Vierundzwanzig Stunden lang stand alles still, was auf Schienen bewegt werden kann – und jenseits der Grenzregionen nahm kaum jemand Notiz davon: Ende November hatten in Österreich die Bahnbeschäftigten einen Tag lang die Arbeit niedergelegt. Der Streik allein wäre vielleicht nicht allzu erwähnenswert, wenn es bei dem Arbeitskampf nur um eine prozentuale Erhöhung der Löhne gegangen wäre.
Aber es stand mehr auf dem Spiel: "Die Mobilität ist die Achillesferse im Kampf gegen die Klimakrise", sagte eine Vertreterin der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft Vida bei einem Interview mit dem linken Online-Magazin "Mosaik", und dafür brauche es vernünftig bezahlte Beschäftigte. Aus diesem Grund unterstützte auch die österreichische Klimaschutzbewegung den Ausstand, der landesweit befolgt wurde. "Mobilitätswende braucht Lohnerhöhung", twitterte beispielsweise Fridays for Future Wien. Dazu kam, dass die Gewerkschaft eine fixe Lohnerhöhung (400 Euro mehr für alle bei einer Laufzeit von einem Jahr) verlangte, die die unteren Lohngruppen begünstigt.
Die Popularität des Streiks verhalf Vida zum Erfolg: So steigt das Entgelt der 50.000 Eisenbahner:innen innerhalb von 15 Monaten um 480 Euro – ein prozentuales Gehaltsplus von 9 bis 17 Prozent. Ein ähnliches Ergebnis gab es in Deutschland schon lange nicht mehr. Und sie suchen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch nicht den Schulterschluss mit der Klimabewegung.
Angriffe auf das Sozialsystem
In Frankreich geht es – wie üblich – ebenfalls munter zu. Dort streikten im ersten Halbjahr 2022 unter anderem Lehrer:innen, Beschäftigte der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und TV-Sender, Flughafen-Angestellte. Im September folgten die Fluglotsen, im Oktober die Arbeiter:innen von Ölraffinerien, dazu kam ein landesweiter Generalstreik gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Im November und Dezember legten die Bahnbeschäftigten mehrfach die Arbeit nieder – und weitere Auseinandersetzungen sind angekündigt.
Die Kämpfe richten sich dabei auch gegen die Politik der neoliberalen Regierung von Emmanuel Macron, die die Erwerbslosenversicherung reformiert, den Bezug des Arbeitslosengelds kürzt und vor Kurzem den nächsten Angriff auf das Sozialsystem angekündigt hat: die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Beim ersten Aktionstag der Gewerkschaften protestierten am vergangenen Donnerstag (19. Januar) landesweit rund 1,1 Millionen Menschen.
Mehr Kämpfe als zu Thatchers Zeit
Beeindruckend auch die derzeitigen Kämpfe in Britannien. In dem vom Brexit gebeutelten und von inkompetenten Tories regierten Land werden die Lohnabhängigen besonders heftig gebeutelt: Massiver Sozialabbau, Reallohnkürzungen seit Jahrzehnten und eine Inflation von über elf Prozent treiben den ärmeren Teil der Bevölkerung in den Ruin. Hochprofitable Konzerne wie British Telecom haben mittlerweile betriebseigene Tafeln zugelassen, ohne die ihre Beschäftigten nicht über die Runden kommen. Und so wehren sich diese derzeit mit großer Vehemenz – trotz der seit Margaret Thatchers Zeiten geltenden und beständig verschärften Anti-Streik-Gesetze und einer inzwischen wieder eher gewerkschaftsfeindlichen Labour-Führung.
So legten und legen seit November zigtausende Beschäftigte die Arbeit nieder: Grenzschützer und Busfahrerinnen, Krankenschwestern und Postboten, Feuerwehrleute und Lehrerinnen, Universitätsbeschäftigte, Callcenter-Angestellte und natürlich – und das seit Langem – die Eisenbahner:innen. Manche Gewerkschafter:innen wie die Mitglieder des Royal College of Nursing streiken sogar zum ersten Mal seit hundert Jahren.
Über die Feiertage lief nur wenig: Zollbeamte verweigerten den Dienst, Rettungssanitäter:innen reagierten nur noch auf die allerwichtigsten Notrufe, Briefe wurden nicht zugestellt, der öffentliche Verkehr lag lahm – weil nicht nur die kampferprobte Bahngewerkschaft RMT die Mitglieder hatte abstimmen lassen, sondern auch die Lokführergewerkschaft ASLEF. Und die wollten streiken.
Dass konsequenter Widerstand Erfolg haben kann, hatten ausgerechnet die einst gebeutelten Schauerleute von Liverpool vorgemacht. Diese waren Mitte der 1990er-Jahre in einen Kampf gegen die Wiedereinführung des Tagelohns in den Häfen gezogen, mussten aber nach über zwei Jahren mit der Entlassung aller Docker eine bittere Niederlage hinnehmen. Ihre Gewerkschaft Unite ließ jedoch nicht locker. Sie machte die Streikführer zu (für die Docks zuständige) Sekretären, rekrutierte die neu eingestellten Docker und erzielte in einer langen Reihe von Arbeitsniederlegungen ab September bessere Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen von bis zu 18,5 Prozent.
Das Besondere an der britischen Streikbewegung ist nicht nur ihre Vehemenz, getrieben von der Verarmung der Bevölkerung. Sondern auch die Unterstützung, die sie genießt: Mittlerweile ist die vielleicht wichtigste soziale Einrichtung des Landes – das staatliche Gesundheitswesen NHS – durch viele Teilprivatisierungen dermaßen auf den Hund gekommen, dass "enough is enough", "genug ist genug", auch auf der Insel zum geflügelten Schlagwort wurde. Mit ihren Ausständen widersetzen sich die Trade Unions auch den Plänen der konservativen Regierung, die Gewerkschaften nicht mehr als Tarifpartner:innen zu akzeptieren, sondern ihnen nur noch eine konsultative Rolle zuzubilligen. Zudem wollen die Tories das Streikrecht weiter aushebeln. Dagegen mobilisierten die Gewerkschaften vergangene Woche mit einer Demo vor dem Unterhaus; gleichzeitig beschloss die RMT die für Anfang Februar anberaumten nächsten Streiks im Bahnverkehr.
Lohnsteigerung unter der Inflationsrate
Und in Deutschland? Hier herrscht vorwiegend Ruhe. Trotz Inflation und der damit verbundenen Reallohnkürzung blieb der vielfach erwartete "heiße Herbst" aus. Auch deshalb gilt hier von Regierungsseite aus: business as usual. Und die Gewerkschaften tragen dazu bei.
So hatte die IG Metall für ihre Lohnrunde im Herbst zwar fast eine Million Mitglieder für Warnstreiks und Demos mobilisieren können, akzeptierte dann aber ein Ergebnis weit unter der ursprünglichen Forderung von acht Prozent für die kommenden zwölf Monate: Herausgekommen sind neben einer steuerfreien Zweimalzahlung 5,2 Prozent mehr ab Juni 2023 und 3,3 Prozent ab Mai 2024 – mithin gerade mal 8,5 Prozent mehr für zwei Jahre, ein Zuwachs weit unterhalb der aktuellen und noch zu erwarteten Preissteigerungen.
War es ihre Nähe zur regierenden SPD, die die verantwortlichen Funktionäre zum schnellen Einlenken bewegte? Der in den oberen Gewerkschaftsrängen immer noch weitverbreitete Glaube an eine "Sozialpartnerschaft", die vom Neoliberalismus längst aufgekündigt wurde?
Wessen Interessen vertritt DGB-Chefin Fahimi?
Dabei wird längst deutlich, dass es auf dem Arbeitsmarkt immer weniger auf Großbetriebe ankommt, dass mittlerweile viele Lohnabhängige in ungesicherten Jobs schuften (um die sich die Gewerkschaften kaum kümmern), dass zahllose Unternehmen Tarifflucht begehen und dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder trotz wachsender Beschäftigtenzahlen zurückgeht.
Das dürfte so weitergehen, wenn oberste Funktionäre wie die neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi weiter solche Sprüche heraushauen wie kürzlich. Die frühere SPD-Generalsekretärin hatte Ende Dezember verkündet, dass sie Manager-Zulagen und Dividenden selbst jener Unternehmen für in Ordnung hält, die zuletzt auf Staatshilfen angewiesen waren. Jetzt sei "nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten", sagte sie – und fügte hinzu, dass sie auch die sogenannten "Übergewinne" der Energiekonzerne für akzeptabel halte: Das seien eben "normale Mechanismen der Marktwirtschaft".
Brauchen die Gewerkschaften wirklich Führungskräfte, die – wie Fahimi im Juni vergangenen Jahres – vor Klimaschutz auf Kosten der Industrie warnen? Oder die – wie der Verdi-Bundesvorstand – einen engagierten Gewerkschaftssekretär wie Orhan Akman fristlos kündigen, und das gleich drei Mal?
Haltlose Vorwürfe
Dabei war der kurdische Münchner bisher vor allem durch sein Engagement aufgefallen. Akman hatte als Sekretär für den Handelsbereich den Kampf der Amazon-Beschäftigten für einen ordentlichen Tarifvertrag koordiniert, sich für die Interessen der Belegschaften der Handelsunternehmen H&M und Zara eingesetzt und sich zuletzt um die von Massenentlassungen bedrohten Galeria-Kaufhof-Karstadt-Kolleg:innen gekümmert. Seit 2019 leitete er in Verdi die Bundesfachgruppe Handel.
Akman soll Dokumente über das korruptionsverdächtige Verhalten hochrangiger Funktionär:innen an die Springer-Presse weitergeleitet haben, lautete der Vorwurf von Verdi – was der Beschuldigte bestreitet. Er bekam in einem Arbeitsgerichtsprozess Mitte Dezember Recht: Akman ist wieder in seinem Job.
Ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland zeigt auf, worum es bei dem versuchten Rauswurf offenbar tatsächlich ging: Akman kandidiert (auch weiterhin) für den Verdi-Bundesvorstand, und das sollte offenbar verhindert werden. Ein Gewerkschafter, der sich vorbehaltlos für die Belange der Mitglieder engagiert und dazu noch deren Unterstützung genießt (Betriebsratskonferenzen und ganze Verdi-Gliederungen solidarisierten sich mit ihm) – das stört den Betriebsablauf einer Beschäftigtenorganisation, die sich im Kapitalismus eingerichtet hat, dessen Spielregeln akzeptiert und keinerlei Vision von einer Überwindung der herrschenden Verhältnisse hat.
Braucht es noch solche Gewerkschaften? Natürlich sind sie wichtig, weil ohne sie vieles noch viel schlimmer wäre. Weil sie einen Zusammenschluss all jener darstellen, die wenig zu verlieren haben (außer ihrer Arbeitskraft). Weil sie und engagierte Sekretär:innen auch viel Nützliches tun (wie etwa beim Streik der Cinestar-Beschäftigten in Konstanz). Und weil sie als Kollektivorganisationen ein Gegengewicht bilden zu der im Neoliberalismus weiter zunehmenden Vereinzelung der Individuen.
Aber sie müssen neu aufgestellt werden. Und zwar von unten. Das wiederum geht nur mit einer Basis, die sich stärker einmischt. Dazu braucht es engagierte Mitglieder – und somit auch all jene, die über die Organisationen der Beschäftigten nur lästern, aber außen vor bleiben. Und nichts tun, um sie zu verändern. Vielleicht zeigen Verdi und ihre Mitglieder ja in der nun beginnenden Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst, dass Gewerkschaft Macht ausüben kann. Immerhin hat sie 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro mehr gefordert.
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Dietmar Rauter
am 28.01.2023