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Stuttgarter "Krawallnacht"

Mit Solidarität in den Knast

Stuttgarter "Krawallnacht": Mit Solidarität in den Knast
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Vier Jahre nach der "Krawallnacht" tritt der Stuttgarter Nico seine Haftstrafe in Ulm an. Der Aktivist wird von Antifas begleitet. Während Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) meint, mit Strafen Prävention zu betreiben, sieht die Gruppe um Nico darin staatliche Repression.

Unter rabiater Hitze strömt eine Gruppe junger Leute mit Flaggen, Bannern und erhobenen Fäusten aus dem dunkelblauen Reisebus vor der JVA Ulm. "Siamo tutti antifascisti!"-Rufe (italienisch, "Wir sind alle Antifaschist:innen") schallen über den Platz. Das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS) hatte über die sozialen Medien dazu aufgerufen, den Haftantritt ihres Mitaktivisten Nico Mitte August in Ulm zu begleiten. Nico, der seinen Nachnamen nicht öffentlich machen möchte, kam im Zuge der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vom 20./21. Juni 2020 und nach einer Hausdurchsuchung im März 2022 vor Gericht. Verurteilt wurde der Mitte 20-Jährige wegen besonders schweren Landfriedensbruchs, drei Fällen versuchter gefährlicher Körperverletzung und tätlichen Angriffs sowie Unterschlagung. Inklusive offener Bewährung aus Vorstrafen verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart zu einem Freiheitsentzug von drei Jahren und einem Monat.

Juristische Bilanz

Auf Anfrage teilte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit, nach der sogenannten Krawallnacht seien insgesamt 167 Beschuldigte ermittelt worden. Noch in der Tatnacht waren 25 Personen festgenommen worden. Bislang wurden 114 Personen rechtskräftig verurteilt. Laut Innenministerium erfolgten 79 Verurteilungen zu Jugend- oder Freiheitsstrafen, diese reichen von 6 Monaten auf Bewährung bis zu 4 Jahren und 3 Monaten Gefängnis. Zusätzlich wurden 17 Geldstrafen verhängt. Insgesamt sollen sich an den Ausschreitungen etwa 500 Menschen beteiligt haben. Die Ermittlungen sind mittlerweile abgeschlossen.  (cgm)

Am Morgen des Haftantrittes finden sich rund 200 Menschen im Linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach zusammen. Dort gibt es Abschiedsworte, viel mehr darf Nico nicht mit in Haft nehmen. Wenige Tage zuvor, während der Vorbereitungen für Nicos Abschiedsfeier, gibt dieser auf der Terrasse des Lilo seine Einschätzung zu der nächtlichen Randale ab: Eine kaputte Scheibe werde prekäre Verhältnisse nicht ändern, aber in der "Krawallnacht" habe sich eine so bisher nicht dagewesene Wut ausgedrückt. Menschen, die tägliche Schikane durch die Polizei erführen, migrantische Personen, deren Leben durch den Staat erschwert würden, hätten spontan aufgeschrien – und "alle haben Freund:innen, die betroffen sind, haben Verständnis für deren Wut". Er erzählt, dass auch seine Arbeitskolleg:innen Verständnis haben: Einige hätten sich extra freigenommen, um seinen Haftantritt zu begleiten. In seinem Umfeld sei er vor allem auf Rückhalt gestoßen, niemand habe ihm rückgemeldet: "Du Arschloch, mit dir will ich nichts mehr zu tun haben."

"Die Stuttgarter mögen keinen militanten Mob"

In den knappen Sprechpausen setzt Nico eine Zigarette an, klopft die Asche ab, zieht eine neue aus der Schachtel. Der Antifaschist wirkt selbstsicher, gefasst. In seinem T-Shirt sind kleine Löcher, er ist schlicht gekleidet. Auf dem Holztisch liegt neben dem Aschenbecher seine Akte mit dem 55-seitigen Urteil. Es sei nicht falsch, Teil dieses Abends gewesen zu sein – ob er selbst Teil davon war, dazu sagt er nichts, erklärt mehrmals, er könne sich nicht erinnern, wo er in jener Nacht gewesen sei.

Dass aus Nicos Szene Leute dabei gewesen sind, behauptet Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sehr schnell: "Gewalttätige Linksextremisten" seien Teil jener Nacht gewesen, sie hätten "keine untergeordnete Rolle" gespielt (Kontext berichtete).

Damit ist Strobl nicht allein, die FDP fragt in einem Antrag an das baden-württembergische Innenministerium vom 2. Juli 2020 ebenfalls nach "linksextremer Beteiligung". Ohne Erfolg. Es lägen "keine konkreten und abgeschlossenen Ermittlungsergebnisse darüber vor, dass Angehörige der linksextremistischen Szene an den Ausschreitungen (…) beteiligt waren", schreibt Strobls Haus. Die AfD unternimmt auf Bundesebene im September 2020 einen Versuch: Habe es ein "Zusammenwirken von Linksterroristen und gewaltbereiten Jugendlichen mit Migrationsherkunft" gegeben? Antwort: "Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor".

Dennoch wird in Medien und im Netz immer wieder die migrantische Jugend samt organisierter Linken hervorgehoben. Ermutigt auch aus der Politik: Beim Besuch des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) am 22. Juni 2020 in Stuttgart legt Strobl (Kontext berichtete) vor: "Es ist mein Eindruck, dass das nicht die Stuttgarter sind. (…) Die Stuttgarter mögen keinen militanten Mob." Und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) weiß diesem Mob "eigentlich keinen Anlass" zuzuordnen. Das fehle gerade noch, dass "in so schweren Zeiten" eine solche "Gewaltorgie" in Gang gesetzt werde.

Coronapolitik lässt die Jugend allein

Schwere Zeiten – in der Tat: Ab März 2020 durchlebt die Republik die erste Corona-Infektionswelle. Ver.di zufolge gehen 7,3 Millionen Menschen in den Pandemiejahren in Kurzarbeit, Pflegekräfte fordern eine Lohnerhöhung und erhalten Applaus, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) appelliert daheimzubleiben. Aber: "You can't stay home, if you don't have a home" ("Du kannst nicht zuhause bleiben, wenn du kein Zuhause hast") – schon lange existierende Probleme treten nun offen zutage: Wohnungsnot, prekäre Jobs, Kinder und Frauen, die daheim Gewalt erfahren. Doch mit der sogenannten Krawallnacht wurde all das nicht in Verbindung gebracht. Stattdessen legte Innenminister Strobl einen Zehn-Punkte-Plan zur Verschärfung sicherheitspolitischer Maßnahmen vor: mehr Polizei in der Innenstadt, Prävention durch Jugendarbeit, Alkoholkonsum- und Aufenthaltsverbote, Videoüberwachung.

Wie sinnvoll sind weitere Einschränkungen des öffentlichen Raumes? Der ist ohnehin nicht allen gleichermaßen geöffnet, befindet eine Recherche im Auftrag des Amtes für Stadtplanung und Stadterneuerung bereits 2017. Die Zugänglichkeit öffentlicher Räume sei insbesondere von den Finanzen junger Menschen abhängig – es brauche mehr kostenlose öffentliche Orte, die ohne Konsumzwang zugänglich seien. Passiert ist in dieser Hinsicht nicht viel.

Hohe Strafen schrecken nicht ab

Für Nico waren die Jugendlichen, die nach einer Polizeikontrolle am Eckensee die "Krawallnacht" in Gang setzten, "Wütende, die sagen, wir lassen uns das nicht mehr täglich bieten". Und weil der Staat in jener Nacht die "Hoheit der Straße verloren hatte", sagt Nico, sei die Verfolgung drastisch. Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ) kritisierte in einer Stellungnahme vom 13. November 2020 die Härte, mit der Jugendliche im Zusammenhang mit jener Nacht bestraft wurden. Anders Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG). Er betonte gegenüber der Deutschen Welle, hohe Strafen würden abschrecken. Die andere Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte, das allgemeine Strafrecht auch auf Heranwachsende anzuwenden. Die DVJJ konterte: "Die 'Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates' verlangt gerade nicht nach der Verhängung besonders 'harter Strafen'", sondern es bräuchte eine "professionelle Auseinandersetzung" mit Beteiligten und Tatvorwürfen. "Gesetzestreue und Besonnenheit" seien wichtige Bausteine in einem Rechtsstaat, man dürfe sie "aber vor allem auch von staatlichen Akteuren erwarten". Ist Nico abgeschreckt? Zu seiner Entlassung in gut drei Jahren sagt er: "Rauskommen und weitermachen."

Um Nico hat sich ein Netzwerk aus befreundeten Aktivist:innen gebildet, das sich darum kümmert, was mit der Wohnung und dem Konto passiert, schaut, dass die Kommunikation mit seiner Anwältin läuft. Gemeinsam reflektieren sie "was Knast heißt", welche Ängste es gibt, erzählt Laura (Name geändert) aus Nicos Solidaritätskreis. Sie betont in einem Gespräch kurz vor Beginn der Kundgebung in Ulm die politische Dimension ihrer Arbeit: Es gehe darum, sich "als Bewegung zum Repressionsfall zu verhalten", was bedeutet, die linke politische Analyse jener Nacht in die Öffentlichkeit zu tragen. Ihrer Einschätzung nach findet gerade eine "autoritäre Formierung des Staates" statt, Haftstrafen würden künftig zunehmen.

Mit Prosecco am Knasttor abholen

Die Kommunikation mit Gefangenen ist stark begrenzt, vergleichsweise unkompliziert ist Postverkehr. Und so sitzen vor der JVA Ulm kleine Gruppen auf dem Boden und schreiben Karten an Nico. Die sollen noch an diesem Tag eingeworfen werden und ihm durch die erste Zeit in Haft helfen. Im Hintergrund dröhnt Rap von Disarstar, in einer kleinen Holzkiste verschwinden die Briefe von Nicos Genoss:innen. Auf dem Holz klebt seine Adresse, gerahmt von Postadressen weiterer Gefangener wie etwa der mutmaßlichen (Ex-)RAF-Terroristin Daniela Klette. Hier und da ist ein "Freiheit für Jo"-Print zu sehen.

Jo, dem man in Ulm auf T-Shirts begegnet, sitzt gerade in der JVA Bruchsal viereinhalb Jahre Haft ab wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie schweren Landfriedensbruchs. Er war einer von zwei Angeklagten in einem Indizienprozess um einen schweren Angriff auf drei Mitglieder des rechten Vereins "Zentrum Automobil" im Mai 2020 (Kontext berichtete).Am Tag von Nicos Haftantritt schickt Jo ein Grußwort und streut Zuversicht: Scheiße sei es im Gefängnis, ja, aber nicht unendlich. Nicos Genoss:innen wollen Nico in drei Jahren mit Prosecco am Knasttor empfangen.

In Ulm begleiten Nico letztlich nur wenige Menschen zum Eingang der Anstalt, darunter seine Eltern. Zuvor hatten Dutzende ihn nacheinander in die Arme genommen. Geweint haben sie erst, als sie sich von ihm abwandten. Die restlichen Aktivist:innen haben sich auf der Rasenfläche vor der JVA verteilt und brüllen den losen Polizeiketten vor ihnen Parolen entgegen, bis Nico hinter den Mauern verschwindet. Zurück in Stuttgart finden sie sich am selben Tag an der Freitreppe am Schlossplatz zusammen. Unter Flaggen, Bannern und erhobenen Fäusten wollen sie revolutionären Geist in Stuttgarts Innenstadt verbreiten. Die Reaktionen drumherum sind verhalten. Ein Passant mit Zara-Papiertüte in der Hand stupst seine Begleitung an: "Antifa. Ganz schlechte Sache."

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2 Kommentare verfügbar

  • bedellus
    am 25.09.2024
    Antworten
    Das ALLES ist doch offensichtlich völlig sinnloser und bekloppter Schwachsinn. Mir tut der Hals weh vom Kopfschütteln.
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