Die "Querdenker" drehen die Münze einfach um. Die Angst- und Panikmache, die sie den Massenmedien vorwerfen, ist bei ihnen der Horror eines totalitären Staates. Dafür gibt es zwar keinen rationalen Unterbau – aber das braucht die Meinungsmache auch nicht. Wer als Unbeteiligter hier vorbeischlurft und sich ein Stündchen dazustellt, könnte meinen, wir hätten chinesische Verhältnisse. "Absolutes Politikversagen", Meinungsfreiheit "extrem gefährdet", "Zensur" hallt es aus den Hälsen.
Es sind Ungewissheit und Existenzängste, die die Leute auf die Straße treiben. Dann schlägt die Stunde der rechten Rattenfänger. Christina Baum blieb in ihrem Ton hingegen noch gemäßigt. Heinrich Fiechtner, parteiloser Ex-AfDler, sagte bei der Berlin-Demo Ende August: "Wie in einer guten Armee bleibt jeder an seinem Gefechtsstandort, und von dort werden wir weiter kämpfen!" Die Berliner "Querdenker" ermahnten ihn jedoch umgehend, im "Wortlaut der Liebe" zu bleiben. Fiechtner hätte auch am Samstag in Bühl gesprochen, sagte aber kurzfristig ab.
Noch deutlicher wurde Ex-AfDler Stefan Räpple am 26. September ebenfalls auf einer Anti-Corona-Demo in Mainz. Er brüllte ins Mikrofon: "Wir müssen die Regierung zuallererst stürzen! Und zwar mit Gewalt! Es geht nicht gewaltfrei. Wir müssen um unser Recht kämpfen. Wir müssen uns gewaltsam Zutritt zum Kanzleramt verschaffen. Wir müssen die Regierungsstuben räumen!" Nachdem seine Aussagen publik wurden, schloss die AfD ihn aus der Partei aus. Kurz danach verkündete auch Räpple seinen Austritt.
Abweichung vom Manifest
Was die "Querdenker" in Bühl an der aktuellen Corona-Politik oder der angeblichen "Gleichschaltung" der Medien verbessern würden – Konkretes wird wenig genannt: Einer wünscht sich "ehrliche Wahrheiten". Eine Menschenkette gegen Schluss der Veranstaltung (nicht ganz so rekordverdächtig wie in Konstanz) trällert das berühmte US-Protestlied "We shall overcome". Veranstalter Eduard Meßmer hat eine wenig revolutionäre, aber plausible Idee: einen runden Tisch mit verschiedensten VirologInnen. Er wünscht sich zudem eine Basisdemokratie nach Schweizer Modell. Die Corona-Rebellen auf dem Platz werden hingegen nicht müde, kritisches Denken zu betonen, wie wichtig ihnen das sei. Da wäre es doch spannend, parallel ihre "Fakten" auf ihrer Demo prüfen zu lassen.
Hinsichtlich Baums Auftritt äußert sich Michael Ballweg, "Querdenker"-Gründer und OB-Kandidat für Stuttgart, auf Anfrage unbeeindruckt: "'Querdenken' ist eine überparteiliche Bewegung. Dazu haben sich alle Initiativen in einem gemeinsamen Manifest verpflichtet. Warum die Initiative in Bühl sich nicht daran gehalten hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Wir werden die Verantwortlichen auf das Manifest hinweisen." Ex-Polizist Meßmer behauptet bei der Veranstaltung, lokale PolitikerInnen aller Parteien seien eingeladen gewesen. Es habe halt nur die AfD zugesagt. Auf Kontext-Nachfrage versichern die von Meßmer genannten Abgeordneten – Whittaker (CDU) sowie Katzmarek (SPD) –, tatsächlich eine Einladung erhalten zu haben. Jedoch in Form einer allgemeinen Anfrage, nicht für den Samstag. Im Abgeordneten-Büro von Whittaker liegt lediglich eine Einladung für vergangenen Mai vor. Bei Katzmarek wurde ein Redebeitrag im Juli angefragt; sie lehnte dies generell ab. Fairerweise: auch mit Einladung wären nicht alle PolitikerInnen gekommen. Auch die Ortsverbände von CDU, SPD und Grüne bestätigen der Redaktion gegenüber, keine Anfrage im Postfach liegen zu haben. So wird das hehre Ziel der Überparteilichkeit schwer erreichbar – und der AfD in die Hände gespielt.
Die AfD dürfte dank Zahnärztin Baum und der Bühne, die man ihr bot, einige WählerInnen gewonnen haben. Noch ist der Ton gemäßigt. Doch vor einer Vereinnahmung der Bewegung durch Extremisten warnt mittlerweile selbst der Verfasssungsschutz – in Hessen, NRW und in Berlin. In Baden-Württemberg noch nicht.
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bedellus
am 14.10.2020