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Stuttgarter Schätze

Der ominöse Rattenkönig

Stuttgarter Schätze: Der ominöse Rattenkönig
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Ein Rattenkönig ist eine wahre Rarität: Nicht mal zehn Museen auf der Welt stellen einen zur Schau. Gerüchten zufolge soll es auch in Stuttgart eines dieser rätselhaften Rattenknäuel geben. Kontext hat die grässliche Kreatur mit grausamem Schicksal aufgestöbert.

Die Menschheit muss irgendwo in ihrer Entwicklungsgeschichte falsch abgebogen sein, das ist mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse offensichtlich. Und vermutlich reicht der entscheidende Fehler ungefähr 25 Millionen Jahre zurück, als der dümmere Teil der Primatenfamilie anfing, das Ende seiner Wirbelsäule auf ein kümmerliches Steißbein zu reduzieren, das keine Funktion mehr erfüllt außer beim darauf Stürzen weh zu tun. Wer hingegen dem Marsupilami zusieht, wie es mithilfe seines multifunktionalen Schwanzes durch den Dschungel schwingt, ohne dabei von tiefer Sehnsucht ergriffen zu werden, muss ein Großraumbüro im Herzen tragen.

Trost spendet allenfalls, dass uns dieser unverschämte Irrweg der Evolution davor behütet, eines Tages so zu verenden wie ein Rattenkönig: Als an den Enden der langen Schwänze fest verbundenes Knäuel mehrerer Tiere. Ein rätselhaftes Phänomen, um das sich so manche Mythen ranken. Im siebten Band des "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" von 1936 ist von einem alten Volksglauben zu lesen, wonach bisweilen auf einer Gruppe von Ratten "ein Rattenkönig geschmückt mit goldener Krone thront und von hier aus den ganzen Rattenstaat regiert". Der Gelehrte Alfred Reh seufzte 1929 über die kursierenden Vorstellungen: "Was hat nicht alles die Fabel aus dem an und für sich abstoßenden Rattenknäuel gemacht, unbekümmert um die naturwissenschaftlichen Grundlagen!" In Geschichten und Legenden trete der Rattenkönig demnach als vielköpfiges Ungetüm auf, "ähnlich der Hydra oder dem Haupt der Medusa", und seine "königliche Würde bestünde insbesondere darin, daß er als ein Oberhaupt unter anderen Ratten präsidiere, sich von selbigen ernähren und sich nach seinem Gefallen bald da, bald dorthin auf dem Rücken seiner Bedienten transportieren lasse".

Was sich das Volk als glanzvolle Herrschaft ausmalt, hat mit der Wirklichkeit jedoch wenig Berührungspunkte: Denn die real existierenden Rattenkönige, derer man bislang habhaft werden konnte, sind ihrer generellen Würde beraubt, zum Regieren eines Rattenstaates unfähig und in ihrer Mobilität stark eingeschränkt: Es handelt sich um eine dem Tod geweihte Schicksalsgemeinschaft, ein hierarchiefreies Kollektiv gleichermaßen hilfloser Individuen, deren Schwanzenden unentwirrbar verknotet sind. Wobei über die Ursache der Verknotung die wildesten Spekulationen kursieren. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens referiert den Wissensstand seiner Zeit und spricht von einer Krankheit, bei der Ratten "wie man annimmt, infolge einer eigentümlichen Ausschwitzung der Schwänze zusammenwachsen".

Ein Geständnis aus dem Grab

Viel schlauer geworden ist die Forschung bislang nicht: Wie genau ein Rattenkönig zustande kommt, bleibt ein ungelöstes Mysterium. Skeptische Stimmen bezweifeln, ob natürliche Ursachen in Frage kommen, und ziehen stattdessen Menschenhand und "postmortale Verklebung" in Betracht. Matthew Combs etwa, promovierter Evolutionsbiologe und Experte für Ratten in urbanen Gebieten, bezeichnete es 2016 als durchaus möglich, dass Rattenkönige "nur ein Mythos sind, den ein paar Leute mit gefälschten Beweisen verbreiten". In der Tat erscheinen ein paar Begleitumstände der bekannten Rattenkönigfunde dubios: Von weltweit weniger als 60 dokumentierten Fällen innerhalb der vergangenen 400 Jahre stammt mehr als die Hälfte aus Deutschland. Und zumindest der Maler Johann Adam Fassauer steht dabei im dringenden Tatverdacht, Ende des 18. Jahrhunderts einen Rattenkönig gefälscht zu haben.

Fassauer, der Überlieferungen zufolge andauernd in finanziellen Nöten steckte, präsentierte 1774 in Lindenau einen Rattenkönig gegen Eintrittsgeld. Laut zeitgenössischen Quellen sollen Besucher:innen in Strömen herbeigeeilt sein, und der Maler habe damit gutes Geld verdient. Als jedoch Zweifel an der Authentizität der Attraktion aufkamen, wurde ein Gutachten aus Leipzig angefordert, in welchem der ausführende Arzt bemerkt, dass der Schwanzknoten der verknäulten Tiere recht locker saß und es ihm wohl nicht schwer gefallen wäre, "einige der verwickelten Schwänze auseinander zu zerren, wovon ich aber von dem dabeistehenden Maler mit einigem Unwillen abgehalten wurde". Trotz des Argwohns gegenüber der Echtheit verbreite Fassauer später Kupferstiche seiner angeblichen Entdeckung. Einer davon fand Einzug in die Sammlung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig und trägt im Untertitel die vom Maler selbst hinzugefügte Bemerkung: "Nach der Natur gezeichnet von Fassauer."

Neben Verdächtigten gibt es auch ein Geständnis aus hochrenommierter Hand: Der 1905 verstorbene Zoologieprofessor Hermann Landois, Gründer des Westfälischen Provinzialmuseums für Naturkunde in Münster, bekannte in seinem Nachlass, niedergeschrieben in einer auf Latein verfassten, gesiegelten Urkunde, ein "weltbekanntes Original" im Oktober 1883 dadurch hergestellt zu haben, dass er zehn junge Wanderratten getötet und in sternförmiger Anordnung mit den Schwänzen verknotet habe.

Wie groß ist die Rattenkönig-Dunkelziffer?

Neben denjenigen, die alle je gefundenen Rattenkönige als Fälschung abtun, gibt es – vor allem in Deutschland – zahlreiche Wissenschaftler:innen, die von einem natürlichen Entstehungsprozess überzeugt sind: So sollen klebrige Substanzen wie Blut und Kot die Bildung eines Rattenkönig insbesondere dann begünstigen, wenn die betroffenen Ratten in eingeengten Verhältnissen zusammengepfercht leben müssen. Als Koryphäe der Rattenkönigforschung galt der Biologe Albrecht Hase, der eigentlich auf Insekten spezialisiert war. So erschienen von ihm die Publikationen "Die Bettwanze – ihr Leben und ihre Bekämpfung" (1917) sowie der Aufsatz "Beobachtungen und Untersuchungen über die Verlausung der Fronttruppen" in der Deutschen Militärärztlichen Zeitschrift (1916).

Kleine Kulturgeschichte des Rattenkönigs

Der älteste schriftliche Beleg für die Verwendung des Begriffs "Rattenkönig" findet sich 1524 bei Martin Luther, der den amtierenden Papst als einen solchen schmähte. Wahrscheinlich bezog sich Luther jedoch weniger auf das Phänomen, das heutzutage mit dem Rattenkönig verbunden wird – der früheste dokumentierte Fund eines solchen Knäuels datiert auf 1564. Luther schien einfach nur eine große Allegorie sprachlich konsequent zu Ende zu führen, in der Kardinäle zu "Rattengeschmeiß" und Klöster zu "Rattennestern" erklärt wurden: "Die erzbischoven (haben) einen primaten über sich, die primaten einen Patriarchen über sich, zuletzt obenauf der papst, da sitzt der rattenkönig."

Auch auf die Popkultur hatten die Mythen um den Rattenkönig Einfluss: So tritt in einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann ein siebenköpfiger Mäusekönig als Antagonist des Nussknackers auf. Im Videospiel "The Last of Us: Part II" gibt es einen Boss-Gegner namens Rattenkönig, ein aus mehreren mutierten Körpern zusammengesetztes Mischwesen. Eine tragende Rolle spielt ein Dutzend "in verschiedenen Stadien der Verwesung, an den Schwänzen zusammengewachsener Ratten" auch in Regina Mars’ 2023 erschienenem Fantasy-Roman "Rendezvous mit dem Rattenkönig".  (ms)

Als Militärbiologe entwickelte Hase zusammen mit dem Toxikologen Ferdinand Flury Zyklon A, Vorläufer des im Holocaust eingesetzten Giftgases Zyklon B. Daneben sammelte Hase ab 1914 alte Zeitungsausschnitte, Literaturstellen und Sonderdrucke, die Rattenkönige thematisieren, richtete 1915 eine Umfrage an Museen, Institute, naturwissenschaftliche Vereine, Tierausstopfer und weitere Personen, sammelte Fotos von Präparaten und Zeichnungen. "Die Erfüllung der nicht nur von uns immer wieder an ihn gerichteten Bitte, das Ergebnis seiner Bemühungen zusammenfassend darzustellen, hat Hase bedauerlicherweise immer wieder hinausgeschoben, bis ihn dann der Tod am 20. November 1962 ereilte", schreiben die Zoologen Kurt Becker und Heinrich Kemper in "Der Rattenkönig – Eine monographische Studie" (1964). Leider habe sich das vom dahingeschiedenen Hase überlassene Material als unvollständig erwiesen.

Auf dieser Grundlage stellten Becker und Kemper eine Auflistung von "37 echten Rattenkönigen" auf, die im Laufe der Jahrhunderte in Mitteleuropa gefunden worden seien – und ordnen die "geringe Zahl" ein: "Dass dies alle Rattenkönige gewesen wären, die sich jemals spontan gebildet hätten, wird niemand ernsthaft annehmen wollen." Dem Autorenduo zufolge müsse von einer riesigen Dunkelziffer ausgegangen werden, da ein Rattenkönigfund gemeinhin als böses Omen gegolten habe, das zum Beispiel eine große Seuche ankündige. Somit mutmaßen Becker und Kemper, dass viele Rattenkönige stillschweigend auf einem Müllhaufen gelandet seien und man eine solche Entdeckung in der Regel wohl verschämt geheimgehalten habe.

Zur Wärmeökonomie deutscher Nestgemeinschaften

Sie führen auch eine Erklärung an, warum Rattenkönige so gehäuft in Deutschland auftreten. "So scheinen die Gegebenheiten für die Bildung eines Rattenkönigs im mediterranen Raum viel ungünstiger zu liegen und vor allem durch den Freilandaufenthalt der Ratten viel seltener oder gar nicht zur Beobachtung zu kommen", wohingegen die "winterliche Kälte, welche die Tiere bei uns aus wärmeökonomischen Gründen zu engen Nestgemeinschaften zusammenführt", eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen spielen solle.

Doch selbst, wenn man diesen Erklärungsansatz durchgehen lässt, werfen viele Beispiele, die Kemper und Becker als echten Rattenkönig anführen, Fragen auf. So ist etwa ein Fund vom 2. Juni 1949 als gesichert dargestellt, bei dem drei noch lebende, brezelförmig verknotete Ratten auf dem Boden eines Eimers in einer Berliner Fabrik entdeckt wurden. Der Finder selbst gab an, das für einen schlechten Scherz gehalten zu haben. Weil er von Tierquälerei ausging, entknotete er daraufhin die Schwänze, bevor sie einer wissenschaftlichen Inspektion unterzogen werden konnten. Becker und Kemper halten außerdem fest: "Wie nachträglich noch festgestellt werden konnte, befanden sich am Grunde des Feuereimers kurze Enden von Bindfäden (Sackbänder). Bei der Protokollierung des Falles wurde jedoch leider nicht danach gefragt, ob diese Bindfäden auch mit in den Schwanzknoten eingeflochten waren."

In zahlreichen anderen dargestellten Fällen sollen die Rattenkönige zwar noch lebend gefunden worden sein – aber immer wurden sie erschlagen, bevor Fachleute sie unter die Lupe nehmen konnten. So auch bei einem Fund im badischen Zaisenhausen im März 1837: Der Entdecker gab an, gerade erst vier Ratten erschlagen zu haben, da hörte er weiterhin seltsame Geräusche in seiner Mauer. Im Gemäuer habe er daraufhin einen Klumpen lebender Ratten entdeckt, der offenbar von seinen Artgenossen durchgefüttert wurde, da er selbst ganz und gar bewegungsunfähig gewesen sei. Ein Arzt aus Eppingen konservierte den Fund in Alkohol und schickte ihn zur Begutachtung an Karl Christian Gmelin, den Direktor des Karlsruher Naturalienkabinetts. "Von dort bekam er aber nur das leere Paket ohne Antwort zurück", schreiben Kemper und Becker über den weiteren Werdegang. "Gmelin ist kurz darauf, am 26. Juni 1837, gestorben, und von dem Schicksal des Rattenkönigs war daraufhin nichts mehr zu erfahren."

Stuttgart versteckt seinen Rattenkönig

Durch ähnliche und andere Unglücksfälle gibt es heute weltweit nur neun bekannte Rattenkönigpräparate, von denen sich vier in Deutschland befinden. Ein Fund stammt aus der Gemeinde Flein bei Heilbronn, Schultheiß August Schilling höchstpersönlich will den Rattenkönig im Mai 1829 lebend in seinem Haus entdeckt haben (verdächtig viele Rattenkönige wurden von Bürgermeistern, Ortsvorstehern, etc. gefunden). Wie aus Albrecht Hases Notizen zu dem Präparat hervorgeht, seien an den Schwänzen "keinerlei Verklebungen oder Verwachsungen, sondern nur eine Verknotung" ersichtlich.

Auf Bitte von Becker und Kemper wurde das Präparat, das sich zu diesem Zeitpunkt im Staatlichen Museum für Naturkunde, Stuttgart, befand, 1964 nachuntersucht. Dabei fiel auf, dass die Schwänze mit einem Faden zusammengehalten werden. Kemper und Becker folgern: "Wann diese Manipulation, welche offensichtlich zur besseren Erhaltung des Schwanzknotens erfolgt ist, vorgenommen wurde, ist unbekannt. Nach Art der Präparationsweise und des verwendeten Aufbewahrungsglases geschah dies sicher erst nach der Einlieferung."

Trotz der extremen Seltenheit scheint das Stuttgarter Naturkundemuseum in seinem Rattenkönigpräparat kein Pfund zu sehen, mit dem es wuchern möchte. Eine Anfrage der Redaktion führt zunächst zu Verunsicherung in der Pressestelle. Wenige Tage später folgt dann die Bestätigung: "Ja, ein solches Objekt befindet sich in unserer Sammlung." Allerdings werde es derzeit nicht öffentlich ausgestellt, und von entsprechenden Absichten sei bislang auch nichts bekannt.

Zuletzt bleibt die Frage offen, ob es sich beim Rattenkönig überhaupt ein naturkundliches und nicht eher um ein kulturgeschichtliches Phänomen handelt. Laborversuche erwiesen sich in dieser Hinsicht als wenig aufschlussreich. So berichtet der niederländische Forscher Dr. G. Wiertz im Jahr 1965 von "Experimenten zur Bildung eines 'Rattenkönigs'". Der Versuch bestand darin, sieben Schwänze lebender Ratten mit Gummi zusammenzubinden und dann zu verkleben. Das habe dann auch gut gehalten, berichtet Wiertz. "Die Tiere gerieten aber wegen der Behinderung in große Erregung", stellt er fest, die Ratten fügten sich selbst und anderen Bisswunden zu und "entwickelten auch gegenseitig eine heftige Aggressivität". Als eines der Tiere freikam, indem es den eigenen Schwanz abbiss, "beendeten wir den Versuch". Wiertz mutmaßt, es könne an der generellen Aggressivität der eingesetzten Rattenart gelegen haben, und verspricht sich mehr Erfolg mit zahmeren Hausratten, derer er nun für Folgeversuche habhaft werden wolle. Ein Glück für das Rattentum, dass von weiteren Experimenten nichts bekannt ist.

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