Ob der Papst zwischen Freitag, als der Kontext-Podcast aufgezeichnet wurde, und heute, wenn der 102. Katholikentag in Stuttgart beginnt, noch was Weltbewegendes sagt? "Weiß man bei Franziskus nie", sagt Christian Hermes, der Stadtdekan von Stuttgart. Zum 102. Mal treffen sich bis zum Sonntag Christ:innen zur großen Sause in der Landeshauptstadt. Der Stadt, die auf Reformen pocht, sagt der Dekan, zum Beispiel die gemeinsame Eucharistiefeier von Katholik:innen und Protestant:innen. Das kommende Kirchenfest stehe im Zeichen drängender Themen: Mobilität ist so eines, Klimawandel. "Mit Corona und dem Krieg in der Ukraine hat man ja den Eindruck: Klima? Moment, war da nicht mal was?"
Auch soziale Gerechtigkeit soll ein großes Thema werden. "Es ist ein Skandal", sagt der Dekan, "wenn sich in einer Stadt wie Stuttgart nur noch sehr gut Verdienende eine Familienwohnung leisten können." In Stuttgart würden nicht nur ganze Viertel gentrifiziert, "nein, die ganze Stadt wird gentrifiziert!", sagt Hermes. Drei Viertel aller Wohnungen im Besitz der Kirche seien unter dem Mietendurchschnitt in Stuttgart – "das heißt, wenn wir sanieren, machen wir eben nicht immer hochpreisige Luxussanierungen. Einfachere Wohnstandards müssen ja nicht schlechter sein." Aber auch für die Kirche als Bauträgerin seien die Preise fürs Bauen "ins All geschossen." Im Kleinen und Großen sei alles rund um das Thema Wohnen "leicht gesagt und schwer getan".
"Wir brauchen mehr Machtkontrolle"
Zudem will die Kirche bis 2035 in ihren Gebäuden klimaneutral werden. "Ich bin sehr gespannt, wie wir das hinkriegen", sagt Hermes. Im nächsten Winter, prophezeit er, könnte so oder so manches Gotteshaus unbeheizt bleiben. Aber in Oberschwaben gebe es Barockkirchen, die nie beheizt werden können: "Da friert das Weihwasser im Winter ein." Auf lange Sicht und im Hinblick auf energetische Sanierung müsse sich vor allem der Denkmalschutz bewegen: "Wir haben uns immer angehört, dass Kirchendächer für Photovoltaik tabu sind. Aber ich sage, da müssen wir intensiver ran! Vielleicht auch mal in Clinch gehen mit dem Denkmalamt. Es gibt 53 Kirchen in Stuttgart, die sind traditionell geostet, haben also ein Süddach!" Und wären perfekt für Photovoltaik.
Die Kirche befinde sich gerade in einem "Transformationsprozess", sagt Hermes, "und das ist noch freundlich formuliert. Die Volkskirche klassischen Zuschnitts zerbröselt seit Jahren. Wir verlieren in Stuttgart dreieinhalbtausend Katholiken pro Jahr." Hermes vergleicht das mit einem Pool: "Irgendwann denken Sie, es war doch mal tiefer, und dann stoßen Sie mit den Knien an und merken, dass da irgendwas nicht stimmt." Dieser "Sterbeprozess" sei "unfassbar schmerzhaft". Sicher ist: Die Kirche müsste reformiert werden. Stichwort Kardinal Woelki, Stichwort sexueller Missbrauch: "Wir müssen über Strukturen und Machtstrukturen sprechen. Wir brauchen mehr Machtkontrolle, Transparenz und Gewaltenteilung."
"Unter Krieg leiden immer alle"
Der Katholikentag in Stuttgart steht dieses Jahr auch im Zeichen des Krieges in Europa. Krieg sei immer eine Niederlage der Menschheit, habe Johannes Paul II anlässlich des Irakkriegs einmal gesagt, und das gelte nach wie vor. "Unter Krieg leiden immer alle", sagt Hermes. "Auch die russischen Soldaten. Aber klar ist, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, sich zu verteidigen." Keine Waffenlieferungen an die Ukraine würde der Dekan für "verantwortungslos" halten.
"Erleben meine Enkel mal eine Päpstin?", fragt Stefan Siller. Da lacht Hermes. Wann die käme, das wage er mal lieber nicht zu sagen. "Aber alle reaktionären Kräfte in der Kirche oder auf diesem Planeten, vom Vatikan bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, sollten nicht der Täuschung erliegen zu sagen, 'ach, das mit der Gleichberechtigung war so eine Mode'. Nein, das wird eine Existenzfrage sein. Ich bin mir nicht sicher, ob die Kirche die Kurve kriegt." Wenn nicht, sei das eine fatale Falle, sagt Hermes, und fragt sich, ob die nicht schon teilweise zugeschnappt ist, beispielsweise bei der religiösen Rechten, den Evangelikalen, in den USA. Dort gelte teils: "Der Feind ist gegen Religion und für Gendergerechtigkeit, und deshalb müssen wir beides bekämpfen. Das ist verheerend. Ich möchte für eine Kirche stehen, die auf der Höhe der Zeit und auf der Höhe der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte steht."
Mehr im Podcast.
Der 102. deutsche Katholikentag beginnt heute, Mittwoch, und endet am Sonntag, dem 29. Mai. Programm gibt's hier.
1 Kommentar verfügbar
Dietmar Schott
am 29.05.2022Nachdem ich von den Massengräbern indigener Kinder in Kanada erfahren habe, die man in der Nähe von…