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Autozulieferer Lear

Keine Sitze, keine Arbeit

Autozulieferer Lear: Keine Sitze, keine Arbeit
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Im Besigheimer Werk von Lear bangen rund 850 Beschäftigte um ihre Arbeit. Seit Jahrzehnten bauen sie Autositze für Audi und Porsche. Doch nun hat der US-Konzern die dringend benötigten Folgeaufträge nicht bekommen.

Paul Erfurt sitzt in seinem Betriebsratsbüro, die Wände sind mit Fotos von Kollegen und mit viel IG Metall geschmückt: Kalender, Fahnen, Plakate, alle mit dem roten Dreieck und hier und da kämpferischen Parolen. Der 62-Jährige ist ein stämmiger Mann, er strahlt Energie aus, seine harte Aussprache – ursprünglich stammt der gelernte Uhrmacher aus Sibirien – verstärkt den Eindruck von Entschlossenheit. "Seit 30 Jahren haben wir Audi beliefert", erzählt er. "Wir haben alles gemacht, jeden Wunsch erfüllt – natürlich. Der Kunde ist König." Doch vor einem Jahr hat die Belegschaft erfahren: Der Anschlussauftrag für Autositze ist weg. Aktuell baue man noch für den A4 und für den A6, zuerst laufe nächstes Jahr der A4-Auftrag aus, 2025 dann der A6-Auftrag. "Da befürchten wir einen massiven Personalabbau", sagt Erfurt.

Mittlerweile sieht es noch schlimmer aus: Auch Porsche hat den Folgeauftrag anderweitig vergeben. Der jetzige reiche noch bis 2024/25. Was dann in dem Lear-Werk in der Ferdinand-Porsche-Straße 2 in Besigheim-Ottmarsheim passiert, steht in den Sternen. Denn andere Kunden hat Lear bislang nicht.

Der Audi-Auftrag ist an Magna gegangen, einen weltweit agierenden, kanadisch-österreichischen Automobilzulieferer mit etwa 160.000 Beschäftigten. Warum es so gekommen ist, meint Andre Kaufmann zu wissen. Er ist bei der IG Metall Ludwigsburg zuständig für Lear. "Offenbar war Magna einen Tick billiger, aber auch Umweltaspekte spielten wohl eine Rolle", habe er aus dem gut vernetzten IG-Metall-Universum erfahren. Laut Kaufmann soll Audi sich die Lieferketten genau angeschaut haben, hat alles bis ins Letzte berechnet, zum Beispiel Logistikkosten. "Früher war das egal, doch mittlerweile wird das wichtiger. Der CO2-Preis spielt zunehmend eine Rolle." Das sei umweltpolitisch gesehen zwar gut, wäre für Lear in Besigheim aber ein Problem.

Der Konkurrent rückt näher an Audi ran

Tatsächlich baut Magna bereits ein Schaumteilewerk in Neuenstadt am Kocher. Dort "werden ab 2023 neben den Autositzen auch nachhaltige Sitzschäume produziert, welche nicht mehr über lange Lieferwege angeliefert werden müssen und so für eine Verringerung des CO2-Fußabdrucks in der Lieferkette beitragen. Es werden dann circa 350 Mitarbeiter Autositze für unseren Kunden fertigen", teilt die Pressestelle von Magna auf Kontext-Anfrage mit. Das Werk ist nur 13 Kilometer entfernt von Audi-Neckarsulm, 20 Kilometer weniger als Lear.

Dass Magna nun die Sitzschäume selbst produziert, könnte der entscheidende Vorteil gegenüber Lear gewesen sein. Dort lässt man den Schaumstoff bislang aus Osteuropa anliefern. Das Werk in Besigheim bezieht viel von außen. Das war mal anders. Erfurt erinnert daran, dass in den 90ern das Leder für die Autositze aus Österreich kam. "Da hatten wir hier Näherinnen im Werk." Was später aus Kostengründen ausgelagert wurde, wäre heute vielleicht ein Standortvorteil.

Im Werk Bremen, wo 1.000 Leute Autositze für Mercedes bauen, sitzt der Lear-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Holger Zwick. Er kennt die Besigheimer Misere. "Nach dem Audi-Verlust haben wir intensiv mit dem Management diskutiert. Offenbar war Lear dort nicht bereit, die ökologischen Bedingungen von Audi zu erfüllen." Doch immerhin habe es wohl einen Erkenntnisgewinn gegeben. "Ich habe den Eindruck, dass unsere Geschäftsleitung hier das verstanden hat." Was für die Produktion in Bremen wichtig sei, denn derzeit gehe es um den Nachfolgeauftrag von Mercedes, der Beschäftigung vor Ort langfristig sichern würde. Der aktuelle Auftrag läuft bis 2028/29.

Lohnverzicht wird abgelehnt

In Besigheim überlegen Betriebsrat und IG Metall, wie es weitergehen könnte. "Wir erwarten von der Geschäftsleitung ein Konzept für den Standort", sagt Kaufmann. Wenn die Autobauer, auch OEM (Original Equipment Manufacturer) genannt, bei ihren Auftragsvergaben immer stärker auf Energieverbrauch und Lieferketten schauen würden, müsse Lear beispielsweise ein Lieferantennetz in Deutschland aufbauen oder ausgelagerte Produktionsteile wieder zurückholen. Doch Gespräche mit der Geschäftsführung nach dem Audi-Verlust haben bislang wenig gebracht, erzählen Erfurt und Kaufmann. Ein Statement zur Situation lehnt die örtliche Geschäftsführung gegenüber Kontext ab.

Erfurt erwartet Ideen von seiner Geschäftsführung und dem gesamten Konzern, um Auftraggebern günstigere Bedingungen bieten zu können. Allerdings nicht auf Kosten der Beschäftigten, betont der Betriebsratschef. Bei Lear in Besigheim wird nahezu nach IG Metall-Flächentarif gezahlt, nur die acht Minuten Erholungspause pro Stunde bei Akkordarbeit haben die Leute nicht. Erfurt: "Auf die wurde verzichtet, damit die Firma 2005 überhaupt in den Tarifvertrag geht." Zunächst gab es auch noch kein komplettes Weihnachts- und Urlaubsgeld. "Bis ich 2014 zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt wurde. Da war damit Schluss."

Lohnverzicht sei bislang die einzige Idee gewesen, mit der die örtliche Geschäftsführung an den Betriebsrat herangetreten ist: keine Tariferhöhungen, Abschläge beim Weihnachts- und Urlaubsgeld, 38 statt 35 Stunden arbeiten, erzählt Erfurt. Kaufmann verweist darauf, dass so ein Verzicht der Belegschaft dazu führen kann, dass sie am Ende ihre eigene Abfindung vorfinanziert. "Jedenfalls wenn es ganz mies läuft und das Werk wirklich dichtgemacht wird." Das sei ja wohl wenig sinnvoll. Erfurt ergänzt: "Die haben hier mit unserer Arbeit jahrelang sehr gute Gewinne gemacht." Für Kaufmann ist klar: "Mit Sozialpartnerschaft ist in diesem Konzern nicht viel zu machen." Eher müssten die Beschäftigten kämpfen. Dabei denkt er auch an andere Lear-Standorte in Deutschland.

Die Vorboten der Transformation

Auch in anderen Werken hat der Konzern in den vergangenen Jahren nicht besonders erfolgreich agiert. Bei Lear in Kronach werden 380 Arbeitsplätze in der Produktion abgebaut, weil das Unternehmen das Geschäftsfeld Licht und Audio weltweit einstellen will. Noch wird dort gearbeitet, aber die Abfindungen sind bereits verhandelt. Übrig bleiben in Kronach 120 Beschäftigte in der Entwicklung. Das Lear-Werk in Ginsheim-Gustavsburg ist dicht, dort produzierten zuletzt noch 250 Menschen Sitze für Opel im nahegelegenen Rüsselsheim. In Eisenach, wo 140 Menschen Autositze für den Opel Grand Land bauen, ist die Lage ebenfalls kritisch, da Anschlussaufträge fehlen. "Da stellt sich die Frage, wie es ab 2024 weitergeht", sagt Uwe Laubach, Bevollmächtigter der IG Metall Eisenach. Derzeit sei man in Gesprächen mit der dortigen Lear-Geschäftsführung. Seine Region sei gebeutelt, erzählt er. "In den vergangenen Jahren haben wir hier 3.500 Stammarbeitsplätze verloren. Das sind die Vorboten der Transformation zum E-Auto."

Lange habe das Geschäftsmodell funktioniert, dass die Autobauer ihre Zulieferer ausgequetscht haben, berichtet Laubach, und wenn mal einer in Insolvenz ging, stützen sie oder übernahmen, um die Lieferkette aufrechtzuerhalten. "Das ist jetzt vorbei." Nun würden Insolvenzen genutzt, um den Markt zu bereinigen, da die Autobauer auf kleinere Stückzahlen beim Verbrenner beziehungsweise auf E-Auto-Produktion umstellen.

Lear: weltweit unterwegs

Die Lear Corporation ist ein US-amerikanischer Konzern mit 160.000 Beschäftigten in 257 Produktionsstätten in 38 Ländern. Vor allem werden Innenausstattungssysteme für PKW entwickelt und produziert. Lear gilt als der weltweit elftgrößte Zulieferer für die Autoindustrie. 2021 belief sich der Umsatz auf rund 19,263 Milliarden US-Dollar. (lee)

Aktuell bereitet den Autobauern nicht nur die Transformation Probleme. Wegen Corona, Lockdowns in China, gestörter Lieferketten, fehlender Halbleiter, steigender Materialpreise stockt die Produktion immer wieder. Was sich auch auf Zulieferer auswirkt, erzählt Erfurt. Audi schicke wochenweise den Plan, wie viele Sitze benötigt werden, entsprechend muss dann Lear die Schichten einteilen. Das sei schwierig, aber – Erfurt wiederholt: "Der Kunde ist König."

Er erzählt von der Arbeit und dem Können seiner Kollegen. Kolleginnen gebe es kaum, gerade mal eine Handvoll im Büro. In der Produktion, wo 600 Männer schaffen, sei die Arbeit einfach zu schwer. Denn das Bauen von Autositzen erfordert noch viel Handarbeit. Erfurt hat 1997 in Besigheim als Polsterer angefangen. "Das ist eine Knochenarbeit. Wenn du zehn, fünfzehn Jahre gepolstert hast, bist du krank." Stolz berichtet er aber auch von Sonderanfertigungen, gerade für Porsche. Andere Lederfarben, andere Farben für die Nähte, sie bauen Sitze mit Massagevorrichtungen, mit Belüftung, alles voll elektrisch. "Der Fahrer soll ja sein weißes Hemd nicht nass schwitzen", sagt Erfurt und grinst.

Auftragsvergaben sind geheim, also intransparent

Nun aber ist der Porsche-Folgeauftrag für den Klappschalensitz an die Firma Mubea gegangen. Die hat ihren Stammsitz im nordrheinwestfälischen Attendorn, beschäftigt an 44 Standorten 14.000 Leute und ist Leichtbauspezialist für die Automobilindustrie. Das familiengeführte Unternehmen sei "ein ordentlicher Arbeitgeber", sagt der dortige IG Metall Bevollmächtigte André Arenz. Mit Haustarif, der fast dem Flächentarifvertrag entspreche. Bislang liefert Mubea Sitzschalen an Lear, und zwar aus Tschechien. Falls dort künftig die kompletten Porschesitze, mit Schaustoff und allem drum und dran, produziert werden sollten, würde das vor allem zeigen, dass die Zuffenhausener Edelmarke Lieferwege – im Gegensatz zu Audi – offenbar nicht so entscheidend findet. Doch das ist Spekulation. Von der Porsche Pressestelle kam auf die Frage nach der Bedeutung von Lieferwegen bei der Auftragsvergabe die eher nichtssagende Aussage, Kriterien wie "Preis und Entfernung zu Porsche sind nur einige von mehreren Kategorien, die wir bei unseren Vergaben berücksichtigen".

Ähnlich sieht es bei Audi aus. Deren Sprecherin erklärt: "Wichtige Auswahlkriterien sind Innovation/technologische Kompetenz, Qualität, Nachhaltigkeit, Lieferfähigkeit und Wirtschaftlichkeit. Diese Kriterien stehen gleichberechtigt nebeneinander." Zudem müssten Zulieferunternehmen ein Nachhaltigkeits-Rating durchlaufen, in dem "die Einhaltung von Sozial-, Umwelt-, und Compliance-Standards" bewertet werde.

Wie die Auftragsvergabe abläuft, ist letztlich ein großes Geheimnis. Meist klagen Zulieferer nur hinter vorgehaltener Hand über rüde Methoden der großen Autobauer. Jüngst kritisierte der Wirtschaftsverband industrieller Unternehmen Baden auch öffentlich und warf den OEM in der "Stuttgarter Zeitung" vor, die Unternehmen der Lieferketten als Melkkuh zu sehen. Während die großen Autobauer Rekordgewinne machten, forderten sie von Zulieferern Preise wie vor der Energiekrise.

Auch Paul Erfurt ärgert sich über das Gebahren der großen Autobauer. Weil Jammern aber nichts nützt, konzentriert er sich auf die kommenden Monate. Mit der IG Metall will er um den Betrieb kämpfen. Die Basis sei da, sagt er. "In den vergangenen Jahren sind sehr, sehr viele Kollegen in die Gewerkschaft eingetreten."


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9 Kommentare verfügbar

  • Fritz Frosch
    am 24.10.2022
    Antworten
    Ich verstehe nicht, was hier mal wieder lamentiert wird: ein US-Konzern hat Aufträge an Österreichisches bzw. deutsches Unternehmen verloren - ich sehe darin noch keinen Gesellschaftlichen großen Verlust.
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