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Solidarität rettet Leben

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Die Finanzkrise brachte das Gesundheitssystem Griechenlands an den Rand des Kollaps. Weil die staatliche Versorgung versagt, kümmern sich ehrenamtliche Sozialkliniken im ganzen Land um Kranke und Bedürftige. Mittendrin: ein pensionierter Lehrer und Gewerkschafter aus Böblingen.

Der Widerstand wohnt bei Böblingen. Versteckt zwischen Vorgärten und parkenden Autos wohnt Hauke Thomas. Er ist 73 und war früher Lehrer. Thomas spricht viel, erklärt gerne – das Unterrichten kann er einfach nicht sein lassen. Immer wenn er seinem Gegenüber etwas Neues vermittelt, macht er eine kurze Pause, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Philosophie, Ethik und Alte Sprachen hat er gelehrt, Griechisch und Latein zum Beispiel. Ein Thema, das ihn seit dem Ruhestand viel beschäftigt, ist das Projekt der Sozialklinik Kalamata. Von dort stammt seine Frau.

Der Küstenort mit rund 70 000 EinwohnerInnen ist ein Paradebeispiel für die massiven Probleme eines Landes, in dem Menschen keine medizinische Behandlung erhalten, sogar sterben, weil der Staat nicht mehr in der Lage ist, seine Bürgerinnen und Bürger zu versorgen. Aufgrund der Krise kam es zu brutalen Kürzungen im Gesundheitssektor. Die Folgen: Ärztemangel, Engpässe bei Medikamenten, defekte Geräte. Die Sozialklinik, erzählt Hauke Thomas, kümmere sich um Notleidende. Um Menschen, die sich teure Medikamente nicht leisten können oder für deren Krankheit es schlicht keinen Spezialisten im staatlichen Krankenhaus gibt. Alltag in Griechenland, in Europa, auch 2019. "Die Verhältnisse sind schreiend ungerecht", sagt Hauke Thomas. Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete werden dort versorgt, sie haben oft keinerlei Zugang zu medizinischen Leistungen. Die Solidar-Klinik wurde im Mai 2012 gegründet, nach einer politischen Reise des GEW Kreisverband Böblingen, Attac und den DGB hatte Ex-Lehrer Thomas auch im Gepäck. In allen drei Organisationen ist er aktiv.

Besser, aber nicht gut 

"Ich bin ein Alt-68er", sagt der 73-Jährige. Engagement ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die Sozialklinik in Kalamata – seit Oktober letzten Jahres eine soziale Arztpraxis – hat in knapp sieben Jahren Bestehen etwa 9 000 Kranke behandelt und rund 20 000 Untersuchungen gestemmt. Alles gebührenfrei, alles ehrenamtlich. Kein Arzt, keine Krankenschwester, niemand, der dort arbeitet, bekommt Geld. Sie alle schuften in ihrer Freizeit. Auch die Putzfrauen bekommen keinen Cent. Medikamente werden von der Bevölkerung gestiftet oder bei Bedarf von anderen Sozialkliniken beschafft. Die Praxis ist auf Spenden angewiesen.

Hauke Thomas reist jedes Jahr mit seiner Frau Theodora nach Kalamata. Danach schreibt er einen Bericht für den Europakongress Böblingen, ein Konstrukt der Ortsverbände von Attac, dem DGB, der GEW, und Verdi. Thomas muss jährlich aufs Neue begründen, warum es die Sozialpraxis weiterhin braucht, und weshalb sie immer noch auf Spenden angewiesen ist. So hat sich die Soli-Klinik seit ihrer Eröffnung Mitte 2012 finanziert.

Vor ein paar Jahren, als der Bedarf noch größer war, wurden im Schnitt 60 PatientInnen pro Woche behandelt. Jetzt sind es zirka 60 im Monat. Dennoch ist die Notwendigkeit des Projekts ungebrochen. Hauke Thomas erzählt ruhig und in sich gekehrt. Das Projekt, sagt er, sei nicht bloß eine gut gemeinte Hilfsinitiative. Die Idee ist Kind der Krise. "Der Hintergrund ist nicht humanitärer oder karitativer Natur." Man verstehe sich als politisch motivierte Bewegung. 

Mangelwirtschaft als Normalzustand

Zwei große Unterstützer-Netzwerke, eins mit niedergelassenen Ärzten, eins mit Apothekern, hält die Initiative am Leben. In den Krisenjahren wurden nicht versicherte Patienten überhaupt nicht versorgt. Erst die Regierung unter Syriza-Sympathieträger Alexis Tsipras hat sich dafür stark gemacht. Das begrüßt auch GEW- und Attac-Mitglied Hauke Thomas. Dennoch: Menschen ohne Sozialversicherungsnummer bekommen nach wie vor keine Behandlung, sie sind auf die Sozialpraxis angewiesen. 

Auch Impfungen für Kinder macht die solidarische Arztpraxis regelmäßig – nach 2012 haben viele Eltern bei ihrem Nachwuchs darauf verzichtet, um zu sparen. Zwar hat sich die Lage in den vergangenen Jahren etwas entspannt, doch so etwas wie Normalität ist auch im neunten Jahr der Krise noch nicht eingekehrt. Ein normaler Klinikbesuch ist mit lähmend langen Wartezeiten, unzureichender Ausstattung und hohen Selbstbeteiligungen für arme Menschen verbunden.

Mangelwirtschaft ist Alltag in dem südeuropäischen Staat. Die Krankenhäuser in öffentlicher Hand haben kaum Spezialisten. Joachim Genth, der über 30 seiner 74 Lebensjahre in Griechenland verbracht hat, hat das im vergangenen Jahr schmerzlich zu spüren bekommen. Am Telefon erzählt er, ein Freund sei frühzeitig an Krebs gestorben, da die benötigten Medikamente nicht vorhanden waren. Die staatlichen Krankenhäuser hätten nicht helfen können. Genth, ehemals Arzt in Deutschland, baut jetzt Oliven in Mani an, einem Landstrich südlich von Kalamata. "Die Situation hier ist nach wie vor katastrophal. Wir sind auf dem Stand eines Entwicklungslandes", sagt der ehemalige Arzt, der schon in den 90ern albanische Auswanderer in Berghöhlen behandelt hat. 

"Zustände wie seit dem Krieg nicht mehr" 

Als Hauke Thomas vor einigen Jahren einen Telefonanruf seiner Schwägerin aus Kalamata bekam, wusste er, dass die Lage ernst ist. Die Kinderärztin und Chefärztin bekam von einem Moment auf den anderen ihr Gehalt um die Hälfte gekürzt. 1 500 bis 2 000 Euro monatlich sind seither keine Seltenheit mehr für eine Chefarzt-Position. Tausende Ärzte und Ärztinnen wanderten infolge der Krise aus Griechenland aus, zahlreiche Stellen sind vakant.

Anastasios Poulopoulos, 65 Jahre alt, ist geblieben. Auswandern komme für ihn nicht mehr infrage, schreibt er per Mail, dafür sei er zu alt. Poulopoulos möchte nicht telefonieren, dafür sei sein Englisch zu schlecht – und Kommunikation mit der Presse für ihn eine "sehr ernste Angelegenheit". Er möchte genau vermitteln, was in seinem Land nicht funktioniert. Er ist Teil des Unterstützter-Netzwerks, auch wenn er nur noch sporadisch aushilft. Die Solidar-Klinik sei damals sehr schnell aufgebaut worden, verschiedene Mediziner-Vereinigungen der Region hätten sich zusammengeschlossen. Eine "Graswurzelbewegung" nennt es Poulopoulos. Reagieren auf die Doppelbelastung war das Gebot der Stunde. Notleidende Griechinnen und Griechen sowie Geflüchtete, dazu die Kürzungen im Gesundheitssektor, alles kam zusammen – eine Lösung musste her. 

Nicht nur in Kalamata, sondern im ganzen Land wurden Behelfskliniken hochgezogen (Mehr dazu <link https: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand bitten-sie-frau-merkel-um-eine-spende-2342.html _blank internal-link>hier und <link https: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand groesser-und-bunter-eine-klinik-trotzt-der-krise-2560.html _blank internal-link>hier und <link https: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand efharisto-aus-der-solidarklinik-3113.html _blank internal-link>hier.) "Wir haben hier Zustände gehabt, die man seit dem Krieg und der deutschen Besetzung nicht erlebt hat", sagt der Arzt. Poulopoulos gehört zu den Enttäuschten und Entmutigten. Zu jenen, die sich vom Linksbündnis Syriza mehr erhofft haben als nur leere Phrasen. Jetzt hält er von Tsipras Truppe nicht mehr viel, und findet deutliche Worte: "Sie sind Verräter. Sie haben keines ihrer Versprechen eingelöst. Und mit der Abstimmung für das Referendum haben sie das ganze Volk betrogen."


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1 Kommentar verfügbar

  • Charlotte Rath
    am 16.01.2019
    Antworten
    Ach, „die Finanzkrise“ war es, ein Phänomen wie ein Tsunami - da hilft natürlich nur ehrenamtliches Engagement und Spendenbereitschaft.
    Doch hier gibt es menschliche Verursacher, die zur Verantwortung gezogen werden könnten. Nur drückt sich die europäische Politik bis heute davor. Warum wohl?

    „Zwar…
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