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Stuttgart-Lauf

Zum Davonlaufen

Stuttgart-Lauf: Zum Davonlaufen
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Wo der Fußball herrscht, wird alles andere zur Nebensache. Auch der Stuttgart-Lauf. So ist die Stadt, einst eine "Hochburg der Leichtathletik", heute nicht mal imstande, einen Halbmarathon zu organisieren.

Stuttgart kriegt's wieder mal nicht hin. Was in Karlsruhe, Heidelberg, Ulm und vielen kleineren Ortschaften aus dem Jahres-Eventplan nicht wegzudenken ist, hat in Baden-Württembergs Hauptstadt wenig Priorität. Dabei hätte der Stuttgart-Lauf auch dieses Jahr so schön sein können. Frühsommerliche Temperaturen und Tausende Sportbegeisterte laufend, walkend oder handbikefahrend durch den Kessel. Junge, Alte, Profis, Laufanfänger:innen – völlig egal. Aber nein. Es ist EM. Fußball-EM. Und Fußball stellt alle anderen Sportarten in den Schatten. Ist ja logisch, ein Naturgesetz. Also muss – neben anderen Veranstaltungen – auch das alljährliche Laufevent dieses Jahr kürzertreten.

So konnte die 31. Ausgabe des Laufs nicht wie gewohnt zwischen Ende Mai und Ende Juni stattfinden. Denn: "Was die Terminplanung für 2024 aus dem Gleichgewicht gebracht hat, ist die Fußball-EM und der damit einhergehende Sperrkreis im Neckarpark über einen Zeitraum vom 15. Mai bis zum 15. Juli 2024", schreibt der Württembergische Leichtathletik-Verband (WLV) als Veranstalter. Es ist nun mal nicht die Zeit der Laufschuhe. Es ist die Zeit der fußballglotzenden Bierbäuche.

Die bierbauchlosen Laufbegeisterten sind enttäuscht. 10.400 Läufer:innen gingen vergangenes Jahr an den Start des Stuttgart-Laufs, viele freuten sich schon auf den nächsten. Und dann das – Ende Januar stand der Termin für 2024 fest: Der 21. Juli soll's sein, dann ist die EM vorbei und wieder Platz für anderes. Für noch größere Aufregung als der Termin sorgte die zweite gleichzeitig verkündete Hiobsbotschaft: Es wird keinen Halbmarathon (21 Kilometer) geben, denn "die Sicherheit und die Gesundheit unserer Teilnehmer" habe für den WLV "oberste Priorität". Nachvollziehbar. Wer im Stuttgarter Kessel bei über 30 Grad solch lange Strecken läuft, ist lebensmüde. Trotzdem: "Stuttgart Lauf ohne HM? Sorry ohne mich"; "Kein Halbmarathon? Dann bin ich raus"; "Stuttgart Lauf ohne 21 km. Ok, wow sehr schade, traurig und sogar enttäuschend", reagieren irritierte Läufer:innen unter dem Verkündungs-Post auf Instagram. Angekündigt sind nun ein 10-Kilometer-Lauf, ein 5,4-Kilometer-Lauf&Walk, Rennen für Handbiker:innen und verschiedene Kinderläufe.

Leichtathletik zählt hier nicht

Gegen König Fußball anzukämpfen, ist hierzulande ein Ding der Unmöglichkeit. Und das nicht ganz unbegründet: Fußball emotionalisiert. Fußball verbindet. Innerhalb von Nationen, etwa wenn Tausende Deutschland-Fans Peter Schillings "Major Tom" ("Völlig losgelöst") auf dem Stuttgarter Schlossplatz in den Nachthimmel posaunen. Oder wenn sich albanische und kroatische Fans nach einem 2:2-Unentschieden gegenseitig in den Armen liegen. Fußball schafft das Gefühl eines Miteinanders, ohne dass man sich selbst dafür sportlich betätigen muss.

Wer an einem Samstagmorgen durch den Rosensteinpark joggt, begegnet dort im Halbminutentakt Leidensgenoss:innen. Man grüßt sich, schenkt sich ein müdes Lächeln oder tauscht einen erschöpften Blick aus. Gegenseitiger Respekt, allein dafür, dass man sich aufgerafft, aus dem Bett gequält und in die Laufschuhe gehievt hat. An einem Samstagmorgen! Auch das verbindet. Ist aber anstrengender.

Und immerhin quält der Stuttgart-Lauf seine Teilnehmenden nicht mit solch schwer zu ertragenden Bildern wie von der EM-Eröffnung auf dem Schlossplatz: Ein unbeholfen wirkender OB Frank Nopper (CDU), wie er in seinem schiefsitzenden und viel zu großen Fußballtrikot Sprüche wie den vom "Vorstopper Nopper" klopft. Beim Stuttgart-Lauf übernimmt Nopper nur den Startschuss. Das Schöne daran: Dann läuft man ganz schnell los. Je schneller desto besser.

Michael Weber läuft jeden Tag seit fast 15 Jahren. Seit über vier Jahren sogar täglich mindestens fünf Kilometer. Weber ist das Gesicht der Stuttgarter Lauf-Community, er misst die Strecken für den Stuttgart-Lauf ab und ist seit Tag eins am Start. Und er ist enttäuscht darüber, dass "dem Fußball so viel Raum eingeräumt wird und die Stadt Stuttgart für uns Laufbegeisterte nicht einmal ein Laufwochenende möglich gemacht hat", sagt der 65-Jährige. Zumindest keines zu einem Zeitpunkt, an dem es die Temperaturen zulassen würden, 21 Kilometer zu laufen. Denn nicht nur das UEFA-Spektakel steht auf der Prioritätenliste über dem Laufevent, auch der Cannstatter Wasen samt Frühlingsfest, VfB-Heimspiele und die Konzertsaison sind wichtiger. Es war "ein zähes Ringen um die übriggebliebenen Restwochenenden", schreibt das Team des Stuttgart-Laufs auf dessen Webseite. "Glaubt uns, wir haben jedes in Frage kommende Wochenende betrachtet." Am Ende blieb genau eines übrig: das vom 21. Juli. "Und doch teilen wir uns dieses Wochenende mit einem Konzert in der MHP-Arena am Freitagabend und einem Mitarbeiterfest eines namhaften Automobilherstellers am gesamten Samstag."

Bye-bye Neckarstadion-Laufbahn

"Mit Wehmut denke ich an die Zeiten zurück, als Stuttgart als Hochburg der Leichtathletik galt", sagt Weber, und zählt auf: Leichtathletik-EM 1986, Leichtathletik-WM 1993, die drei Leichtathletik-Weltfinale 2006 bis 2008. Stuttgart hat es 2007 als bis heute einzige deutsche Stadt sogar zum Titel "Europäische Sporthauptstadt" geschafft. Zwei Jahre später war dann Schluss mit der Wertschätzung für die Leichtathletik: Trotz Protesten vom WLV wurde die Laufbahn im Neckarstadion entfernt und es entstand ein reines Fußballstadion. "Seither fehlen die großen Leichtathletik-Events in der Landeshauptstadt", sagt Weber.

Nun ja, wenn die Stadt Stuttgart nicht in der Lage ist, Läuferinnen und Läufern zum gewohnten Termin ein gutes Event zu organisieren, können Letztere ja ausweichen. Zum Beispiel zum Vollmond-Marathon und -Halbmarathon am vergangenen Wochenende in Berlin oder zum Halbmarathon am kommenden Sonntag in Hamburg oder München. Übrigens ebenfalls Fußball-EM-Spielstätten.

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4 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 02.07.2024
    Antworten
    Ich bin weder Fußball- noch (Halb)marathon-Fan, wundere mich aber über Klischees wie Bierbäuche in Bezug auf Fußballfans in dem Artikel.

    Freund*innen des Laufens müssen doch nun wahrlich nicht auf eine von Vereinen organisiertes Marathon warten. Die können sich doch selber Läufe organisieren…
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