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EM und Prostitution

Kein Sommermärchen

EM und Prostitution: Kein Sommermärchen
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Die einen feiern ausgelassen Siege, andere trinken gewaltige Biervorräte leer, Dritte erleiden Qualen an Leib und Seele. Sportliche Großveranstaltungen sind Brutstätten illegaler und halblegaler Prostitution.

Derzeit wird die Erinnerung aufgefrischt an jene Wochen der Fußball-WM 2006, in denen sich Deutschlands Image weltweit so positiv entwickelte, in denen Innenstädte glänzten mit gastfreundlicher Stimmung, die Tage sonnig und viele Spiele spannend waren. Mit dem Happy End für die deutsche Nationalmannschaft in Stuttgart dank Platz drei und einem riesigen Fanfest.

Leni Breymaier erinnert sich ebenfalls an 2006: "Während viele dieses Sommermärchen gefeiert haben und es großartig fanden, war es für die Frauen in der Prostitution die Hölle." Damals hat sie sich intensiv mit dem Thema befasst, erzählt die frühere baden-württembergische SPD-Landesvorsitzende und heutige Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Aalen/Heidenheim. Und sie hat lernen müssen, dass ihre Herangehensweise als Gewerkschafterin hier völlig versagt: Vereinzelung, Druck, Ausbeutung, Not, regelmäßige Ortswechsel und die Angst der Betroffenen sind "keine guten Bedingungen für Solidarität und die Suche nach gemeinsamen Lösungen".

Ihre Hoffnung, dass 2024 nicht wieder Frauen für 20 oder 30 Euro vergewaltigt werden, kann nur eine fromme bleiben. Schon jetzt sei deutlich, dass die EM "zu einem signifikanten Anstieg der Prostitution in den Austragungsorten der EM-Spiele" führe, teilte der "Bundesverband Nordisches Modell" mit Verweis auf eine dpa-Umfrage sowie eigene Recherchen mit. Die Erwartung, dass diesmal anders als vor 18 Jahren Lehren gezogen werden, auch von der Politik, lebt. Die CDU hat bisherige Positionen revidiert. "Es muss Schluss damit sein, dass Frauen zur Ware gemacht werden", sagt Annette Widmann-Mauz, die Vorsitzende der Frauen-Union. Sie fordert schon lange ein Sexkaufverbot und Ausstiegshilfen und ist zufrieden mit dem neuen Grundsatzprogramm ihrer Partei, das eben diese Punkte beinhaltet. "Wir setzen das klare Signal: Sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel und Prostitution sind mit der Würde von Menschen nicht vereinbar", so die Tübinger Bundestagsabgeordnete. Doch seit den 20 Jahre alten Regelungen der damals rot-grünen Bundesregierung ist Sexarbeit republikweit ein freies Gewerbe. Die Sittenwidrigkeit wurde abgeschafft, Prostitution als Dienstleistung eingeordnet, der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen eröffnet. Aus damals auch von der Fachwelt in Aussicht gestellten Vorteilen für Betroffene wurde nichts. Seit Langem wird über die Einführung des sogenannten Nordischen Modells diskutiert, das sich inzwischen die Union mit auf die Fahnen schreibt. Schweden war Vorreiter, hat 1999 Sexkauf und den Bordellbetrieb unter Strafe gestellt und Ausstiegsprogramme finanziert.

Rote Karte für Freier

Aktuell eint nicht nur viele Frauen in den demokratischen Bundes- und in vielen Landtagsfraktionen eine Initiative, die rund 50 Vereine, Verbände und Einzelpersonen angestoßen haben. Im realen Leben, zum Beispiel in Fanzonen oder vor Stadien, und vor allem in der digitalen Welt wird die "Rote Karte für Freier" verteilt. Viele Frauen, darunter Widmann-Mauz und Breymaier, haben sich schon vor Beginn der EM mit einem Foto und einer Botschaft engagiert.

Betroffene berichten, etwa Jasmin Scholl. Noch minderjährig war sie in den sozialen Medien unterwegs, wurde von erwachsenen Männern angeschrieben. "Irgendwann fragen die Täter dann nach einem Treffen", berichtet sie in einem Interview mit dem "Wiesbadener Kurier" zum Auftakt der EM. Sie habe wirklich geglaubt, "sie wollen mit mir Eis essen oder Spazierengehen". Dazu sei es nie gekommen: "Wir sind dann direkt in die Weinberge gefahren und die Autoverriegelung ging zu, oder es hieß, 'oh, ich habe noch etwas zu Hause vergessen', und dann sollte ich nur kurz mit reinkommen und die Tür wurde abgesperrt." Auf diese Weise sei Scholl von verschiedenen Tätern – "die Männer waren meist zwischen 40 und 60 Jahre alt – über Jahre hinweg missbraucht und vergewaltigt" worden. Heute will sie aufklären und anderen Opfern helfen, um das Schweigen zu brechen.

Die Rote-Karte-Aktion scheut auch vor der Veröffentlichung ekelhafter Posts zufriedener Freier nicht zurück und drastischer Beschreibungen: "Beim Oralverkehr wird der Frau der Penis tief, fest und schnell in die Kehle gestoßen. Dabei muss sie den natürlichen Würgereflex unterdrücken. Bei einem Freier nach dem anderen. Gleichzeitig muss sie eine Entzündung des Kehlkopfs in Kauf nehmen, eine Infektion mit Viren, Bakterien und Pilzen und eine mechanische Dauerüberdehnung des Kiefergelenks. (…) Wie lange wollen wir diese Gewalt in unserer Gesellschaft noch dulden?"

13.700 Prostituierte reisen in EM-Städte

Baden-Württembergs Polizei praktiziert die direkte Ansprache von Männern in Innenstädten, das grüngeführte Sozialministerium bietet ein gewachsenes Angebot von Fachberatungsstellen für Menschen in der Prostitution an und für Betroffene von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Allerdings auch erst seit 2021 werden diese Stellen gefördert – von wegen Lehren ziehen aus 2006. Gerade erst hat sich der Innenausschuss des Landtags mit dem Anstieg einschlägiger Straftaten im Südwesten um gut 25 auf 194 Fälle im vergangenen Jahr befasst. Die Stadt Stuttgart geht von "zu Normalzeiten" täglich etwa 400 Personen in der Prostitution aus, "überwiegend Frauen". Diese Schätzung beruhe auf früher erhobenen Zahlen der Polizei. Der Effekt eines Zustroms zusätzlicher Freier und Prostituierter gegenwärtig lasse sich nicht seriös einschätzen, "weil die Struktur der Bordelle, Laufhäuser und Terminwohnungen zu unterschiedlich ist". Und obwohl verboten, könne Straßenprostitution nicht ausgeschlossen werden, heißt es auf Anfrage einigermaßen verharmlosend von Seiten der Stadt.

Überhaupt muss eine seriöse Datenbasis erst noch geschaffen werden. In Teilen der Ampel-Koalition besteht Zurückhaltung, weil noch ein Evaluierungsbericht über die bisherigen Reformen abgewartet werden soll. Der allerdings ist erst für Juni 2025 angekündigt. Unter anderem durchleuchtet wird die 2017 durch die Große Koalition auf Bundesebene eingeführte Registrierungspflicht. Die vorliegenden Zahlen zeigen aber, dass nicht nur in Zeiten von Sportevents irgendetwas nicht stimmen kann, wenn bundesweit 28.000 – die offizielle Anmeldung zugrunde gelegt – Prostituierte arbeiten. Fachleute gehen hingegen von bis zu 400.000 Frauen und Männern aus. Für die Wochen der EM hat das Erotik-Portal Erobella erste Daten ausgewertet. Danach reisen rund 13.700 Sexarbeiterinnen zusätzlich in die EM-Austragungsorte und bieten dort ihre Dienste an. Stuttgart gehört mit weniger als 500 offiziellen Registrierungen nicht zu den Hotspots. Zu berücksichtigen ist aber laut städtischem Gesundheitsamt, dass eine Anmeldung bundesweit gültig ist, egal in welcher Kommune sie erfolgt.

"Unsere internen Recherchen zu Escort-Agenturen ergaben, dass viele dieser Agenturen aktiv mit der Fußball-Europameisterschaft werben, indem sie Begleitung zu Spielen oder Public Viewing anbieten", berichtet Simone Kleinert vom Bundesverband Nordisches Modell. Die Zahl der Inserate in einschlägigen Internetplattformen habe sich an Austragungsorten im Vergleich zu vor der EM teilweise verdoppelt. Es gibt auch erste Auswertungen von Erobella zur Herkunft der Frauen: Rund 35 Prozent der neu registrierten Prostituierten kommen aus Osteuropa, 24 aus Lateinamerika, elf aus Deutschland. Der Großteil ist weiblich, "und gerät", wie es vom Bundesverband weiter heißt, "in der Regel schon in sehr jungem Alter in das System". Der Verband fordert deshalb die staatliche und vollumfassende Unterstützung von Sensibilisierungsprogrammen in den Herkunftsländern, insbesondere Rumänien, Bulgarien und Ungarn, um über die Gefahren des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung nach und in Deutschland aufzuklären.  

Europas beliebtestes Rotlichtviertel

"Rote Karte für Freier" will neben den aufrüttelnden Berichten aus dem Alltag von (Zwangs-)Prostituierten auch mit leicht fasslichen Fakten werben für ein grundlegendes Umdenken. 56 Prozent der Männer, die Sex kaufen, leben in einer festen Beziehung. Oder: Über 62 Prozent der Prostituierten haben in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erfahren. Oder: 43 Prozent der Freier kaufen Sex zum ersten Mal in Begleitung von Freunden.

Leni Breymaier zitierte kürzlich im Bundestag die britische Tageszeitung "Sun" mit einem Text über eine "Gruppe Männer, in eine rosa beleuchtete Bar torkelnd. Ein betrunkener britischer Tourist: 'Habt ihr schon' – Entschuldigung, es ist ein Zitat – 'gebumst?'" Das sei eine abwegige Frage, sagt Breymaier, denn die Bar sei mit Kerlen gefüllt gewesen, "welche sich betrinken, bevor sie eine der 120 jungen Frauen besuchen, die auf einem anderen Stockwerk des elfstöckigen 'Pascha', des größten Bordells der Welt, arbeiten. Das ist aber nicht Thailand oder Amsterdam", sondern Köln, jener Gastgeberstadt, die "sich rasant zu Europas beliebtestem Rotlichtviertel entwickelt".

Laut Erobella haben sich in der rheinischen Metropole rund 1.000 Frauen zusätzlich registrieren lassen, jedenfalls offiziell. Und das 1972 gegründete "Pascha" zieht nicht nur Freier an. Razzien haben in jüngster Vergangenheit stattgefunden. Unter anderem sollen Aufenthaltstitel verkauft, Menschen eingeschleust und die fälligen Steuerpauschalen der Sexarbeiterinnen von den Betreibern nicht ordnungsgemäß abgeführt worden sein. Der Betrieb läuft weiter, der Kölner "Express" titelte bereits "Sex-EM". Und am Sonntag steht in der Domstadt das Achtelfinale auf dem Programm.

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2 Kommentare verfügbar

  • Herbert Winzer
    am 26.06.2024
    Antworten
    Frau Scholls Schilderungen (Gefahren durch soziale Medien) sind ein ganz anderes Thema, das eines eigenen Artikels bedarf. Mit Prostititution in Laufhäusern (dort arbeiten Frauen ab 21) hat dies aber auch rein gar nichts zu tun. Es ist eine unsägliche, stimmungsmachende Vermischung. Die…
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