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"Wir sind alle Risikogruppe"

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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Sie sind jung, sie sind zornig und kreativ. In der realen und der digitalen Welt haben sich am Freitag Zehntausende Fridays-for-Future-UnterstützerInnen deutschlandweit am Klimastreik beteiligt. Nach ihrem Stress mit der Polizei darf die Stuttgarter Ortsgruppe liebe Grüße aus Absurdistan versenden.

Alles richtig gemacht, so richtig, dass es schon fast peinlich angepasst wirkt: Die Fridays for Future Stuttgart haben die Corona-Verordnungen des Landes gelesen, sie haben nachgedacht, diskutiert und getüftelt. Sie haben sich für eine nicht nur gesundheitlich unbedenkliche Aktionsform entschieden, in Zweiergruppen mit Abstand und Genehmigung vom Ordnungsamt, versteht sich. Ausgehend vom Marktplatz in der Stadtmitte wollten sie über den Tag verteilt auf sich aufmerksam machen und die StuttgarterInnen einladen, auf mit bunter Sprühkreide markierter Route an klimarelevanten Orten vorüberzuflanieren und sich Gedanken zu machen über die andere Krise, in der alle Menschen auf der ganzen Welt Risikogruppe sind.

Zur Verteilung von Bannern und Plakaten und Bildern, die die einzelnen Stationen zieren sollten, trafen sich 20 Aktivisti, so die Eigenbezeichnung, und verteilten Materialien unter den Augen von PolizeibeamtInnen. Der Kontakt war zunächst entspannt, so entspannt jedenfalls, dass die danach vorschriftsmäßig gebildeten Zweiergruppen, ausgestattet mit Allltagsmaske, ungehindert losziehen konnten in verschiedene Richtungen. Niemand schritt ein, die Dinge nahmen einen guten Lauf – bis Photoment ins Spiel kam.

Photoment? Im Dorotheenquartier sind 12.000 Quadratmeter Pflastersteine verlegt, zum Beispiel aus Fellbacher Quarz. Und die sind behandelt mit Photoment, einem Stoff, der ausgerechnet auch noch einen positiven Effekt auf die Umwelt hat. "Durch Photokatalyse werden giftige Stickoxide über eine lichtabhängige Reaktion unschädlich gemacht", freuen sich die Vertreiber. Nur leider wird die Wasserlöslichkeit von Sprühkreide verändert. Was aber niemand wusste, weder das Ordnungsamt, noch die Aktivisti und schon gar nicht die Aufpasser an der Pforte des Verkehrsministerium, die prompt die beiden jungen Leute als Vandalisti identifizierten und dann die Polizei riefen.

Neue BeamtInnen – ohne Alltagsmasken –, neues Kapitel. Nach einigem Hin und Her ("Was machen Sie hier? – Wir haben eine Genehmigung für unsere Aktion! – Für die Sprühkreide? – Die ist wasserlöslich! – Wirklich? – Ja!") kamen Wasser und Schrubber zum Einsatz. Und offensichtlich war selbst dem Ordnungsamt entgangen, was da verlegt worden ist im Edel-Dorotheenquartier zwischen Markthalle und B14. Denn die Wasserlöslichkeit war nicht auf Anhieb zu beweisen, und FFF Stuttgart stand mit einem Mal ganz schön unter Druck. Vor allem weil sie nicht in Zweiergruppen aufgehalten wurden, sondern sogar zu fünft – und damit urplötzlich eine zu große und somit verbotene Ansammlung bildeten.

Das änderte alles: Die Personalien wurden aufgenommen und die Hände zur Beweissicherung fotografiert. Zehn Minuten der Versuch, zu argumentieren, zwanzig Minuten, dann noch länger, irgendwann wurde ein Platzverweis für das ganze Dorotheenquartier ausgesprochen. Ohne Rechtsbelehrung, wie alle Betroffenen berichten, die sich nicht sehr respektvoll behandelt fühlten.

Anzeige ist raus!

Und damit ist die Geschichte noch nicht einmal zu Ende, denn nach der Rückkehr auf den Marktplatz wegen schon vereinbarten Presseterminen galten Duos trotz Abstandsregeln nicht mehr als solche, sondern als Gruppe. Wieder Palaver, weil zu fünft. Sogar die Corona-Verordnung wird aus dem Einsatzwagen herbeigeschafft, ihre Lektüre hilft aber erst recht nicht weiter. Später kommt es anderswo in der Stadt ebenfalls zu Kontakten mit der Polizei – ganz anderer Art wie tags darauf auf dem Schlossplatz, als mehrere Hundert Menschen, von Auflagen weitgehend unbehelligt und ohne Sicherheitsabstände auch nur ansatzweise einzuhalten, demonstrieren konnten. Aber das nur nebenbei. Bei den Klima-Aktivisti meldet sich später eine Spaziergängerin und erzählt, dass auch ihre Personalien aufgenommen wurden, als sie – allein unterwegs – an einer der Stationen die Kreidebilder fotografierte.

"Wir sind erschüttert", heißt es in einer Stellungnahme von FFF Stuttgart, "entgegen all den Absprachen wurde legitimer Protest am Freitag unterbunden. Es wurde versucht, unseren Protest unkenntlich zu machen. Infektionsschutz – der von unserer Seite zu jeder Zeit gewährleistet war – kann nicht das Ziel der Polizei gewesen sein. Wir fühlen uns schikaniert." Und weiter: "Noch einmal möchten wir betonen, dass wir alle Anstrengungen unternommen haben, den Aktionstag sicher zu gestalten und Missverständnissen vorzubeugen: 1. Wir haben uns eingehend überlegt, wie wir für Klimagerechtigkeit protestieren und dabei den Infektionsschutz einhalten können. 2. Wir haben den Protest im Detail rechtzeitig und gewissenhaft mit den zuständigen Behörden abgesprochen. 3. Wir haben uns zu jedem Zeitpunkt entsprechend unserer Ankündigung verhalten. 4. Wir haben dafür Sorge getragen, nach 18 Uhr sämtliche Materialien wieder mitzunehmen – und dies auch unmissverständlich so kommuniziert."

Das Verkehrsministerium, weitgehend im corona-bedingten Homeoffice, kann den Vorgang weder bestätigen noch dementieren, die Polizei gibt sich gelassen und teilt mit, es gebe Anzeigen wegen des Verdachts auf Sachbeschädigung. Wie auch nach dem Vorfall am Landtag. Dort war ebenfalls die abwaschbare Sprühkreide zum Einsatz gekommen, was der Hausherrin gar nicht gefallen konnte. "Es gibt weitaus erfolgreichere Möglichkeiten, sich mit Politikerinnen und Politikern auszutauschen", ließ Muhterem Aras (Grüne) schriftlich ausrichten. "Eure Politik ist Heuchelei", hatten die Aktivisti auf die geschwungene Glasfront des Bürger- und Medienzentrums gesprüht. Ein Vorwurf, der in Nach-Corona-Zeiten reichlich Stoff für einen fruchtbaren Dialog bieten würde.

Der Spaziergang und das, was daraus wurde, wirken nach. Weil die FFF- KämpferInnen der Bürgerschaft doch immer möglichst niederschwellige Formen der Beteiligung anbieten wollen. Gerade jungen Menschen ohne Erfahrungen mit Demos und erst recht mit der Polizei. Rechtsberatungstechnisch wollen sie jedenfalls aufrüsten und besser gewappnet sein, wenn ein Beamter kommt und Hände fotografieren will. An der prinzipiellen Herangehensweise kann sich aber gar nichts ändern, sagen sie, weil das Problem mit der Erwärmung des Planeten so drängend ist, immer größer statt kleiner wird und auch in Zeiten einer Pandemie nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden darf.

Dürre und Waldbrände schon im April legen Zeugnis davon ab. So grün wie in Stuttgart ist es in anderen Teilen Mitteleuropas seit Wochen nicht mehr. Wer's nicht glauben will, kann's jederzeit sehen. Tag und Nacht, am besten immer und immer wieder: unter www.fridaysforfuture.de oder direkt auf dem Youtube-Kanal der Bewegung ist – ganz Corona-angepasst – ein digitales Klimabildungsprogramm gestartet. Und wenn da möglichst viele mitmachen, könnte dem Globus wenigstens nicht mehr viel wärmer werden.


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23 Kommentare verfügbar

  • chr/christiane
    am 14.10.2020
    Antworten
    Danke, Kontext, dass Sie meine Kommentare bezüglich Jugendschutzgesetz und Klimademos nicht freigeschaltet haben.

    Dadurch musste ich mir andere--demokratischere-- Medien aussuchen. RBB hat einen Kommentar mit Bezug auf das Jugendschutzgesetz freigeschaltet.
    Dadurch ist meine Reichweite bzgl.…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 12 Stunden
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