Es gab eine Zeit, da hatte Jürgen S.* das Gefühl, verrückt zu werden. Da waren all diese verstörenden Bilder in seinem Kopf. Das Fenster. Der verschwommene Himmel dahinter. Die voll besetzte Kirche. Der Schoß des Paters. Der raue Stoff der Mönchskutte auf seinem Schenkel. "Was ist wahr? Was bilde ich mir ein? Manchmal hatte ich Angst, ich könne mir selbst nicht mehr trauen", sagt der heute 61-Jährige.
Rückblende in den Spätherbst 2006. Nach einigen schwierigen Jahren im Dienst beginnt Kriminalhauptkommissar Jürgen S. eine Therapie. Die damalige Diagnose: Burnout. In den Sitzungen kommt Stück für Stück eine ganz andere, lange verdrängte Wahrheit heraus: S. ist im Alter von neun Jahren als Ministrant im Kloster Birnau missbraucht worden. Mehr als 50 Mal und das über fast zwei Jahre lang. Immer zwischen den Messen am Sonntag, manchmal auch samstags, wenn gerade eine Hochzeit war.
Der damals 26-jährige Pater Gregor Müller lockt ihn mit Briefmarken auf sein Zimmer. Dort hebt er den Buben auf seinen Schoss, greift in die Hose des Jungen und redet dabei von Ehevorbereitungen und Problemen bei Vorhautverengungen. "Er hat gesagt, er könne das heilen durch Handauflegen. Ich hatte als Bub keine Ahnung, was da passierte, ich ließ es einfach geschehen", sagt S. heute. Der 61-Jährige, weiße Schläfen, wache Augen, drei tiefe Falten auf der Stirn, hat gelernt, über seinen Missbrauch zu reden. Seine Stimme bleibt dabei fest. Sie überschlägt sich nur etwas, wenn er sich über die Kirche aufregt.
Im Dezember 2006 meldet Jürgen S. seinen Fall der Erzdiözese Freiburg. Wenige Tage später bekommt er einen handgeschriebenen Brief des Täters, in dem dieser sich entschuldigt. S. entscheidet, dass er mit dem Pater reden will, "um ihm zu sagen, was für ein Schwein er war." Also ruft er ihn an. Der Geistliche redet sich raus. Sagt, es tue ihm leid, und es sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Zu dem Zeitpunkt ahnt Jürgen S. bereits, dass das nicht stimmen kann: Auch andere Ministranten hatten Briefmarken vom Pater bekommen. S. legt auf. Danach wendet er sich noch einmal an die Erzdiözese Freiburg: Er bittet um Aufklärung und vertraut darauf, dass sich jemand kümmern wird.
Er will Aufklärung und bekommt nur ausweichende Antworten
Vier Jahre lang wird er danach nichts mehr davon hören. Weil seine eigene Ehe in Trümmern liegt, schiebt auch Jürgen S. das Thema einstweilen zur Seite. Erst als er 2010 Berichte über die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg liest, fängt alles wieder von vorne an. Da sein Fall strafrechtlich verjährt ist, strengt er eine Kirchenklage unter anderem gegen den Täter und den damaligen Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch an. Die Erzdiözese Freiburg ist ihm dabei keine große Hilfe. S. will Aufklärung und bekommt nur ausweichende Antworten.
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Jürgen S.
am 13.04.2019