Aufteilung ist nötig, weil einige die 170 Euro nicht einteilen können", erklärt sie. "Schon Kleinigkeiten können sie völlig verwirren. Wenn etwas, was sie immer kaufen, im Supermarkt nicht vorhanden ist zum Beispiel."

Was, frage ich Fabian und Marcel, könnt ihr ohne Begleitung alleine erledigen? Ein Rezept einlösen, einen Hausarztbesuch machen, aber auch das Feuerwehrfest besuchen oder das Konzert der Blasmusik. In der Wohnung über dem Rathaus zieht Marcel seine gelbe Schutzweste an. "Damit helfe ich der Polizei, den Verkehr abzusperren bei einem Fest. Ehrenamtlich." Gudrun Bosch schmunzelt. Ja, das mache er, allerdings ohne Absprache mit der Polizei. "Da hat sich ein Mensch mit einer tragischen Vergangenheit in eine bestärkende Rolle hineingelebt, mit der er Selbstverwirklichung erleben darf." Und dann erzählt Marcel, dass Vater, Onkel und Mutter gestorben sind. "Ich lebte in einer Pflegefamilie, die gewalttätig war. Davon habe ich eine krumme Wirbelsäule." Marcel ist nicht der einzige, ergänzt Gudrun Bosch, der physische und seelische Schäden erlitten hat, die bleiben.

Mal waren die Eltern überfordert, ließen das behinderte Kind spüren, dass es eine Last war. Andere waren schon als Kinder im Heim, oft unter erbärmlichen Bedingungen. Die Eltern, die sich um sie kümmerten, starben, niemand war mehr da, der sie versorgen konnte. Wieder andere wurden abgeschoben, von der Familie hören sie kein Wort mehr. Da ist diese Frau, die einen Brief von einer Behörde erhielt, die Mutter sei verstorben. Sie bricht in sich zusammen, weil niemand von den Verwandten sie informiert hat, weil sie sich nicht von der Mutter verabschieden konnte. Gudrun Bosch fährt mit ihr ans Grab, wo sie deren Bruder treffen. "Auf der Heimfahrt war sie zum ersten Mal gelöst."

Mit solchen Erfahrungen war es für Gudrun Bosch anfangs, 2004, schwer, die Zurückhaltung ihrer Klienten zu überwinden. Doch sie suchen, was sie nie hatten: Liebe, Wertschätzung, dass jemand ihnen vertraut, ihnen etwas zutraut. "Wenn sie das bekommen, lassen sie einen kaum mehr los. Hat man Urlaub, ist das für sie wie ein Loch, wie ein plötzlicher Verlust."

Das Recht, so zu sein, wie sie sind

Was durfte sie lernen von diesen Menschen? Dass sie sind wie wir. Sie empfinden Glück und Trauer, sie lachen und weinen. Sie suchen, was wir, die "Normalen", doch auch suchen, sagt Bosch – Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen und die Freiheit, besser: das Recht, so zu sein, wie man ist. Und da beginne das Anderssein. "Sie haben Schutzlosigkeit erfahren und sind deshalb sehr empfindsam. Sie sind liebesfähiger als wir, sie haben ungefilterte Emotionen, und die dürfen sie leben. Sie verbiegen sich nicht. Sie leben ihren inneren Rhythmus."

Die Arbeitswelt der meisten Menschen duldet so etwas nicht, für ökonomisches Wachstum braucht es keine Gefühle, sie werden den Menschen abtrainiert. Der Mensch ist Humankapital, der innere Rhythmus wird durch einen äußeren bestimmt. Was, frage sie sich, unterscheidet also Menschen mit geistiger Behinderung? "Ihr IQ ist niedriger, aber ihre Emotionen sind stärker, ungefiltert, authentisch. Am Fasching in Rosenharz zum Beispiel. Einer dirigiert und alle singen, einer macht Karaoke", erzählt Gudrun Bosch. Fabian trägt ein T-Shirt mit dem FC Rosenharz drauf. Der Fußballverein, mit dem er schon in Stuttgart gespielt hat und in Wilhelmsdorf. Fabian strahlt.

Es geht in diesem Projekt auch um Fremd- und Selbstbestimmung. Über Generationen herrschte in Heimen, in Pflegeeinrichtungen, insbesondere für "Behinderte", für "Asoziale", Verzicht, Härte, eiserne Disziplin. Die Bewohnerinnen und Bewohner hatten ein Stigma weg. Sie hatten nichts zu bestimmen, über sie wurde bestimmt. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das grundlegend geändert und im Projekt "Gemeindeintegriertes Wohnen" wird Integration gelebt. Das früher Undenkbare ist heute möglich, verbunden oft mit sehr grundsätzlichen ethischen Fragen. Etwa wenn Menschen mit Behinderung Sexualität miteinander haben wollen, sich verlieben.

Die jüngere Geschichte kommt mir in den Kopf. Im Ravensburger Spital wurden Frauen mit Behinderung zwangssterilisiert, noch bis in die 1980er-Jahre eine gängige Verhütungsmethode. Unter den Nazis wurde "lebensunwertes Leben" aus der ehemaligen Heilanstalt Weißenau bei Ravensburg, dem heutigen Zentrum für Psychiatrie, mit den "Grauen Bussen" in die Vernichtungsanstalt Grafeneck deportiert. Das Mahnmal der Grauen Busse von Horst Hoheisel und Andreas Knitz aus dem Jahr 2006 erinnert an diese Verbrechen.

Bosch organisiert auch mal eine Hochzeit

Ohne Scheu, sehr vorsichtig, redet Gudrun Bosch mit ihren Klient:innen über Verhütung. Über die Pille, die manche der Frauen nicht zuverlässig nehmen würden, als Alternative gebe es die Dreimonatsspritze. Eine Heirat hat sie mit einem Paar arrangiert, das Hochzeitskleid, das Brautauto. Der Standesbeamte hielt seine Rede in einfacher Sprache.

Gudrun Bosch versucht, ihre Klient:innen intuitiv zu begleiten, offen für oft wechselnde Stimmungen. Sie unterstützt sie dabei, mit Gegensätzen zu leben: zu sein, wie man ist, und zugleich mit Regeln klarzukommen, Verantwortung zu übernehmen und dadurch Selbstvertrauen zu entwickeln. Mit Arbeiten in Parks, in Gartenanlagen. Bei Edeka liegen abgepackte Holzscheite, die Fabian gespalten hat. Er strahlt. Und Gudrun Bosch sagt zum Abschied einen seltenen Satz: "Ich kann Menschlichkeit mit meiner Arbeit verbinden."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!