Zwei Weltkriege sind von deutschem Boden ausgegangen. Und doch gibt es auch in der jüngeren deutschen Geschichte Gruppierungen und Personen, die dem blutigen Wahnsinn die Gefolgschaft versagt haben. Die bedeutendsten Persönlichkeiten, die im frühen 20. Jahrhundert ihre Stimme erhoben gegen den Rückfall in die Barbarei erhoben, kamen aus den Reihen der Friedensbewegung, und besonders hervorzuheben ist hierbei Otto Umfrid. Kein evangelischer Theologe hat sich im preußisch-deutschen Kaiserreich so tatkräftig für den Erhalt und Ausbau des Friedens eingesetzt wie er. Und zweifellos ist Ludwig Quidde, 1927 Friedens-Nobelpreisträger, zuzustimmen, der über Umfrid schrieb, dass er vor 1914 "mehr als irgendein anderer Reichsdeutscher für die Friedenssache gewirkt" hat.
Am 2. Mai 1857 in der württembergischen Stadt Nürtingen als Sohn eines Rechtsanwalts geboren, entwickelt Umfrid bereits in der Kindheit einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Nach dem Besuch des Gymnasiums führt ihn das theologische Studium ins "Stift" nach Tübingen. 1879 besteht er die erste, 1884 die zweite Dienstprüfung. Nach dem Vikariat übernimmt Umfrid zunächst das Pfarramt in Peterzell im Schwarzwald. Seit 1888 verheiratet, entstammen seiner Ehe vier Kinder, ein Sohn und drei Töchter. 1890 wird er Stadtpfarrer in Stuttgart. Seine Predigten erschüttern die Zuhörer. Soziale Missstände gibt er dem grellen Licht alter Wahrheiten preis. Als er zu dem Wort des Propheten Jesaja ausführt, der Arbeiter habe ein Recht auf Arbeit, Ruhe, ausreichenden Wohnraum und entsprechenden Lohn, wird ihm vorgeworfen, Unmut zu erregen. Umfrids Antwort: "Unser Herr Christus hat auch Ärgernis gegeben" und uns beauftragt, "dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen."
Durch Beschäftigung mit dem Elend zum Pazifismus
Vom gleichen Holz ist Umfrids "Arbeiter-Evangelium", eine 1893 veröffentlichte Schrift, die, programmatische Gedanken zur Arbeiterfrage enthaltend, seine christlich-soziale Grundhaltung unterstreicht. Von tätiger Nächstenliebe zeugen seine Mitarbeit im Stuttgarter "Evangelischen Arbeiterverein" und seine Wirksamkeit als Schriftführer im "Verein für Notstandsfälle auf dem Lande". Seine religiöse Stellung und die Beschäftigung mit dem sozialen Elend, sein "Tatchristentum" und das Empfinden für die ausgebeuteten Schichten des Volkes führt ihn zur pazifistischen und internationalen Arbeit. 1894 wird er Mitglied der Stuttgarter Ortsgruppe des von Franz Wirth i1888 gegründeten "Frankfurter Friedensvereins". Umfrid findet zehn Personen vor, acht Männer und zwei Frauen, die sich in einem Klublokal über den Weltfrieden unterhalten. "Wenn wir etwas erreichen wollen", sagt er den Anwesenden, "so müssen wir in die Öffentlichkeit hinaus und Volksversammlungen abhalten." Umfrid wird zum Pionier der bislang im süddeutschen Raum schwach verankerten Friedensbewegung. Er predigt, nachdem er allsonntäglich bereits zwei bis drei Gottesdienste hinter sich hat, für den Frieden, hält außerhalb Stuttgarts bis zu 24 Vorträge im Jahr und gründet so etwa zwanzig Ortsgruppen der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG).
Neben seiner Stabführung als Pastor entwickelt Umfrid eine umfangreiche publizistische Tätigkeit. Von 1899 bis 1908 gibt er den "Friedens-Boten" heraus, einen pazifistischen Volkskalender, der die Gedanken der Friedensgesellschaft in jedes Haus tragen will. Weniger volkstümlich, aber gleichwohl von hohem Anspruch und an das Rechtsgefühl der Massen appellierend, gestaltet sich seine Tätigkeit als Herausgeber der "Friedensblätter" (1899–1910) und der Zeitschrift "Der Völkerfriede" (1910–1919), den Organen der DFG. Umfrid selbst verfasst die meisten Beiträge. Dem Suttnerschen Organ "Die Waffen nieder!" leiht er ebenso seine Stimme wie später der "Friedens-Warte" von Alfred Hermannn Fried und vielen anderen Zeitschriften.
Im Jahre 1900 trägt die DFG dem "Propheten des Friedens" (Hans Wehberg) Rechnung und verlegt ihre Geschäftsstelle von Berlin nach Stuttgart. Umfrid wird zum Vizepräsidenten der DFG gewählt. Seine Rednertätigkeit macht ihn nun in ganz Deutschland bekannt. Und seine Teilnahme an den Weltfriedenskongressen in Rouen (1904), München (1907), London (1908) und Stockholm (1910) trägt ihm hohes Ansehen in der internationalen Friedensbewegung ein.
Großer Einfluss: Philosoph Karl Christian Planck
Umfrids soziales und politisch-pazifistisches Engagement beruht auf einer christlich-ethischen Gesinnung, die ihre prägende Kraft aus der Ideenwelt Karl Christian Plancks (1819–1880) schöpfte. Wie Planck ist Umfrid, der das Gedankengut des schwäbischen Philosophen mit dem Buch "Wandlungen deutschen Denkens und Wollens" (1917) in eine neue Zeit der Republik hinüberzuretten sucht, nicht geneigt, die bereits vom Urchristentum als gegeben hingenommene Staatsordnung anzuerkennen. Vielmehr sieht er es als Aufgabe der Menschen an, eben gerade die Staatsverfassung im "christlichen Sinne" umzugestalten. Weder Macht und Gewalt noch Blut und Eisen hätten vor Recht und Frieden zu stehen. Das Christentum habe den Auftrag, das Reich Gottes, nicht das Wahngebilde machtlüsterner Potentaten und die "Realpolitik" willfähriger Handlanger zu verwirklichen.
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Klaus Philippscheck
am 30.08.2023