Betroffene berichten, etwa Jasmin Scholl. Noch minderjährig war sie in den sozialen Medien unterwegs, wurde von erwachsenen Männern angeschrieben. "Irgendwann fragen die Täter dann nach einem Treffen", berichtet sie in einem Interview mit dem "Wiesbadener Kurier" zum Auftakt der EM. Sie habe wirklich geglaubt, "sie wollen mit mir Eis essen oder Spazierengehen". Dazu sei es nie gekommen: "Wir sind dann direkt in die Weinberge gefahren und die Autoverriegelung ging zu, oder es hieß, 'oh, ich habe noch etwas zu Hause vergessen', und dann sollte ich nur kurz mit reinkommen und die Tür wurde abgesperrt." Auf diese Weise sei Scholl von verschiedenen Tätern – "die Männer waren meist zwischen 40 und 60 Jahre alt – über Jahre hinweg missbraucht und vergewaltigt" worden. Heute will sie aufklären und anderen Opfern helfen, um das Schweigen zu brechen.
Die Rote-Karte-Aktion scheut auch vor der Veröffentlichung ekelhafter Posts zufriedener Freier nicht zurück und drastischer Beschreibungen: "Beim Oralverkehr wird der Frau der Penis tief, fest und schnell in die Kehle gestoßen. Dabei muss sie den natürlichen Würgereflex unterdrücken. Bei einem Freier nach dem anderen. Gleichzeitig muss sie eine Entzündung des Kehlkopfs in Kauf nehmen, eine Infektion mit Viren, Bakterien und Pilzen und eine mechanische Dauerüberdehnung des Kiefergelenks. (…) Wie lange wollen wir diese Gewalt in unserer Gesellschaft noch dulden?"
13.700 Prostituierte reisen in EM-Städte
Baden-Württembergs Polizei praktiziert die direkte Ansprache von Männern in Innenstädten, das grüngeführte Sozialministerium bietet ein gewachsenes Angebot von Fachberatungsstellen für Menschen in der Prostitution an und für Betroffene von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Allerdings auch erst seit 2021 werden diese Stellen gefördert – von wegen Lehren ziehen aus 2006. Gerade erst hat sich der Innenausschuss des Landtags mit dem Anstieg einschlägiger Straftaten im Südwesten um gut 25 auf 194 Fälle im vergangenen Jahr befasst. Die Stadt Stuttgart geht von "zu Normalzeiten" täglich etwa 400 Personen in der Prostitution aus, "überwiegend Frauen". Diese Schätzung beruhe auf früher erhobenen Zahlen der Polizei. Der Effekt eines Zustroms zusätzlicher Freier und Prostituierter gegenwärtig lasse sich nicht seriös einschätzen, "weil die Struktur der Bordelle, Laufhäuser und Terminwohnungen zu unterschiedlich ist". Und obwohl verboten, könne Straßenprostitution nicht ausgeschlossen werden, heißt es auf Anfrage einigermaßen verharmlosend von Seiten der Stadt.
Überhaupt muss eine seriöse Datenbasis erst noch geschaffen werden. In Teilen der Ampel-Koalition besteht Zurückhaltung, weil noch ein Evaluierungsbericht über die bisherigen Reformen abgewartet werden soll. Der allerdings ist erst für Juni 2025 angekündigt. Unter anderem durchleuchtet wird die 2017 durch die Große Koalition auf Bundesebene eingeführte Registrierungspflicht. Die vorliegenden Zahlen zeigen aber, dass nicht nur in Zeiten von Sportevents irgendetwas nicht stimmen kann, wenn bundesweit 28.000 – die offizielle Anmeldung zugrunde gelegt – Prostituierte arbeiten. Fachleute gehen hingegen von bis zu 400.000 Frauen und Männern aus. Für die Wochen der EM hat das Erotik-Portal Erobella erste Daten ausgewertet. Danach reisen rund 13.700 Sexarbeiterinnen zusätzlich in die EM-Austragungsorte und bieten dort ihre Dienste an. Stuttgart gehört mit weniger als 500 offiziellen Registrierungen nicht zu den Hotspots. Zu berücksichtigen ist aber laut städtischem Gesundheitsamt, dass eine Anmeldung bundesweit gültig ist, egal in welcher Kommune sie erfolgt.
"Unsere internen Recherchen zu Escort-Agenturen ergaben, dass viele dieser Agenturen aktiv mit der Fußball-Europameisterschaft werben, indem sie Begleitung zu Spielen oder Public Viewing anbieten", berichtet Simone Kleinert vom Bundesverband Nordisches Modell. Die Zahl der Inserate in einschlägigen Internetplattformen habe sich an Austragungsorten im Vergleich zu vor der EM teilweise verdoppelt. Es gibt auch erste Auswertungen von Erobella zur Herkunft der Frauen: Rund 35 Prozent der neu registrierten Prostituierten kommen aus Osteuropa, 24 aus Lateinamerika, elf aus Deutschland. Der Großteil ist weiblich, "und gerät", wie es vom Bundesverband weiter heißt, "in der Regel schon in sehr jungem Alter in das System". Der Verband fordert deshalb die staatliche und vollumfassende Unterstützung von Sensibilisierungsprogrammen in den Herkunftsländern, insbesondere Rumänien, Bulgarien und Ungarn, um über die Gefahren des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung nach und in Deutschland aufzuklären.
Europas beliebtestes Rotlichtviertel
"Rote Karte für Freier" will neben den aufrüttelnden Berichten aus dem Alltag von (Zwangs-)Prostituierten auch mit leicht fasslichen Fakten werben für ein grundlegendes Umdenken. 56 Prozent der Männer, die Sex kaufen, leben in einer festen Beziehung. Oder: Über 62 Prozent der Prostituierten haben in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erfahren. Oder: 43 Prozent der Freier kaufen Sex zum ersten Mal in Begleitung von Freunden.
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Herbert Winzer
am 26.06.2024