KONTEXT:Wochenzeitung
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Ein Buch wie ein kleines Wunder

Ein Buch wie ein kleines Wunder
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 Fotos: Jens Volle 

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Es gibt Bücher, die verzaubern. Die so schön sind, dass man sie immer berühren, umblättern, an ihren Seiten schnuppern möchte. Die entführen in eine andere, eine freundliche Welt. Vorsicht! Dies ist eine Liebeserklärung: Willkommen in der Traumwelt des Gustav Mesmer, Flugradbauer – Ikarus vom Lautertal genannt.

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So riecht Poesie. Nach wurmstichigem Holz, wie der Schrank, in den der Ikarus vom Lautertal all seine Skizzen und Pläne gestopft hat. Nach altem Leder, wie der Sprungstiefel mit Polsterfeder-Absatz, der kleine Höhenflüge ermöglichte. Nach rostigen Nägeln, mit denen Gustav Mesmer seine Fluggeräte zusammengebaut hat. Der Mann von der Schwäbischen Alb, der sein Leben lang versuchte, den Traum vom Fliegen mit abenteuerlichen Flugfahrrädern zu verwirklichen, ist 1994 gestorben. Doch der Duft seiner großen kleinen Welt ist hier immer noch zu spüren, im Keller der ehemaligen Textilfabrik Schirm in Kirchentellinsfurt, wo die Gustav Mesmer Stiftung die kunterbunten Schätze des Himmelstürmers aus Buttenhausen aufbewahrt. 

Hier herunter steigt Stefan Hartmaier, wenn ihm in seinem luftigen Büro-Loft drei Stockwerke weiter oben die Zeit entgleist und ihn der Stress krallt. Hier taucht er ein in den Mesmer-Kosmos, in dem andere Gesetze und andere Regeln gelten. Ein Eldorado der Freiheit und der Fantasie, in dem Zeit wertvoll ist, aber nicht an einen Zeitmesser gebunden ist. In der Traumwelt des Gustav Mesmer gehen die Uhren anders. "Das entspannt enorm", sagt Hartmaier und zieht genussvoll die Luft ein.

Stefan Hartmaier ist 58, Fotograf, Grafiker, Ausstellungsmacher, Fan der ersten Stunde und Vorstand der Gustav Mesmer Stiftung. Nun ist für ihn selbst ein Traum wahr geworden: Er hat mit der Edition Patrick Frey in Zürich einen Verleger gefunden, der fast 1000 der Zeichnungen und Skizzen, der träumerischen Gedichte und Fotos von Sprechmaschinen und Doppelhalsgeigen in ein kunstvolles Buch gepackt hat. Daraus sind 547 Seiten voller Poesie entstanden, die es tatsächlich schaffen, die Welt und die Werke eines einzigartigen Künstlers einzufangen, der viele Jahre hinter den Mauern von Heilanstalten seinen Traum vom Fliegen beharrlich verfolgte. Und die in drei Essays diesen schwäbischen Universalkünstlers noch einmal fliegen lassen.

Besonders auffällig ein Leporello, das dem Buch beigelegt ist. Grundlage ist ein Tagesfilm, den Gustav Mesmer so genannt hat, weil er, klar, bei Tag angesehen werden kann. Es sind 14 Meter Tapetenrolle, auf deren Rückseite der Flugzeugbauer Konstruktionspläne aufgemalt hat. Im Leporello sind sie verkleinert, aber immer noch stattliche vier Meter 80 lang. Und auch die Tapete wurde auf der Rückseite nachgedruckt. Ein Buch wie ein kleines Wunder.

Wie hat er das geschafft? Stefan Hartmaier sitzt wieder oben in seinem lichtdurchfluteten Büro, lächelt leise und erzählt. Von den Verlagen, die sagten, tolle Sache, aber da müssen Sie 50 000 Euro dazu tun. Von seinen Freunden in der Siebdruckerei in Pliezhausen, die irgendwann mal rieten, fahr doch zum Patrick Frey nach Zürich, der macht schöne Kunst- und Architekturbücher. Hartmaier bekam tatsächlich einen Termin, 30 Minuten waren geplant. Wenn einer nicht nur schöne Bücher macht, sondern auch Moderator, Kabarettist, Autor und Schauspieler ist wie der 68-jährige Frey, wird Zeit kostbar.

Es ist ein bisschen wie ein Märchen, diese Geschichte von Gustav Mesmer, Stefan Hartmaier, Patrick Frey und dem Buch. Aus einer halben Stunde wurde ein ganzer Tag, Frey, der als Kabarettist und Autor gerne gegen den Strich bürstet, fing Feuer für den eigenwilligen Älbler Mesmer und seine wild-schönen Konstruktionen, nahm sich die Zeit und gab das Geld. Das war vor zwei Jahren.

Seit wenigen Wochen ist das Buch fertig. Gustav Mesmers Skizzen (mehr davon oben in der Fotostrecke) bekamen Raum und Luft zum Fliegen. Und Stefan Hartmaier, dem hartnäckigen Verwalter des Mesmer-Nachlasses, ist etwas gelungen, was er mit einem unaufgeregten Nicken als "Sechser im Lotto" bestätigt. Andere würden die Korken knallen lassen oder in Schlangenlinien von Zürich zurück nach Kirchentellinsfurt fahren. Hartmaier nicht. "Champagner wäre sowieso unpassend, Mesmer hätte ein Bier getrunken", sagt er. Er hat morgens im Halbschlaf vor sich hingelächelt. Soviel Zeit muss sein.

Schon als Junge hat Hartmaier den knitzen Mann im Nachbarort immer wieder besucht und ihn begleitet, wenn er mit seinen Flugrädern auf kleinen Albhügeln Schwung holte. Als Student der Kunst-Akademie hat er seine Arbeit über den Flugträumer geschrieben, ihn und sein Schaffen fotografiert, erste Ausstellungen organisiert. Dass Mesmers Flugrad 1992 in der Weltausstellung in Sevilla gezeigt wurde, hat der Künstler noch selbst erlebt. Viele Ausstellungen hat Hartmaier seitdem und bis heute organisiert, Zeichnungen und Gegenstände gesichtet und sortiert und immer wieder restaurieren lassen. Seit vielen Jahrzehnten begleitet ihn der Mann vom Nachbardorf, der unbedingt fliegen wollte wie ein Vogel, von einem Dorf zum anderen. "Ich brauch kein Hobby", sagt Hartmaier, "ich hab Mesmer." Für ihn hat er immer Zeit. Und dann erzählt er die Geschichte von der etwas anderen Taschenuhr.

Foto: Jens Volle

Foto: Jens Volle

Der Patenschuh

Gustav Mesmer mag mit seiner Taschenuhr die Zeit in einer Dose gefangen haben. Doch ihr Zahn nagt an vielen seiner Kunstwerke. Der Plastikflügel des Hubschrauber-Flugfahrrads löst sich auf, der Holzwurm bohrt sich ungeniert durch Musikinstrumente und Sprechmaschine. Die Objekte müssen restauriert werden und das kostet Geld, das die Mesmer-Stiftung nicht hat. Und weil wir in der Kontext-Redaktion die Mesmerschen Schwungflugräder, Zittern oder seine Dosenuhr so wunderbar finden, haben wir spontan zusammengelegt wie für den Geburtstag eines Kollegen. Jetzt sind wir stolzer Pate des – tatatata – Sprungfederstiefels! Der zaubert ein Lächeln ins Gesicht und lädt zu Luftsprüngen ein. Als Patin erhält Kontext regelmäßig Nachricht, was unser Schuh so macht. Ob eine neue Ausstellung zu sehen ist. Und wie es mit der Sammlung weitergeht. Der Ikarus vom Lautertal hat es verdient, dass seine Realität gewordenen Ideen nicht zerbröseln. Etwa 60 Paten gibt es schon, sagt Stefan Hartmaier. Wir sind gerne Nr. 61. Mehr Infos zu Stiftung und Patenschaften gibt es hier. (sus)

Die liegt auch unten im Keller, die Uhr in der Dose. Stefan Hartmaier zieht die Schublade auf, nimmt die Dose des Fahrradreparatursets und erzählt die Geschichte von der Zeit. Wenn Stefan Hartmaier ihn mal wieder lange ausgefragt hatte, zu lange für Gustav Mesmer, dann griff der in seine Hosentasche, holte die Blechdose heraus, öffnete den Deckel und blickte wortlos und nachdenklich auf die Uhr. Die hatte nur einen Zeiger und ging sowieso nicht. Aber das Signal war klar und Stefan Hartmaier hat es immer verstanden: Seine Zeit war abgelaufen. Der Künstler wolle nicht mehr reden, sondern arbeiten – Zeit zu gehen.

Viel wurde schon geschrieben über den kleinen Mann mit dem freundlichen Lächeln und den hochfliegenden Plänen, den auch die Einweisung in die Irrenanstalt nicht verbittern konnte. Mit seiner Fantasie und seinen Flugmaschinen ist er über die Widrigkeiten des Anstaltslebens gesegelt, mit unerschütterlichem Humor. Seine Flugfahrräder sind so bekannt wie seine Schwingenfluggeräte.

Mesmer hat aber auch Sprung- und Rollschuhe gebaut, ein Luftschiffer-Flugkorsett, das den heutigen Protektoren in Motorradjacken erstaunlich nahekommt, eine Brücke für Schiffe, damit sie den Rheinfall von Schaffhausen überqueren können. Und auch seine Wörter schnitzte er sich zurecht wie seine Weidenzweige, mit denen er Körbe flocht und Geld verdiente: seine Sprache war lebendig, voller Turbulenzen und kreativen Wortschöpfungen.

Das alles ist in diesem Buch zu finden. Fast meint man, den Duft der Werkstatt zu riechen. Und aufgepasst beim Blättern, keine Termine danach ausmachen: Es kann sein, dass man in der fantasievollen Welt des Gustav Mesmer aus der Zeit fällt. Die Bücher aus der Edition Patrick Frey sind schon mehrfach vom Bundesamt für Kultur als schönste Schweizer Bücher ausgezeichnet worden. Der Band über Gustav Mesmer hat auch das Zeug dazu.

 

Gustav Mesmer. Flugradbauer-Ikarus vom Lautertal genannt. Edition Patrick Frey in Zürich. 547 Seiten, 83 Euro. In Buchhandlungen zu bestellen <link https: gustavmesmer.de publikationen _blank external-link>oder über die Gustav-Mesmer-Stiftung.


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1 Kommentar verfügbar

  • Klaus Hoimerdenger
    am 26.02.2019
    Antworten
    "Er hodd fliaga wella
    wi a Schwalb'
    Er hodd fliaga wella
    mit'm Fahrrad iiieber d'Alb."

    Toll.

    Grachmusikoff
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
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