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Rechte Gewalt

Schuss nach links

Rechte Gewalt: Schuss nach links
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Im März feuert eine unbekannte Person mit scharfer Munition auf die Wohnung eines Linken im Nordschwarzwald. Anfang November wurde dessen Haus dann Ziel eines eindeutig rechten Angriffs. Nach zunächst eingestellten Ermittlungen soll es nun einen Tatverdächtigen geben.

Ob es vielleicht das Interview beim Deutschrapper Bösemann im vergangenen Jahr war, das jemanden dazu veranlasste, auf das Wohnungsfenster von Thomas Hanser zu schießen? Der Rapper lud zum Videoformat verschiedene Politiker:innen zum Einzelgespräch und anschließendem Boxen ein. Zuvor saß auf der Couch des Rappers bereits NPD-Mitglied Steven Feldmann, der als bekennender Neo-Nazi vorgestellt wurde. Ein halbes Jahr später erscheint das Video mit Hanser, in dem dieser Kritik übt. "Auf gar keinen Fall" hätte Feldmann eine Plattform gegeben werden sollen, sagt er zu Bösemann. Danach geht es um Migrationspolitik und Ukraine-Krieg. Vielleicht sei er da jemandem auf den Schlips getreten, sagt Hanser heute.

Es war ein Wochenende im März diesen Jahres, der 34-Jährige war beim Bundesausschuss seiner Partei in Berlin, als ein Projektil den Rollladen seiner Wohnung in Calw durchschlägt und die dahinterliegende Fensterscheibe zum Bersten bringt. Die Kugel, sie hat nicht mehr genug Wucht um die zweite Scheibe zu durchdringen, fällt zwischen die beiden Gläser. Als Hanser aus Berlin zurückkommt, bemerkt er dieses Detail zunächst nicht. "Vielleicht hat da ein Kind mit dem Ball gespielt", habe er gedacht, "oder die haben da oben irgendwas umgebaut und dann ist was runtergefallen." Mit "da oben" meint er den Pflegedienst und die Tagespflegeeinrichtung, unter der er in einer 1-Zimmer-Soutterainwohnung lebt. Mit dem Pflegedienst-Chef begutachtet er das Fenster, dabei entdecken sie die Kugel und rufen die Polizei.

Thomas Hanser ist ein hagerer Mann, er trägt eine Brille mit abgerundeten Ecken und reicht mit Baseballcap auf dem Kopf kaum an die 1,75 Meter. "Kleiner Mann, aber großes Mundwerk", schreibt er über sich auf Instagram und: "Politik braucht kein Abitur". Er selbst war auf der Hauptschule und ist gelernter Kfz-Mechatroniker. Während viele Genoss:innen studiert haben und durch Karl-Marx-Lesekreise politisiert wurden, sei es bei ihm vor allem Rapmusik gewesen. "Wir hingen auf den Straßen rum, nicht im Gymnasium", zitiert er den Rapper Haftbefehl. Er höre Klassiker wie Kool Savas und Sido, aber auch Disarstar oder Prinz Pi. In seinem Zimmer hängt über einem Parteiplakat ein Poster von SSIO, der oberkörperfrei einen Bären reitet.

"Das Gefährlichste, was es gibt, ist verletzter Männerstolz plus Alkohol", sagt Hanser und spricht aus Erfahrung. Früher sei er wegen "jugendlichem Schwachsinn" in Streitereien verwickelt gewesen, habe schon mal einen Baseballschläger oder eine Holzlatte auf den Kopf bekommen. Er sei deshalb froh, Mitglied in der Linkspartei geworden zu sein: "Toxische Männlichkeit" habe er davor nicht gekannt.

Seit 2022 ist Hanser arbeitslos. Sechseinhalb Jahre habe er als Monteur für technische Gase gearbeitet, bis er 2021 für den Bundestag kandidierte. Wegen Wahlkampfterminen hätte er freigestellt werden sollen, das sei eigentlich mit seinem Chef abgesprochen gewesen. Der wollte dann aber davon nichts mehr wissen und habe ihn dennoch auf Montage geschickt, erzählt Hanser. Es kam zur Kündigung. Danach jobbte er als Umzugshelfer und Renovierungsarbeiter, bis er seinen Führerschein abgeben musste. Der Grund: Die Polizei fand bei ihm 1,1 Gramm "Marihuana-Tabak-Gemisch". Hinzukomme, dass es als bekannter Linker im Schwarzwald schwer sei, einen Job zu finden. Der ein oder andere Chef habe vielleicht Angst, er würde einen Betriebsrat gründen. "Ja gut, ist ja auch berechtigt", sagt Hanser verschmitzt.

Gewalt gegen Politiker:innen

Angriffe wie der auf SPD-Mann Matthias Ecke, der im Mai beim Plakatieren für die EU-Wahl krankenhausreif geprügelt wurde, belebten die Diskussion über ansteigende Gewalt gegenüber Politiker:innen. Laut Bundeskriminalamt nahmen Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger:innen von 2022 auf 2023 um fast 30 Prozent zu, die häufigste Deliktart: Beleidigung. 2023 wurden Grünen-Mitglieder am häufigsten Opfer von Angriffen (über 1.200), das meiste waren allerdings sogenannte Äußerungsdelikte. Vertreter:innen der AfD wurden am häufigsten Opfer von Gewaltdelikten (86). In Baden-Württemberg war im ersten Halbjahr 2024 die Zahl der Straftaten gegen Mandats- und Amtsträger:innen um 54 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum. Innenminister Thomas Strobl (CDU) sprach von einer "Verrohung der Gesellschaft".

Der Journalist Stefan Niggemeier warnt in einer "Übermedien"-Kolumne davor, aus der Statistik voreilig eindeutige Schlüsse zu ziehen: So könnten die Zahlen dadurch beeinflusst werden, dass etwa Grüne sich vornehmen, verbale Attacken konsequenter zur Anzeige zu bringen. Auch zähle als Körperverletzung zum Schaden der AfD, wenn sich ein Polizeibeamter bei dem Versuch verletzt, einen Gegendemonstranten wegzuschieben.  (ks)

Drogenkrieg in Calw?

Das gefundene Gras und sein Einsatz für die Cannabis-Legalisierung waren offenbar für den Staatsschutz ausschlaggebend, ihn bei der Zeugenvernehmung zu fragen, ob nicht vielleicht ein Nachbar auf seine Wohnung gefeuert haben könnte. Der habe schließlich auch einen Eintrag wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Den Nachbarn kannte Hanser bis dato nur flüchtig, habe ihn "ein, zwei Mal gesehen", sagt er. Vor ein paar Wochen habe Hanser ihn dann darauf angesprochen. "Er war dann total erstaunt und konnte es nicht glauben."

Die schicke Neubausiedlung, in der Hanser lebt, in der rund 25.000 Einwohner:innen zählenden Gemeinde im Nordschwarzwald versprüht eher wenig kriminelle Energie. Umso mehr drängt sich die Frage auf: Wer hat auf das Fenster geschossen und warum? Eine verirrte Kugel aus der Graf-Zeppelin-Kaserne der in Calw angesiedelten Kommando-Spezialkräfte sei es wohl nicht, das schließe der Staatsschutz aus, sagt Hanser.

Seine Wohnung ist von der Straße abgewandt, das beschossene Fenster liegt am Fuß einer kleinen Böschung – Kellerwohnung eben. Um von außen dorthin zu gelangen, muss man um das Haus durch den Garten der Pflegeeinrichtung gehen. Hinter dem Garten erstreckt sich die Wohnsiedlung. Dass hier ein Projektil aus Versehen, sozusagen vom Himmel herab, in Hansers Fenster einschlägt, wirkt dementsprechend unwahrscheinlich. Doch wenn jemand wenige Meter vor dem Fenster steht und darauf feuert, wieso ging die Kugel nicht durch? Eine Frage, die auch Hanser beschäftigt. Die Kriminalbeamten hätten seinen Rollladen für einen Beschusstest ausgebaut, um zu prüfen, ob Hanser sozusagen einen "kugelsicheren Rollladen" habe. Ein Ergebnis habe er aber nicht bekommen. Vielleicht hat die Kugel auch einen Ast gestreift, vielleicht stammt sie aus einer selbstgestopften Patrone mit zu wenig Schießpulver oder wurde mit einer Waffe aus dem 3D-Drucker abgefeuert, zählt Hanser auf. "Aber das sind alles Spekulationen."

Kein Wahlkampf mit der Opferrolle

Damals machte der Linke den mutmaßlichen Angriff auf seine Wohnung nicht öffentlich. "Ich wollte damit keinen Wahlkampf machen", sagt Hanser und meint die Kommunalwahlen im vergangenen Sommer. Die Opferrolle wollte er nicht einnehmen – denn was, wenn am Ende doch alles anders ist? Nach dem Vorfall sei auch lange Ruhe gewesen. "War vermutlich irgendwie ein Unfall. Vielleicht auch ein Junge, der die alte Waffe von seinem Opa im Schuppen gefunden hat", habe er damals gedacht.

Vor zwei Wochen kommt es in der Nacht von Sonntag auf Montag zu einem weiteren Vorfall. Am Morgen steht ein Polizist vor Hansers Wohnungstür, macht ihn auf die Hofeinfahrt aufmerksam. Dort prangen ein Hakenkreuz und SS-Runen an der Hauswand, die Fahrzeuge des Pflegedienstes sind mit schwarzer Farbe beschmiert und ihr Lack zerkratzt worden. Daraufhin beschloss der 34-Jährige, die Vorfälle öffentlich zu machen.

Dass es sich auch hier um eine gezielte Attacke gegen Hanser handele, "liegt schon nahe", meint Benjamin Dittus, Leiter des Pflegediensts. Sicher könne man allerdings nicht sein. "Ich hatte auch viele Entlassungen", sagt Dittus, diese seien aber ohne Streit verlaufen. Er vermutet, dass die Farb- und Kratzattacke irgendwann nach Mitternacht stattgefunden habe, denn der Pflegedienst endet um 21 Uhr und beginnt um 5.30 Uhr. Gegen 23 Uhr sei noch ein Nachbar mit dem Hund draußen gewesen, der auch nichts bemerkt habe. Insgesamt sei ein Schaden von 25.000 bis 30.000 Euro entstanden, schätzt Dittus, auch sein geleastes Privatauto ist betroffen. Wenn jemand mit ihm ein Problem habe, dann solle die Person doch einfach bei ihm klingeln und mit ihm sprechen, aber nicht so eine "feige Scheiße" machen, sagt er. Kameras haben in Zukunft das Grundstück im Blick. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, bietet Dittus eine Belohnung von 5.000 Euro.

Plötzlich taucht ein Tatverdächtiger auf

Wer für die Angriffe auf seine Wohnung verantwortlich ist, darüber kann Hanser nur spekulieren. Gewaltbereite Rechtsradikale in der Stadt kenne er nicht, noch nie habe er Morddrohungen bekommen. Wenige Wochen nachdem auf Hansers Fenster geschossen wurde, teilte ihm die Tübinger Staatsanwaltschaft mit, das Ermittlungsverfahren werde eingestellt. Doch das hat sich wieder geändert. Derzeit werde gegen einen Beschuldigten ermittelt, der mutmaßlich auf Hansers Fenster geschossen habe, berichtet auf Kontext-Nachfrage Nicolaus Wegele, erster Staatsanwalt aus Tübingen. Zunächst sei die Ermittlung gegen Unbekannt zwar eingestellt worden, doch als der Beschuldigte ausfindig gemacht werden konnte, wurde sie wieder aufgenommen. Wie die Staatsanwaltschaft auf den Beschuldigten kam, ob es vielleicht einen Tipp gegeben habe, dazu will sich Wegele nicht äußern. Ein Sprecher der Polizei Pforzheim bestätigt, dass in beiden Verfahren die Ermittlungen laufen. Der Staatsschutz ist weiterhin involviert, die zweite Tat sei "offensichtlich politisch motiviert".

Hanser berichtet von großer Solidarität, die ihm widerfährt. Nach dem Schuss auf sein Fenster sei er einige Tage bei einer Parteigenossin untergekommen. Mitglieder aus dem Bündnis "Calw bleibt bunt!", bei dem er selbst aktiv ist, hätten sich an ihn gewandt, auch aus anderen Parteien wie SPD und Grüne habe es Solidaritätsbekundungen gegeben. Am vergangenen Donnerstag fand eine Soli-Kundgebung für ihn vorm Calwer Rathaus statt. "Einerseits bin ich dankbar, dass man das für mich macht", sagte er in der Woche zuvor. Andererseits finde er es komisch, dass es eine Kundgebung nur für ihn gebe. Vielleicht werde das "hochgepuscht" und es war "doch ganz anders und ich stehe dann dumm da".

Dennoch, die Solidaritätsbekundungen stärken ihm den Rücken, sagt Hanser. Er will sich weiter politisch engagieren, kandidiert bei der anstehenden Bundestagswahl als Direktkandidat für die Linken – auch wenn er weiß, dass seine Chancen "eigentlich bei null Prozent" liegen. Aber er wolle den Leuten zeigen: "Ich bin Kfz-Mechatroniker mit Hauptschulabschluss. Ich kann aber genauso mit Saskia Esken auf dem Podium diskutieren und die auch zum Schwitzen bringen."

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