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Aufruhr und Aufrührer

Aufruhr und Aufrührer
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Das also stellen sich manche in der Union unter "kontinuierlicher christlicher Begleitung" der Politik vor: weiter Ressentiments schüren, gegen die Bildungsplanreform, gegen Toleranz und Akzeptanz sexueller Vielfalt, gegen Grün-Rot. Es wird gelästert, gestichelt, demonstriert. Und die Landesregierung leistet den immer neuen Aktionen Vorschub, weil sie sich nicht zu einer klaren offensiven Linie durchringt.

Geschätzt eine halbe Million Menschen war am vergangenen Wochenende rund um den Christopher Street Day in Berlin unterwegs, darunter der Regierende Bürgermeister, Conchita Wurst, der amerikanische Botschafter, Fußballfans in Regenbogentrikots und Polizisten in Uniform, um ein Zeichen zu setzen für "ein freies, selbstbestimmtes Leben" (Klaus Wowereit). Die Aktivisten gegen die neuen Bildungspläne, die sich an diesem Samstag in Stuttgart ausgerechnet unter dem Denkmal von Friedrich Schiller versammeln, wollen genau das nicht. Ein zweites Mal ist bundesweit zur "Demo für alle" nach dem französischen Vorbild "Manif pour tous" aufgerufen und dazu, "erneut auf die Straße zu gehen, um gegen die ideologische Auflösung der Geschlechter durch Gender-Mainstreaming, Zersetzung von Ehe und Familie und die aktive Sexualisierung unserer Kinder in Kindergarten und Schule zu demonstrieren".

Grün-Rot sitzt zwischen vielen Stühlen

Mit dabei sind CDU-Mitglieder. Sie müssen den Ärger der Parteispitze nicht fürchten. Die erste Demo hatte Fraktionschef Peter Hauk gar mit einem Grußwort unterstützt. Diesmal treten drei Kreisverbände des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) offiziell als Mitveranstalter auf. Dies sei ihnen freigestellt worden, berichtet die EAK-Landesvorsitzende und Leonberger CDU-Abgeordnete Sabine Kurtz, die selber allerdings nicht teilnehmen wird. Der Landesvorstand insgesamt halte sich zurück. Eigentlich will sich die Gruppierung am "Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift" orientieren und für die "Stärkung von verbindlichen Werten, Menschenrechten und Menschenwürde" einsetzen. Tatsächlich sind solche Vorsätze da, um gebrochen zu werden. Denn den Initiatoren der Demos, in die sich längst neben evangelischen auch katholische Ultras eingereiht haben, geht es eher weniger um Nächstenliebe, um Barmherzigkeit oder gar um eine Antwort auf die Frage, auf welcher Seite eigentlich Jesus stehen würde, sondern vor allem darum, Unfrieden zu stiften und Missverständnisse zu schüren. Genau diese wollten Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusminister Andreas Stoch (SPD) mit der im April verkündeten Reform der Reform erfolgreich bekämpfen. Wochenlang war die Kritik nicht ausgetreten worden. Seither sitzt Grün-Rot zwischen vielen Stühlen. "Allen Menschen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann", urteilt Kurtz aus der zwar ungeliebten, aber in Fällen wie diesem ziemlich bequemen Oppositionsposition heraus.

Denn einerseits gilt der Koalitionsvertrag, in dem die neue Landesregierung vollmundig versprochen hat, in den Bildungsstandards sowie in der Lehrerbildung die Vermittlung unterschiedlicher sexueller Identitäten zu verankern. Einerseits geht Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) in die Offensive mit der Einladung ins Neue Schloss "zum Gedenken an die erste bekannt gewordene Bewegung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen gegen staatliche Willkür 1969 in New York" und verspricht, das "die Landesregierung konsequent weiter an einer diskriminierungsfreien Gesellschaft arbeitet". Wenn sie erinnert an das ehrenwerte gemeinsame Ziel, Homo- und Transphobie in allen Lebensphasen von der Kindheit über die Jugend bis zum Alter und sowohl in der vorschulischen, schulischen und außerschulischen Bildung als auch in Ausbildung und Studium, Arbeitswelt, Kultur und Sport entgegenzuwirken. Alle Landesressorts seien gefordert, "an dieser Querschnittsaufgabe in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich mitarbeiten".

Einerseits hat Superminister Nils Schmid (SPD) die Schirmherrschaft über "Süddeutschlands größtes Festival rund um die Belange von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen (LSBTTIQ)" im Juli übernommen. Er will mitfeiern bei den zehn Christopher Street Days Ende Juni und dem Motto "Wir machen Aufruhr! Seit 1969". Für ihn sei sofort klar gewesen, "dass ich das mache", sagt Schmid. Das Motto nennt er "hervorragend formuliert", weil das Werben für mehr Toleranz "eine gewisse Portion Aufruhr in der Gesellschaft erzeugt". Alles einerseits. Und andererseits verstrickt sich Stoch in Begrifflichkeiten beim Versuch, die Brücke zu jenen Gegnern zu schlagen, die er für ansprechbar hält. Andererseits hat er einer neuen Struktur der Bildungspläne zugestimmt, der Verschiebung auf das Schuljahr 2016/2017, bestimmte Schlüsselworte sind abgeschwächt, engagierte Experten und Lehrkräfte in den Erprobungsschulen düpiert. Andererseits versteckt sich der Sozialdemokrat hinter Sprüchen wie "Genauigkeit vor Schnelligkeit". Und andererseits will Kretschmann "keinen Kulturkampf".

Feinsinniger Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz

Schade eigentlich. Denn inzwischen ist der Kultusminister Adressat einer neuen Online-Petition. Die Akzeptanz sexueller Vielfalt bleibe auch nach der Überarbeitung des Arbeitspapiers weiterhin Bestandteil des Bildungsplans und als solche verbindlich für den künftigen Unterricht, beharren die Hardliner. Nur kämen "sie jetzt in neuem Gewand als 'Leitperspektive – Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt' daher." Und weiter direkt an den Minister: "Die von Ihnen vorgestellten Änderungen am neuen Bildungsplan reichen nicht aus." Es bestehe "unverändert die Gefahr, dass der Bildungsplan parteipolitische und ideologische Vorstellungen auf dem Rücken der Kinder exekutiert". Rauf und runter und abermals mit drastischen Vorwürfen und Vergleichen untermauert wird auf einschlägigen Seiten im Netz Kretschmanns "Klarstellung, ohne von unseren Überzeugungen abzurücken", zitiert, seine Botschaft, "dass überhaupt nichts relativiert", sondern im Gegenteil "das Anliegen aufgewertet" worden sei. Und bejubelt wird eine Steilvorlage, die die CDU-Fraktion mit einer Anhörung geliefert hat. Seither halten viele in rechten Foren den Unterschied hoch zwischen Toleranz und Akzeptanz. Denn in Letzterer sieht der Hohenheimer Professor Ulrich Palm – auf Basis eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts – einen Verstoß gegen das Indoktrinationsverbot. "Tolerieren, nämlich dulden: Ja, akzeptieren, nämlich annehmen, aufnehmen, als wahr und erwünscht annehmen: ganz eindeutig Nein", ereifert sich eine Unterzeichnerin der neuen Petiton.

Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, hätte Stoch rechtzeitig eine Strategie entwickelt, um den Schlechtrednern zu begegnen, hätte er nicht eingegriffen in den laufenden Prozess, der mehr als 200 Fachleute beschäftigt, und stattdessen festgehalten am ursprünglichen Plan, eine der wichtigsten Reformen der gesamten Legislaturperiode auf keinen Fall in den nächsten Landtagswahlkampf zu tragen. Und vor allem an seiner Absicht, Akzeptanz und Toleranz als jene Querschnittidee im Unterricht und im Schulleben einzuführen, die sie ist. Vielleicht hätte der weltweite Hype um den Song Contest und Conchita Wurst mit ihrer klaren Botschaft auch ausreichend viele Zweifler im Südwesten erreicht und die Bedenken hinweggefegt. Denn die (Mehrheits-)Verhältnisse sind klar. Am kommenden Samstag rechnet die Stuttgarter Polizei mit Gegenprotesten rund um den Schillerplatz und mit ein- oder höchstens zweitausend Teilnehmern an der "Demo für alle". Vier Wochen später, bei der CSD-Parade durch die Innenstadt, werden zwar keine halbe Million Besucher und Besucherinnen erwartet wie in Berlin. Aber 200 000 allemal, einige Stuttgarter CDU-Promis inklusive ...


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3 Kommentare verfügbar

  • gguentue
    am 04.07.2014
    Antworten
    Würde mich freuen,
    wenn die "kritischen Geister im Lande"
    zum Thema Bildungspläne sich nicht immer nur
    auf den Aspekt "Akzeptanz sexueller Vielfalt"
    beschränken würden.

    Dass in den Bildungsplänen von Grün-Rot das
    Leitziel "Friedenserziehung" fehlt,
    sollte gleichfalls thematisiert und…
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