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Heer gegen Kienzle

Seltsamer Sieg

Heer gegen Kienzle: Seltsamer Sieg
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Bordellbetreiber und "Bild" sind sich einig: Das war ein Sieg im Verfahren gegen die grüne Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle. Warum will der Stuttgarter Puffbesitzer John Heer dann weiterprozessieren?

Das scheint ja geklappt zu haben. Dass er daran arbeite, die "Bild" zu seinem Anwalt zu machen, hatte Heer schon vor dem Prozess gegen Kienzle angekündigt. "Puff-Besitzer gewinnt gegen Grünen-Politikerin" posaunte das Boulevardblatt in gewohnt großen Lettern nach der Urteilsverkündung am vergangenen Donnerstag. Darunter erfährt der geneigte Leser, dass Heer "liebestolle Männer" zunächst in seine Striptease-Bar "Messalina" locke und wer danach "große Lust verspürt", noch in sein Laufhaus "City Eros-Center" kann. Das möchte, im Sinne eines gemeinsamen Geschäftsinteresses (Sex sells), schon gesagt sein.

Es bleibt dabei: Kienzle gewinnt 2:1

Das Urteil des Landgerichts vom 25. Januar 2024 war klar: Zwei von drei Äußerungen Kienzles zum Stuttgarter Leonhardsviertel, die in einem Kontext-Interview gefallen waren, sind zulässig. Die Bezirksvorsteherin darf weiterhin sagen, dass Heer ein nicht genehmigtes Bordell betreibe und ein Haus im Leonhardsviertel als illegale Prostitutionsstätte nutze. Eine dritte Aussage, die sich mit einer zwischen den Parteien umstrittenen Frage der gewerblichen Zimmervermietung befasste, darf die 62-Jährige nicht wiederholen. Wie schon im Verfahren zur Einstweiligen Verfügung hat sie damit in zwei von drei Punkten Recht bekommen.

Der Kommentar von Kläger Heer war knapp und widersprüchlich. "Frau Kienzle hat verloren. Ich gehe in Berufung." Kienzles Anwalt Schickhardt nahm die Vorlage an: "Dann werden wir uns mit Verve auf Punkt drei konzentrieren." Einen Sieg in allen Punkten hält er für möglich.  (sus)

Kleiner in der Überschrift, aber die Realität widerspiegelnd, berichtete die "Stuttgarter Zeitung": "Bordelle dürfen als illegal bezeichnet werden". Tatsache war eben, dass das Landgericht Stuttgart der Bezirksvorsteherin in zwei von drei strittigen Punkten Recht gegeben hat. Nur eine Äußerung darf sie nicht wiederholen. Der Fall wurde nun schon in der dritten Runde verhandelt. Und das Landgericht Stuttgart hat sich in seiner Einschätzung der Sache nicht bewegt, sehr zum Leidwesen von Heer (siehe Kasten). Schon im einstweiligen Verfügungsverfahren wollte das Gericht Heer in den wesentlichen Punkten seiner Klage nicht folgen. In der Berufungsinstanz führten dann "Magen-Darm-Probleme" seines Anwalts gar zum Totalschaden.

Das juristische Scharmützel ist weit mehr als eine Privatfehde. Es geht um viel Geld, das Männer mit der Prostitution verdienen, um einen städtischen Bebauungsplan, der Bordelle, Animierlokale und Spielhöllen aus dem Stuttgarter Leonhardsviertel verdrängen will. Es geht um Einschüchterung und nicht zuletzt um Armutsprostitution, und damit um die Mehrheit der Prostituierten. Deutschland ist zum Bordell Europas geworden, sagen Kritiker:innen.

Die grüne Bezirksvorsteherin erlaubt sich, auch darauf einen Blick zu werfen. Ihr Anwalt Christoph Schickhardt ist stolz darauf, auf der "richtigen, auf Veronika Kienzles Seite" zu stehen. "Prostitution ist kein Geschäft für Herren, das ist das Ausnutzen der erbärmlichen Situation von Frauen", sagt der Ludwigsburger Anwalt, der sonst eher Sportgrößen vertritt. Nicht alle machen die Weltläufigkeit einer Stadt von der Anzahl ihrer Bordelle abhängig, wie etwa der FDP-Stadtrat Armin Serwani, der meint, ohne Puffs wäre Stuttgart ein "Provinzkaff".

Auch Leni Breymaier ist auf Kienzles Seite. Seit Jahren setzt sich die SPD-Bundestagsabgeordnete für ein Sexkaufverbot nach dem Nordischen Modell ein, das bei Zuwiderhandeln Freier bestraft, nicht Prostituierte. Mit Heer verbinden sie einschlägige Erfahrungen, die Drohung, sie vor Gericht zu zerren, juristisch zum Schweigen zu bringen. "Das macht er bei allen", sagt Breymaier, "die seinem Geschäft in die Quere kommen, besonders bei Frauen."

Dazu gehört auch Veronika Schürle. Sie ist Sozialarbeiterin bei der NGO "Esther Ministries", ein Stuttgarter Verein, der Prostituierten hilft, auszusteigen. Nach der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg" flatterte auch ihr eine Einstweilige Verfügung ins Haus. Im November 2023 hatte sie dort über Sexkaufverbot diskutiert, mit Leni Breymaier und John Heer, der für den Verband deutscher Laufhäuser vor der Kamera stand. Schürle hat im Studio von der Anwerbepraxis in Ländern wie Bulgarien erzählt, vom Leid der Frauen auch in der legalen Prostitution berichtet, danach kam der Brief des Anwalts. Einschüchterung läuft nicht nur über körperliche Gewalt.

Zuspruch von Herta Däubler-Gmelin

SLAPP nennt sich diese missbräuchliche Form der Klage, deren Ziel es ist, Kritiker:innen einzuschüchtern und sie mundtot zu machen: strategic lawsuit against public participation, strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung. Wer geslappt wird, – slap steht im Englischen für Ohrfeige –, muss sich auf hohe Anwaltskosten, jahrelange zermürbende Gerichtsprozesse und hohe Schadenersatzforderungen einstellen.

Die Stadt Stuttgart will ihre ehrenamtliche Bezirksvorsteherin in diesem Prozess nicht im Regen stehen lassen. Sie übernimmt die Kosten des Rechtsbeistands. Pressesprecherin Susanne Kaufmann bekräftigte nach dem Urteil, dass die Stadt Stuttgart Kienzles Engagement gegen Armutsprostitution würdige, ihren Kampf gegen illegale Prostitutionsstätten und ihr "Ziel einer langfristigen Aufwertung des Leonhardsviertels" unterstütze.

Zuspruch für die Bezirksvorsteherin kommt auch von der Elder Stateswoman Herta Däubler-Gmelin. Die ehemalige Bundesjustizministerin hat die Prostitutionsreform 2002 mitverantwortet – und fordert heute ein Sexkaufverbot. "Ich finde es richtig, dass die Stuttgarter Kommunalpolitikerin die Interessen des Leonhardsviertels vertritt – da kann man ihr nur viel Erfolg wünschen", so die SPD-Politikerin gegenüber Kontext. Es sei mehr als befremdlich, "dass die üblichen Verdächtigen der Boulevardpresse versuchen, sie mundtot zu machen". Dass die Justiz da nicht mitmacht – der Juristin gefällt's.

Nun ist der Stuttgarter Gemeinderat am Zug. Er will bis zur Sommerpause den Bebauungsplan Leonhardsviertel beschließen.

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1 Kommentar verfügbar

  • michael philips
    am 19.02.2024
    Antworten
    So sehr ich den Kampf gegen ausbeuterische Verhältnisse im Prostitutionsgeschäft unterstütze ,so schade finde ich es das Kontext in dieser Berichterstattung nicht diffenzierter berichtet , und immer wieder das nordische Modell als Vorbild anpreist. Meiner Meinung nach sollten die Rechte von…
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