KONTEXT:Wochenzeitung
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"Nur mit uns geht es"

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Wählen gehen ist für Jagoda Marinić die feierlichste Sache der Welt, seit sie mit 20 Jahren eingebürgert wurde. Ein Gespräch mit der Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg über die Spannung vor den ersten Hochrechnungen, Fehler bei der Integration und über deutsches Grundmisstrauen in die Zukunft.

Frau Marinić, in elf Tagen ist Bundestagswahl. Gehen Sie hin?

Ja, ich gehe immer zur Wahl, als wäre es die feierlichste Sache der Welt. Eine Freundin hat mir mal erzählt, wie ihr Großvater am Wahltag immer den besten Anzug aus dem Schrank holt, schließlich sei das der Tag des Bürgers. Als ich schließlich eingebürgert wurde und mit Mitte zwanzig mein Kreuzchen setzen durfte, habe ich das ähnlich gesehen: Es ist der Tag der Bürgerin. Wobei diese Bürgerin inzwischen oft zur Briefwahl greifen muss, weil sie gerne und oft unterwegs ist. Ich vermisse dann aber diese Stimmung, mit vielen Demokraten vor dem Wahllokal zu stehen. Ich finde es wunderbar, dass es so eine altmodische Angelegenheit ist, und hoffe, dass die Digitalisierung nie Einzug hält in den Wahlsonntag. Das Warten auf die ersten Hochrechnungen bleibt gleich spannend, egal ob Briefwahl oder Wahllokal.

In Baden-Württemberg leben 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund wie Sie, viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft und dürfen wählen. Fühlen die sich am Tag des Bürgers, wie Sie die Wahl nennen, als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger Deutschlands?

Und wie! Das ist mit Sicherheit der Tag, an dem die Gleichberechtigung zu hundert Prozent erreicht wird. Da gibt es keinen Unterschied zwischen den Stimmen der Eingebürgerten und der Alteingesessenen, der Neu- und Bindestrich-Deutschen zu den Seit-Drei-Generationen-Deutschen. Es ist der Tag, an dem die rechten Kräfte wissen, unsere Stimmen kriegen sie nicht, weil sie sich gegen uns richten. Nur mit uns geht es. 

Auch die bürgerlichen Parteien tun sich schwer, die Bindestrich-Deutschen in ihrer Politik mitzudenken oder gar in ihre Reihen aufzunehmen.

Ja, ich wünschte mir, die alten etablierten Parteien hätten das stärker im Blick. Was haben sie uns geboten? Wie sprechen sie uns an? Manchmal, wenn Erdoğan sich an Doppelpass-Deutsche wendet, gibt es einen Aufschrei, dass er ja hier nichts zu melden habe. Warum aber lässt man immer diese Lücken? Und es gibt weiß Gott nicht nur eingebürgerte Türken oder Deutsch-Türken. Gerade in Baden-Württemberg sind viele Einwandererkinder inzwischen eingebürgert. Sie würden – statistisch betrachtet – der SPD Werte bescheren, wie die CDU sie derzeit hat. Aber dafür hätte die SPD eine klarere Kampagne auch für uns Bindestrich-Deutsche fahren müssen.

Fairerweise muss man sagen, dass sich keine der bürgerlichen Parteien dabei hervorgetan hat.

Weil in den Köpfen der Parteien die Gleichberechtigung, die uns das Staatsbürgerschaftsrecht und dieser Wahlsonntag gibt, noch gar nicht angekommen ist. Ich werfe den etablierten Parteien vor, dass sie uns vernachlässigen. Und diese Lücke schließt nun die AfD, die Stimmung gegen uns macht. Etwa indem sie die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz wegen ihrer Herkunft angreift und nicht wegen ihrer Inhalte. Gerade die SPD könnte fragen, welche speziellen Bedürfnisse etwa die hier in Deutschland alt gewordenen Gastarbeiter haben. Da wir in Baden-Württemberg sind: Bilkay Öney hatte sich stark dafür eingesetzt, so gerecht möchte ich sein. Aber ihr Ministerium wurde in der grün-schwarzen Koalition ja einkassiert. Und auf den Expertenbeirat, der noch zu ihren Zeiten beschlossen wurde, wartet das Land immer noch.

Was braucht es, um diese Lücke der Nichtwahrnehmung zu schließen?

Ich könnte jetzt einen Maßnahmenkatalog aufstellen, aber das können die Parteien selbst. Die Frage ist, ob sie das umsetzen. Der Doppelpass für die erste Einwanderergeneration wurde ja auch zugunsten der großen Koalition geopfert. Am Ende steht und fällt es mit dem politischen Nachwuchs. Wie viel tun Parteien, um sich von innen heraus zu wandeln? Wenn eine Partei selbst die Vielfalt widerspiegelt, dann tragen diese Mitglieder neue Perspektiven mit in die internen Parteiauseinandersetzungen. Dann geht es auch um die Posten: Ja, hier und da wurden Landes- oder Bundesposten, vor allem im Bereich Integration, an Politiker mit deutsch-türkischem Hintergrund vergeben. Was ist mit dem Rest? Kann die erste und zweite Generation etwa nur Migration? Das glaube ich nicht. Die größte Enttäuschung war jedoch, dass das grün-rote Kabinett in Baden-Württemberg bei der Vergabe seiner Posten plötzlich sehr wenige Menschen in den eigenen Reihen gefunden hat. Und das, obwohl sich die Grünen Multikulti und Integration immer auf die Fahnen geschrieben haben.

Bei Posten geht es eben um mehr als Worte, es geht um Macht und Teilhabe. Aber immerhin gibt es eine Landtagspräsidentin Muhterem Aras.

Unsere Landtagspräsidentin ist da eine wunderbare Ausnahme. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass jeder mit diesem Übermaß an Energie ausgestattet ist, das Frau Aras zu bieten hat. Man muss als Mensch mit Migrationsgeschichte nach wie vor dreimal so viel bieten, um gleich viel zu erhalten. Das klingt jetzt wie eine Familiengeschichte bei den Schwarzen in den USA, muss aber hier auch mal gesagt werden: Die zweite und dritte Generation, wir sind oft Leistungsträger, aber uns fehlen die Netzwerke und Erbschaften, über die die Deutschen verfügen. Das ist nicht schlimm, das ist Teil unserer Geschichte. Aber anerkennen sollte man das schon, statt Menschen unserer Generationen immer als Problemfälle oder Bildungsarme zu präsentieren. Wir sind viel mehr.

Vor wenigen Tagen hat die grüne Staatssekretärin die Heimatmedaillen 2018 vergeben, darunter auch an die Karlsruher Tunesierin Najoua Benzati. Sehen Sie das als billiges Bonbon oder als einen Schritt in Richtung mehr öffentliche Wahrnehmung und Normalität?

Ich halte grundsätzlich nicht allzu viel vom Medaillenwesen der deutschen Demokratie, daher ist das eine schwierige Frage. Bei diesen Veranstaltungen gerät schnell etwas in Schieflage, und Bürger wirken ungewollt wie Ministranten. Doch wenn die Bürger schon Medaillen kriegen und das wollen, ja, dann sollten auch Migranten dabei sein. Aber, da Sie das jetzt so hervorheben, frage ich gerne zurück: Gab es im Jahr 2018 wirklich nur eine? Das wäre dann schon ein Bonbon, nach dem Motto: Wir haben auch jemanden. Das Problem ist: Einwanderer leisten Ungeheures und halten es für Ehrensache.

Eine Ehrensache, die nicht wahrgenommen wird?

Was manche leisten, ist unglaublich, gerade auch außerhalb der ehrenamtlichen Strukturen, die ja bei der jüngeren Generation Probleme bereiten. Aber diese Leistung wird dann nicht erkannt, da unterstelle ich nicht einmal bösen Willen. Die Verantwortlichen für solche Ehren könnten in den Communitys anfragen, wer steht den Flüchtlingen zur Seite, wer hilft. Das geschieht bei Migranten oft auf informeller, freundschaftlicher Ebene. Man engagiert sich nicht als Vereinsmitglied, man engagiert sich als Mensch und Nachbar. Nach siebzig Jahren Einwanderung haben Migranten hier den größten Teil ihres Lebens gelebt, sich dieses Land zur Heimat gemacht, das nicht als ihre Heimat gedacht war. Wenn es um Symbolpolitik geht, die ja doch was ausrichten kann, dann wäre ein symbolischer Akt wie der von Obama bei seinem Amtseintritt viel wert: Mit euren Händen wurde dieses Land wiederaufgebaut. Ein Denkmal? Deutschland ist ja hervorragend im Bauen von Denkmälern. Finde ich zwar auch nicht einfach, aber wenn schon, dann sollte man auch das Erinnern an die Einwanderung stärker in die Gedenkkultur einbeziehen.

Wenn man den Umfragen vor der Bundestagswahl glauben mag, sind Flüchtlinge und Einwanderung das wichtigste Problem, das die Politik lösen muss. Gibt es ein Grundmisstrauen gegen Migranten?

Nein, es gibt ein Grundmisstrauen gegen die Zukunft. Viele spüren, dass die Welt sich verändert, und versuchen reflexartig, Kontrolle über ihre Umgebung wiederzuerlangen. Beim Thema Migration meint man dann, mit harter Hand lässt sich das schon richten, und alles bleibt wie früher. Das ist schon neurotisch, wie in Deutschland so getan wird, als könnte man alles bis ins letzte Detail kontrollieren. Und es zeigt auch, dass wir eine alternde Gesellschaft sind. Das ist eine Art Selbstberuhigung. Die aber zur Beunruhigung führt, wenn es nicht gelingt. Man könnte stattdessen ja auch den eigenen Konsum kontrollieren, um Fluchtursachen zu bekämpfen, das ist vielen aber schon zu stressig und zu teuer. Das Thema Migration ist gerade der Blitzableiter für jede noch so diffuse Angst in diesen Zeiten. Die eigenen Widersprüche fallen dabei unter den Tisch.

Was ist also zu tun?

Eine stabile Demokratie braucht eine starke Mittelschicht, die eine Grundgelassenheit in den Diskurs bringt, und die wirtschaftliche Sicherheit, sich als Bürger engagieren zu können. Bürgersein kostet ja Zeit, Deutschland kann das nicht den Rentnern überlassen. Die Bürger müssen neben ihrer Arbeit und Familie Zeit haben, Bürger zu sein. Sozialpolitik ist in diesem Sinn die beste Sicherheitspolitik. Vor Jahren schon wurde davor gewarnt, dass durch die Kulturalisierung und Ethnisierung von Diskursen andere Bereiche wie etwa die ungerechte Verteilung von Wohlstand aus dem Blickfeld geraten könnten. Der bedürftige Einwanderer ist als Gegner einfacher als Konzerne und Superreiche: Das bringt Leute wie mich in die Bredouille, weil wir über die Themen sprechen möchten, etwa über Missstände wie mangelnde Teilhabe von Migranten. Gleichzeit werden diese neuen Debattenlinien, wird die Schärfung des "Migranten" als Konzept missbraucht, um wichtige Probleme unserer Gesellschaft nicht ausreichend zu thematisieren.

Was kann man also aus den Integrationsversäumnissen der Vergangenheit lernen?

Ein großer Fehler war die Wohnungspolitik. Ein türkischer Taxifahrer erzählte mir diese Woche, dass sein Kind nun in eine Privatschule gehe, weil er eine vielfältige Klasse will und nicht nur ein oder zwei Ethnien. Er sagte, damals, als seine türkische Familie nach Berlin kam, habe man ihnen nur Kreuzberg, Neukölln oder Wedding angeboten. Ich hab das noch nicht überprüft. Aber mir scheint dezentrales Wohnen für viele Deutsche – und Einwanderer hierzulande – relevant zu sein. Wobei da so manche privilegierten Hausbesitzer sicher nicht viel davon halten. Aber es könnte eine Besonderheit der deutschen Integration sein, dass man gezielt durchmischt, statt einzelne Viertel zu schaffen. Es gibt den Anspruch, einen Konsens zu finden, zu dem sich viele bekennen können. Das ist zunächst mal die Gelegenheit, eine Wertedebatte zu führen. Leider entgleitet sie zu oft und wird zur Ausgrenzungsdebatte. Das könnte man sehr leicht mit einem Blick in die Geschichtsbücher aushebeln. Die Gastarbeiterdesintegration bietet zig Lektionen über Ausgrenzungsmechanismen, zum Beispiel die "Duldungen", die man damals den Gastarbeitern als Aufenthaltsstatus zugemutet hat und heute den Flüchtlingen. Man muss diese Fehler dann nur eben vermeiden wollen und nicht vorne herum Integration fordern und sie hinten herum erschweren.

Und wann gehen Sie in die Politik, Frau Marinic?

Ich bin in der Politik. Jeder Bürger ist in der Politik. Es wäre ein Fehler, die Politik für eine Sache der Politiker zu halten. Für das Durchsetzen werde ich allerdings am Sonntag mein Kreuz setzen. Ich lebe ja in einer repräsentativen Demokratie und finde das ganz gut so. 

Info:

Jagoda Marinić , 39, ist Schriftstellerin und Journalistin und leitet seit 2012 das Interkulturelle Zentrum Heidelberg. Geboren und aufgewachsen ist sie in Baden-Württemberg, ihre Eltern sind aus Kroatien eingewandert. In ihren Büchern und Essays beschäftigt sie sich mit Migration und Integration.


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1 Kommentar verfügbar

  • Stefan Ohm
    am 13.09.2017
    Antworten
    Aus dem Herzen gesprochen! Frau Marinic spricht ja nicht nur weise, sondern handelt ebenso. Vorbildlich. Anke für Ihr Engagement.
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