Imposante Menschenketten haben in Baden-Württemberg eine gewisse Tradition. So schlossen sich am 10. September 2010, im Zuge der Protestbewegung gegen Stuttgart 21, knapp 70.000 Demonstrierende in der Landeshauptstadt zusammen. Doch es geht noch größer: Etwa am 22. Oktober 1983, als circa 400.000 Menschen eine Kette von Stuttgart bis nach Neu-Ulm bildeten, 100 Kilometer lang, um gegen die geplante Stationierung von Atomwaffen zu protestieren. Die Messlatte liegt also hoch. Doch Gerry Mayr – Extremsportler, Motorrad-Experte und umtriebiger "Querdenker" –, hat schon zahlreiche Rekorde gebrochen. Um nur einige Verdienste aufzulisten: Im Guinness-Buch der Rekorde landete er bereits 1997, als er die Panamericana, eine Strecke von fast 24.000 Kilometern, mit einem Pick-Up zurücklegte. Schneller als alle anderen, umrundete Mayr 2001 das östliche Mittelmeer mit einem Kleinlaster. Und 2018 setzte er sich auf einen Quad mit Anhänger und fuhr vom Bodensee nach Benin, 10.000 Kilometer weit.
Vergangenes Wochenende, so schien es zumindest, startete der Rekordjäger den nächsten Anlauf, sich einen weiteren Eintrag im Guinness-Buch zu sichern: Diesmal allerdings ohne Vehikel, sondern mit der ersten Menschenkette, die durch vier Länder führt. Und wenn es dann mit der angepeilten Teilnehmerzahl von 250.000 Personen klappt, den ganzen Bodensee zu umrunden, wäre das "die längste Friedenskette, die es in Deutschland je gab", behauptete Mayr im "Südkurier". Statt der erhofften Viertelmillion beteiligten sich dann aber laut Polizei nur etwa 11.000 Menschen an der Aktion. Stimmt nicht, meinen die Veranstalter und verkünden auf ihrer Website: "Mit 25.000 Menschen im Abstand von 3 Meter ist uns es vermutlich gelungen eine Friedenskette von ca. 75 Kilometer Länge zu realisieren." Nach Adam Riese wäre es mit der eigentlich angestrebten Teilnehmerzahl, die um ein zehnfaches höher lag, also nicht nur gelungen, den Bodensee zu umrunden, sondern weiter bis nach Straßburg – das fünfte Land für den Weltrekord! – zu menschenketten, dann auf einen Schlenker nach Brüssel, und von dort aus ab nach Rotterdam, wo immer noch rund 70 Kilometer Budget verblieben, um ein paar Mal die Innenstadt einzukesseln.
Beim Guinness-Buch weiß man von nichts
Die Kalkulationen scheinen also auf wackligen Beinen zu stehen. Noch kurioser gestaltet sich die sonderbare Gemengelage durch eine Anfrage beim Guinness-Buch. Eigentlich müsste Mayr als alter Hase ja bestens Bescheid wissen, wie man einen Rekordversuch geltend macht. Auf Anfrage der Redaktion versichert eine Sprecherin jedoch, dass das Event – auch wenn die Veranstalter mit dem Logo warben – "kein offizieller 'Guinness World Records'-Titelversuch" sei, und auch keine Gutachter des Guinness-Buchs vor Ort waren. Stattdessen liest sie den "Querdenkern" die Leviten: "Wegen der Gesundheitsrisiken, die die gegenwärtige Covid-19-Pandemie mit sich bringt, empfehlen wir allen Bewerbern und Bewerberinnen nachdrücklich, die örtlichen Gesundheitsbehörden zu konsultieren, bevor sie entscheiden, ob sie einen solchen Versuch starten wollen." Zuletzt darf der Hinweis nicht fehlen, dass der gegenwärtige Rekord für die längste Menschenkette am 11. Dezember 2004 aufgestellt wurde, mit etwa fünf Millionen Beteiligten, gut 1.000 Kilomter lang, von Teknaf nach Tentulia in Bangladesh.
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Ulrich Hartmann
am 08.10.2020Reichsbürgerdenken…