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Fingerglied abgebissen

Der Eindringling

Fingerglied abgebissen: Der Eindringling
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Als Edith S. aufwacht, fehlt ihr ein Stück vom Finger. Ärzte vermuten zunächst eine psychotische Selbstverstümmelung. Doch ein wildes Tier ist in ihre Wohnung im Stuttgarter Heusteigviertel eingedrungen.

Da war ein stechender, zerreißender Schmerz. Schemenhaft erinnert sich Edith S. (Name von der Redaktion geändert), wie sie in der Dunkelheit ihre rechte Hand vor die Augen geführt hat. Dann fiel sie in Ohnmacht. Zu Bewusstsein kommt sie erst wieder, als es am Morgen an der Tür klingelt. Eine Bedienstete ist für die Reinigung der Wohnung da, S. begrüßt sie und erwähnt schnell, dass ihre Hand höllisch weh tut. Die Haushaltshilfe schaut sie ziemlich ungläubig an und sagt dann verblüffend gefasst: "Edith, dir fehlt ein Stück vom Finger." Nicht nur die Kuppe, das ganze letzte Glied am Mittelfinger ist weg, der Knochen durchtrennt und die Wunde mit Blut verkrustet.

Im Stuttgarter Diakonie-Klinikum sorgt der Fall für Ratlosigkeit. Die Ärztinnen und Ärzte in der Notaufnahme ringen um eine plausible Erklärung. Sogar ein Experte für Verstümmelungen, der früher als Kriegschirurg in Jugoslawien gearbeitet hat, wird hinzugezogen – und sagt, so etwas habe er noch nie gesehen. "Es kam dann der Verdacht auf, dass ich mich in einem psychotischen Zustand selbst verletzt haben könnte", schildert S., die in dieser Situation ja ebenfalls an ihrem Verstand zweifelte. "Sie haben mich dann ganz schüchtern gefragt, ob sie mal meinen Magen röntgen dürfen." Doch der Bauch war leer. Auch die These, dass S. sich den Finger vielleicht nicht abgebissen, aber ihn schlafwandelnd mit einem Messer abgehackt hat, wurde zur Diskussion gestellt.

Das hält S. nicht für plausibel. Einerseits weil sie in ihrem Leben nie etwas davon mitbekommen hat, mal geschlafwandelt zu sein. Zum anderen ist sie Rechtshänderin. S. sitzt mit verbundener Hand an einem Tisch in ihrem Wohnzimmer und macht vor, wie kompliziert das wäre: Wenn sie hier mit ihrer schwachen Hand und einem Messer angesetzt hätte, welchen Winkel hätte es dann gebraucht für genug Kraft, um den Finger sauber zu durchtrennen? Zudem ist der fehlende Teil auch nicht mehr aufgetaucht. In den Augen von S. gibt es nur eine Erklärung: Ein wildes Tier ist in ihre Wohnung eingedrungen.

Inzwischen ist diese Annahme gesichert. Denn im Krankenhaus wurde zunächst eine Teilamputation des restlichen Fingers durchgeführt, damit die Hautlappen ordentlich zusammenwachsen können. Dadurch war ihre Hand gelblich eingesalbt. So wurden die leichten Kratzspuren am Unterarm der Frau zunächst übersehen. Zudem wurde bei der Erstbehandlung am 15. August eine Gewebeprobe entnommen – und bei der Auswertung tierischer Speichel festgestellt.

Aber was für ein Tier kommt dafür in Frage, einen Menschen in seiner Wohnung anzugreifen? S. lebt im Heusteigviertel im Süden der Stuttgarter Innenstadt, Wildtierattacken sind hier höchst unüblich. "Im Garten haben wir schon mal einen Fuchs gesehen", berichtet sie, "aber die klettern nicht auf Bäume." Vor 45 Jahren hat die Galeristin ihre Wohnung im Dachgeschoss gekauft – "als normale Leute so was noch bezahlen konnten" –, hier drei Kinder großgezogen, es ist ein pittoresker Altbau, entstanden um 1900. Im Garten steht eine ebenso alte Kiefer, die noch ein kleines Stück höher gewachsen ist als das Haus und mit einem Ast über das Dach ragt. Von dort aus ist es ein Leichtes, auf den Balkon zur Wohnung zu kommen. Die Tür stand, wie meistens im Sommer, über Nacht offen.

Waschbär unter Tatverdacht

S. beschreibt, dass sie sich am Tag vor dem Vorfall viel Zeit dafür genommen hat, eine ordentliche Tomatensauce anzusetzen: also zehn Kilo frische Tomaten einkochen und Unmengen an Knoblauch klein hacken. Nach ihrem Tag in der Küche versichert sie, sich die Hände gründlich gewaschen zu haben – aber sie glaubt, sie könnten trotzdem noch lecker gerochen haben. Vielleicht, spekuliert S., kam das Tier, während sie schlief, hat die Hand abgeleckt, womöglich habe sie im Schlaf eine Bewegung gemacht, um das Tier zu verscheuchen und dann kam es zu dem Biss?

Um den Kreis der Tatverdächtigen einzugrenzen, hat S. beim städtischen Wildtierbeauftragten Rat gesucht. Der sei, wie S. das Gespräch wiedergibt, weniger verwundert als die Ärzte gewesen – und habe vermutet, dass es wahrscheinlich ein Waschbär war. Denn die sind geübte Kletterer, verlieren auch in Großstädten zunehmend ihre Scheu. Und vor allem haben sie genug Bisskraft, um problemlos einen menschlichen Fingerknochen zu brechen.

Waschbären sehen recht possierlich aus – ihr Gebiss ist es nicht. Angriffe auf Menschen sind extrem selten, aber vereinzelt dokumentiert. Lokalmedien berichteten im August 2023 von einer Seniorin aus Kassel, die sich nicht mehr in ihren Garten traut, seit sie dort beim Lesen auf einer Liege von einem Waschbären in ihr Bein gebissen wurde. Solche Angriffe aus heiterem Himmel sind eine Rarität, üblicherweise neigen die Tiere bei der Konfrontation mit Menschen zur Flucht oder greifen nur an, wenn sie bedroht werden. Zu denken gibt allerdings ein jüngerer Fall aus New Jersey in den USA: Dort kam es im April dieses Jahres an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu Vorfällen, bei denen ein sehr aggressiver Waschbär erst einen Hund, dann einen Spaziergänger anfiel. Wie sich herausstellte, war das Tier an Tollwut erkrankt.

Für Deutschland ist diese Gefahr bislang als gering einzuschätzen: Nach Angaben des RKI ist die Republik seit 2008 tollwutfrei, das letzte Mal, dass bei einem Waschbären in Baden-Württemberg Tollwut festgestellt wurde, war 1976. Doch auch ohne akutes Infektionsrisiko könnte es sich lohnen, die Spezies im Blick zu behalten, sagt der Jäger Blasius Marx. Neben Privatleuten zählt auch die Stadt Stuttgart zu seinen Kund:innen. Die Waschbärenpopulation in der Region, sagt Marx, habe sich, seit er angefangen hat, vervielfacht. Das war 2018, und seitdem hat sich einiges verändert.

Gelupfte Dachschindel

Etwa beim Verhalten der Waschbären: Eigentlich kommen sie aus Nordamerika, waren in Europa nicht heimisch und wurden 1927 für die Pelzzucht nach Deutschland eingeführt. Seit ein Forstmeister vier von ihnen am hessischen Edersee ausgesetzt hat, verbreiten sie sich rasant, der WWF schätzt den Bestand der invasiven Allesfresser in Deutschland inzwischen auf 1,5 Millionen Tiere. Zunächst eher im ländlichen Raum und Waldgebieten angesiedelt, verbreiten sie sich zunehmend auch in Städten. Der Waschbär gilt als extrem anpassungsfähig, nistet sich auf Dachböden ein und hat hierzulande kaum natürlichen Feinde (Luchs und Wolf, bei jüngeren Tieren auch Adler, Fuchs und Uhu).

Laut Jäger Marx haben die Tiere bemerkt, dass ihnen selbst die Großstadt wenig gefährlich wird, die eigentlich nachtaktiven Tiere seien immer häufiger am helllichten Tag zu sehen. Und sie würden im urbanen Setting deutlich an Gewicht gewinnen. Normalerweise wiege ein ausgewachsener Waschbär zwischen acht und neun Kilo, sagt Marx. Vergangenen Dezember sei ihm einer in die Lebendfalle gegangen, der es auf satte zwölf Kilo gebracht hat. Marx führt das auf Mülltonnen voller Essensreste zurück, die für einen Waschbären in aller Regel leicht zu öffnen seien. Er rät dazu, zu handeln, bevor das Problem außer Kontrolle gerät.

Denn auch Marx hatte bereits eine Kundin aus Stuttgart, die von einem Waschbären attackiert wurde. Und – auf Basis unbestätigter Gerüchte, wie der Jäger betont – habe er von einer Dame gehört, deren Hund beim Gassi gehen tödlich verletzt worden sei. Einen Beleg für den Fall gibt es nicht. Grundsätzlich hält es der Jäger aber für gut möglich, dass so etwas passiert. Erst im Februar dieses Jahres berichtete das "Westfalen-Blatt" über einen Vorfall in Werther, Kreis Gütersloh: Ein Jäger mit Jagdhund (Deutsch Drahthaar) verfolgte einen Waschbären, der in ein Gewässer flüchtete. Als der Hund ihm folgte, soll der Waschbär seinen Kopf so lange unter Wasser gedrückt haben, dass der Hund ertrank.

Wer auf Nummer sicher gehen will, bekommt von Jäger Marx den Ratschlag: Katzenklappen dichtmachen, Fenster und Türen geschlossen halten. Allerdings könne der Waschbär dann immer noch über das Dach ins Haus kommen: "Der Waschbär lupft die Dachschindel und arbeitet sich durch die Dämmung etc. hindurch und kommt so in das Haus. Deshalb keine Gründe anbieten, dass der Waschbär Interesse bekommt. Das bedeutet: keinen Komposthaufen betreiben. Obst und Gemüse abernten. Keine Tierfütterungen im Garten. Keine Abfälle und Essensreste liegen lassen."

Vereinte Hausgemeinschaft

Gerne hätte Kontext auch den Stuttgarter Wildtierbeauftragten nach Einschätzungen befragt. Aber bei der Landeshauptstadt läuft es so, dass alle Kommunikation mit der Öffentlichkeit über die Pressestelle erfolgt. Eine schriftliche Anfrage zum Waschbärenbestand im Stadtgebiet und dazu, welches Konzept die Verwaltung in dieser Sache verfolgt, konnte bis zum Redaktionsschluss nicht beantwortet werden.

Edith S. hofft indessen darauf, dass sie vielleicht von ihrer Unfall-Versicherung ein bisschen Geld bekommt, davon würde sie robuste Fliegengitter finanzieren. Die Balkontür bleibt jetzt über Nacht geschlossen. Ihre Karriere als Galeristin startete sie vor knapp 40 Jahren mit dem Verkauf antiker Teppiche, sie weiß, wie man Textilien restauriert. Bei den Bewegungen mit der Nadel muss sie sich erst noch umgewöhnen, sagt sie, aber insgesamt komme sie zurecht. Unten, im Erdgeschoss, lebt ein Chirurg, der sei kreidebleich geworden, als er S.s Hand gesehen hat. "Und er hat gerufen: Wenn mir so etwas passieren würde, wäre ich bankrott – berufsunfähig!" Der Vorfall hat zu einer neuen Einigkeit der Hausgemeinschaft beim Umgang mit dem Garten gesorgt: Wo die alte Kiefer gestutzt werden soll, habe immer für große Diskussionen gesorgt, versichert S. Nun sei der einstimmige Beschluss, dass die Äste über dem Dach wegmüssen, schnell gefallen. Auch Nachtbildkameras sind installiert worden, um im Blick zu behalten, wer und was sich da so im Garten herumtreibt.

Ihre Hand tut noch weh, sagt S., aber sie ist zuversichtlich, dass es besser wird. Schon bald will sie Kunst in London ausstellen. Der Schock ist noch da, aber zugleich ist sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt erleichtert, nicht den Verstand verloren zu haben. Und so möchte sie davor warnen, dass mitten in der Großstadt, in ihrem Zuhause seit fast einem halben Jahrhundert, etwas passieren kann, das sie nie für möglich gehalten hätte.

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