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New York, Brüssel, Münsingen

Mit dem Damenrad zum Horizont

New York, Brüssel, Münsingen: Mit dem Damenrad zum Horizont
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 Fotos: Julian Rettig 

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Datum:

Gustav Mesmer, der "Ikarus vom Lautertal", wollte mit seinem Fahrrad fliegen können. Geschafft hat er das nie. Dafür reiste eine Ausstellung seiner Flugapparate bis nach New York City. Nun ist sie in der Zehntscheuer Münsingen zu sehen.

Gustav Mesmer hat Räder gebaut, auf denen er durch die Luft fahren wollte. Sie trugen ihn tatsächlich hinaus in die Welt. In Oberschwaben hat er sein Leben zugebracht, in Anstalten der geschlossenen Psychiatrie, ein Mann, der sich querstellte, an seinen Träumen festhielt. Längst gibt es eine Stiftung, die seinen Nachlass sichert, längst waren seine Werke in New York und Paris. Nun sind sie heimgekehrt. Zum ersten Mal seit 36 Jahren ist in der Zehntscheuer Münsingens eine große Ausstellung zu sehen, die den sehr eigenwilligen Kosmos des Gustav Mesmer zeigt.

Ein Künstler wollte er niemals sein. Er sah sich als Erfinder. Geboren wurde Gustav Mesmer 1903 in Altshausen, einer Gemeinde im Landkreis Ravensburg. Er arbeitete als ein sogenannter "Verdingbub" an Gehöften der Umgebung, leistete als billige Hilfskraft schwere Arbeit. Mesmer ließ sich überreden, einem Kloster beizutreten, ging nach Beuron. Mit großen Erwartungen: Der junge Mann vom Dorf war wissbegierig, wollte lernen, eine Ausbildung beginnen. Und er wurde enttäuscht. Auch in Beuron wurde er nur als billige Arbeitskraft behandelt. Nach sechs Jahren verließ er das Kloster. Er begann eine Lehre zum Schreiner. Dann kam der Eklat: 1929 störte Gustav Mesmer eine Konfirmationsfeier und nannte die Religion einen Schwindel. Das brachte ihn in die Anstalt, nach Schussenried. Erst 35 Jahre nach dem Vorfall wurde er entlassen. Seine Diagnose: "Paranoide Schizophrenie".

Als Insasse einer psychiatrischen Anstalt überlebte Gustav Mesmer den Nationalsozialismus. Nicht weit von Schussenried, in Grafeneck, wurden Tausende von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen ermordet. Mesmer unternahm zwar zahlreiche Fluchtversuche, galt aber als umgänglicher Mensch und vor allem als guter Arbeiter. Wieder wurde er ausgenutzt, dieses Mal rettete es ihm das Leben.

Mesmer bearbeitete alles, was ihm in die Hände fiel

In Schussenried begann Mesmer, an Fluggeräten zu basteln. Er malte, er schrieb. 1949, nach Ende des Krieges, bat er um Verlegung in das psychiatrische Landeskrankenhaus Weissenau bei Ravensburg. "Er hatte alles mitbekommen", sagt Stefan Hartmaier, der durch die Ausstellung führt. "Er kannte sie alle und wollte die Gesichter von denen nicht mehr sehen, die für die Tötungen verantwortlich waren."

Hartmaier wuchs auf in Apfelstetten, nicht weit von Buttenhausen, in dem Gustav Mesmer seine letzten Jahre verbrachte. "Er lebte in einem offenen Heim und hatte dort eine Werkstatt, in der er Korbsachen herstellte, die in der Umgebung sehr beliebt waren", erzählt er. "Abends oder am Wochenende hat er dann seine Fluggeräte aufgebaut. Es gab einen Platz im Wald, an dem er eine Hütte hatte. Von dort aus kam er herunter mit seinen Flugapparaten."

In Buttenhausen, nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie, konnte Gustav Mesmer sich entfalten. Und er schien unermüdlich. Kein Ding, das ihm in die Hände kam, blieb unbearbeitet. Besaß er einen Aquarellkasten mit einer eingebauten Palette, musste er sich eine eigene bauen. Seine Fototasche bemalte er, seine Tabaksdose. Er baute eine Sprechmaschine, baute Musikinstrumente, denen rostige Drähte als Saiten dienen. Der kleine Mann vom Dorf, der gegen die Kirche gewettert hatte, schrieb Gedichte voller religiöser Inbrunst. Seine Flugapparate sind schwer, ausladend, überkomplex – die Malereien, die er schuf, in denen er seine Apparate durch den Himmel Oberschwabens ziehen lässt, sind zart und leicht, kindlich und schön. "In seinen Zeichnungen", sagt Stefan Hartmaier, "ist er geflogen."

Vieles von dem, was Gustav Mesmer schuf, wurde seinerzeit weggeworfen. Dennoch hat er viel hinterlassen. Die Ausstellung, die nun in Münsingen zu sehen ist, wurde von Stefan Hartmaier und Martin Mangold erstmals 1989 zusammengestellt. Heute gehören Hartmaier und Mangold dem Vorstand der Gustav-Mesmer-Stiftung an, die 1996 gegründet wurde und die Mesmers Nachlass in einem begehbaren Archiv in Kirchentellinsfurt verwahrt. Der Geldwert dieser Sammlung ist nicht bekannt – kein Werk Gustav Mesmers wurde jemals in einer Galerie angeboten oder sonst wie auf den Kunstmarkt gebracht. Das soll so bleiben.

Ein System mit austauschbaren Teilen

Mehr als 1.000 Zeichnungen, Entwürfe, Aquarelle finden sich in der Sammlung der Stiftung. Mehr als 1.000 Einzelteile auch, aus denen sich, in unterschiedlichen Varianten, mehrere Flugräder konstruieren lassen. Mesmer legte nicht nur Wert auf jedes Detail, durchdachte jede Funktion – er konstruierte all seine Apparate so, dass sie sich ergänzen, ein System ergeben mit austauschbaren Teilen.

Und doch funktionierte keiner der Apparate je, und Mesmer wusste es. "Wenn die Leute ihm sagten: Mit diesem Kruscht kannst du niemals fliegen", erzählt Stefan Hartmaier, "dann sagte er: doch, die Treppe runter schon. Er dachte nicht daran, aufzugeben oder beschämt zu sein. Er hatte ein heiteres Gemüt, das sich durch nichts beeindrucken ließ, eine sehr angenehme, humorvolle Art und immer ein Blitzen im Gesicht. Er war offen für Fragen, aber von sich aus hat er nur wenig gesprochen."

Gustav Mesmer schuf sich seine eigene Welt. Alles, was er tat, spricht von der Freiheit, die er in seinen Träumen fand. Als eines seiner Flugräder 1992 auf der Weltausstellung Expo gezeigt wurde, blieb er lieber zu Hause, in seinem "stillen Buttenhausen", über das er ein Lied schrieb und in dem er starb: Weihnachten 1994, mit 91 Jahren.

Dort, in Oberschwaben, wurde noch gelächelt über den verrückten Kauz und seine Flugmaschinen. Das änderte sich. Anderen Ortes fand Gustav Mesmers Werk staunende Bewunderer. 2014 streckte eines seiner Räder in der Collection Art Brut in Lausanne die Flügel aus. 2015 war eine Flugmaschine nebst Zeichnungen, Modellen, Entwürfen und einem Film, der Mesmer im Fluge zeigt, im American Folk Art Museum in New York City zu sehen. Im selben Jahr zeigte das Zeppelin-Museum Friedrichshafen die Ausstellung zu Mesmers Werk auf zwei Ebenen. 2017 wanderte sie an das Musée Arte Marges in Brüssel. Mesmers Werke waren im Kunsthaus Spoerri und in der Villa Stuck, München, im Museum Maison Rouge in Paris. "Bis auf die Straße sind die Leute gestanden", erzählt Stefan Hartmaier.

"Er hod fliaga wella"

Berühmt in der Heimat wurde Gustav Mesmer vor allem durch ein Lied. Alex Köberlein schrieb es für Grachmusikoff. 1996 erschien "Der Ikarus vom Lautertal". Bei keinem Konzert der Band fehlte es mit seinem Refrain "Er hod fliaga wella midꞌm Fahrrad über d'Alb". 2023 dann schilderte der bayrische Autor Andreas Ammer Gustav Mesmers Leben als Hörspiel: "Ich Mensch, zu fliegen such" heißt es. Die Musik zum Hörstück stammt von Maxi Pongratz und Micha Acher (The Notwist) – ein Soundtrack zwischen volkstümlich und Avantgarde, aufgenommen mit einem kleinen Orchester mit vielen Instrumenten wie Tuba, Klarinette, Akkordeon und anderen. "Musik für Flugräder" heißt das Album, erschienen bei Trikont. Das Cover zeigt eine der kindlich-poetischen Malereien Gustav Mesmers. Franz Dobler schrieb die Liner-Notes. Das Video zu "Elias", einem Song, ist ein Film, der Gustav Mesmer zeigt, wie er sehr sorgfältig eines seiner Flugräder aufbaut, ein altes Damenrad, es mit schweren Gerüsten bestückt, über die er Kunststoffplanen hängt. Mesmer pumpt die Reifen des Rades auf, er steigt auf den Sattel, er fährt davon und verschwindet in der oberschwäbischen Landschaft.


Die Ausstellung "Gustav Mesmer, Ikarus vom Lautertal genannt" ist noch bis zum 13. Juli 2025 in der Zehntscheuer Münsingen zu sehen. Sie wird begleitet von einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm, endet mit einem Flugradwettbewerb und einer Konzertperformance des Reutlinger Künstlers Volker Illi. Am 19. September wird das Theaterstück "Ein Flugradbauer und sein Leben" von Franz Xaver Ott mit dem Theater Lindenhof Premiere feiern in der Pausa, Mössingen.

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