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Fysam in Steinheim

"Schöne Gegend, scheiß Betrieb"

Fysam in Steinheim: "Schöne Gegend, scheiß Betrieb"
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 Fotos: Julian Rettig 

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Die Stimmung ist aufgeladen bei Fysam. Die IG Metall wirft dem chinesischen Unternehmen auf der Ostalb vor, seine Leute mies zu behandeln, Beschäftigte zu verdrängen und extrem schlechte Löhne zu zahlen. Besonders schockiert die Belegschaft, wie eingeflogene chinesische Kollegen offensichtlich ihre Arbeit übernehmen. Mittlerweile ermittelt der Zoll.

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Die roten Gewerkschaftsfahnen flattern, die Sonne strahlt zwischen Schäfchenwolken, es gibt frische Brezeln und Wasser. Vor dem Hauptquartier der Firma Fysam in Steinheim am Albuch haben sich um die 300 Frauen und Männer versammelt. Offiziell zum Warnstreik, weil die Tarifverhandlungen mit den Geschäftsführern Dirk Träger und Jun Sun stocken. Der Autozulieferer für Zierleisten und Dachrelingsysteme beliefert Kunden wie Audi, VW oder Daimler und gehört seit zweieinhalb Jahren zum chinesischen Fuyao Konzern, einem der größten Autoglashersteller der Welt. Dessen Eigentümer, der Milliardär Cho Tak Wong, kaufte die damals insolvente Firma SAM (Ex-Binder), versprach, alle Arbeitsplätze zu erhalten, höhere Löhne zu zahlen und zu investieren. Allgemeine Erleichterung machte sich breit, doch die Hoffnungen zerstoben rasch.

"Seit drei oder vier Jahren haben wir keine Lohnerhöhung bekommen", schimpft Akan Gencaga. Der 52-Jährige ist seit 21 Jahren bei der Firma. Schleifen und Polieren ist sein Job, eine körperlich anstrengende und dreckige Arbeit. 11,90 Euro bekommt er pro Stunde, plus ein Euro Staubgeld. "Und der Druck wird immer stärker. Wenn man mal eine rauchen geht, gibt es gleich eine Abmahnung." Warum verlässt er die Firma nicht? "Ich bin 52 Jahre alt, wo soll ich hier Arbeit finden?" Sein Kollege Yasar Tasdogan springt ihm bei: "Ich habe drei Kinder, dann gibt es plötzlich kein Urlaubsgeld – das geht nicht." Das einzige, was sich seit der Übernahme durch Fysam verändert habe, erzählen KollegInnen, seien die neuen Maschinen und Roboter. Ausreichende Absauganlagen für den Schleifstaub allerdings gebe es nicht.

Am meisten empört die Protestierenden das Auftauchen von chinesischen Arbeitskräften. Zwischen 100 und 150 seien in den vergangenen Monaten eingeflogen worden, schätzt die IG Metall. Die genaue Zahl ist unbekannt, denn die Geschäftsleitung übergehe immer öfter den Betriebsrat, erzählt dessen Vorsitzender Alexander Bechtle. "Wir wissen nicht, wie die Kollegen heißen, was die für Arbeitsverträge haben. Wir sehen, dass sie nie abstempeln und dass sie auch am Wochenende arbeiten." Vor einiger Zeit habe er einen Schichtführer in der Produktion gefragt: Wer ist das? Der Schichtführer habe geantwortet, das wisse er nicht. Bechtle sei dann zu dem chinesischen Kollegen hin, der sprach kein Deutsch, Bechtle kein Englisch, also habe er ihn mit Hilfe eines Online-Übersetzers befragt. "Da erklärte er mir, er sei Anlageingenieur. Aber er hat da gestanden und montiert. Von 19.30 Uhr bis 8:30."

Die Berufsqualifikation und die Tätigkeit sind bedeutsam, denn Arbeitskräfte von außerhalb der EU brauchen besondere Arbeitsgenehmigungen. Um die zu bekommen, sind Unterstützungsschreiben hilfreich. Holger Weise, der parteilose Bürgermeister von Steinheim, unterstützte das gerne. Der 45-Jährige hockt während der Streikkundgebung etwas abseits auf einer Mauer, hört den Reden zu. "Ich habe regelmäßige Kontakte mit der Geschäftsführung", sagt er. Als die ihn um Unterstützungsschreiben für zehn IT-Leute aus China gebeten habe, fand er das einleuchtend. "Aber zehn, nicht hundert." Von den geschilderten schlechten Arbeitsbedingungen habe er bislang noch nie gehört, regelmäßige Kontakte mit dem Betriebsrat pflege er nicht. "Man muss jetzt mal die andere Seite hören", findet er.

Die Geschäftsführung erklärt auf Kontext-Anfrage, die chinesischen Beschäftigten seien nur zur Unterstüzung in Deutschland, es handele sich um Fachpersonal unter anderem für IT, Anlagenmanagement und Management. Längstens würden sie zwei Jahre in Deutschland arbeiten und alle hätten deutsche Arbeitsverträge, "die Arbeitszeiterfassung gilt für jeden Beschäftigten".

Kapitalismus pur

Der Dokumentarfilm "American Factory" erzählt, wie der chinesische Investor Cho Tak Wong, Inhaber des Fuyao-Konzerns, in Dayton Ohio ein stillgelegtes General-Motors-Werk neu eröffnet. Die Freude der Arbeiter währte nicht lange, die Löhne lagen deutlich unter dem früheren Niveau, Arbeitssicherheit und Arbeitnehmerrechte wurden ignoriert, gewerkschaftliches Engagement torpediert. Durchgesetzt wird eine chinesische Arbeitsweise mit 12-Stunden-Tagen, Sechs-Tage-Woche und Aufopferung für die Firma. Der Film von Julia Reichert und Steven Bognar gewann 2020 den Oscar als bester Dokumentarfilm und ist bei Netflix abrufbar. (lee)

Das Prinzip "American Factory"

Von den chinesischen MitarbeiterInnen ist bei der Demo niemand zu sehen. "Die dürfen wahrscheinlich nicht raus", heißt es immer wieder von der Stammbelegschaft. Betriebsrat Andreas Vida hat den Eindruck: "Die werden noch beschissener behandelt als wir." Der 58-jährige Instandhalter empfiehlt: "Man muss sich den Film 'American Factory' ansehen. Genauso ist es hier. Einheimische Arbeitskräfte werden durch Chinesen ersetzt, Arbeitnehmerrechte gelten nichts."

Nicht nur dieser Dokumentarfilm zeigt, wie Fuyao vorgeht. Auch aus der im August 2018 eröffneten Europa-Zentrale des Konzerns in Leingarten bei Heilbronn drangen schlechte Nachrichten. Wie die "Heilbronner Stimme" berichtete, wurden dort ebenfalls chinesische Arbeitskräfte eingesetzt, eine Betriebsratswahl kam nicht zustande, Beschäftigte wurden ohne Sozialplan gekündigt.

Diese Methoden dürften nicht um sich greifen, sagt Martin Purschke, Chef der IG Metall Göppingen. "Ich habe schon viele Schweinereien von Arbeitgebern erlebt, aber so wie hier – das ist für mich neu. Hier werden Rechte ausgehebelt, die sich die Arbeiterbewegung in 150 Jahren erkämpft hat." Das ruft er auch den Streikenden vor dem Werkstor zu und appelliert an die Solidarität: Die überraschend aufgetauchten neuen Beschäftigten dürften nicht in eine Ecke gestellt werden. "Es gibt chinesische Kollegen, die werden hier gezwungen, zehn Stunden am Tag zu arbeiten." Unter der Stammbelegschaft würden reihenweise Aufhebungsverträge verteilt, sagt Purschke. Auch das, ohne den Betriebsrat zu beteiligen. Wegen Verstößen gegen das Betriebsverfassungsgesetz hat der Betriebsrat das Arbeitsgericht eingeschaltet, in diesem Monat werden die ersten Verhandlungen stattfinden. Gegenüber Kontext erklärt die Geschäftsführung auf Anfrage: "Der Betriebsrat wurde zu jeder Zeit über die Anzahl und Personen informiert. Richtig ist allerdings, dass teilweise Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden."

Mittlerweile ist der Zoll aktiv geworden. Kürzlich ist er mit zwei Teams an einem Samstag vor dem Fysamwerk in den Heidhöfen bei Böhmenkirch angerollt. Razzia. "Konkrete Hinweise auf unangemessene Beschäftigung oder Arbeitszeitverstöße an diesem Tag haben wir nicht festgestellt", sagt der Sprecher des Hauptzollamts Ulm und betont "an diesem Tag". Doch die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen, man habe Unterlagen vom Unternehmen angefordert, die nun ausgewertet würden. Eingebunden in die Untersuchung seien das Finanzamt, die Ausländerbehörde und die Arbeitsschutzbehörde des Regierungspräsidiums. Mit sechs bis acht Wochen Arbeit müsse gerechnet werden, bis erste Erkenntnissen vorliegen.

Sich Fysam nicht fügen

Und dann? Vielleicht gibt es Strafen, vielleicht nicht. Petra Kallenbach wollte das nicht mehr abwarten. Sie hat einen Aufhebungsvertrag akzeptiert. "Die hatten mehrmals versucht, mir einen anzudrehen", erzählt die 61-Jährige, die vor 17 Jahren auf die Ostalb gekommen ist, weil sie in ihrem erlernten Beruf als Textilfacharbeiterin in Cottbus keine Arbeit mehr fand. "Anfangs war ich in der Laufkontrolle, habe Teile geholt und kontrolliert", berichtet sie. Das sei dann gesundheitlich nicht mehr gegangen, sie wechselte ins Werk 2 als Maschinenbedienerin. Vor 17 Jahren habe sie 8,18 Euro in der Stunde verdient, nun nach 17 Jahren, waren es 11 Euro. "Elf Euro. Eigentlich bitter", sagt sie nachdenklich. Kallenbach hofft, mit der Abfindung und Arbeitslosengeld bis zur Rente durchzukommen. Eine Stütze sei ihr Partner, der beim Daimler geschafft habe und dort eines der gut dotierten Ausstiegsprogramme in Anspruch nehmen konnte.

Kallenbach konnte eine Abfindung rausholen, andere können davon nur träumen. "Selbst wenn ihr hier 20 Jahre gearbeitet habt – die wollen euch nichts geben", ruft Gewerkschafter Purschke ins Mikrofon. "Sie haben keinen Respekt vor euch und vor eurer Leistung." Entgegen den Ankündigungen bei der Übernahme 2019 hat der chinesische Investor nicht alle Arbeitsplätze erhalten. Von den damals 1.800 sind aktuell noch rund 1.100 Leute da. Und die Löhne wurden auch nicht erhöht, im Gegenteil. In diesem Sommer zahlte Fysam – ohne Ankündigung oder gar Verhandlung – einfach mal kein Urlaubsgeld.

Fragt man die Warnstreikenden nach weiteren Erlebnissen, sprudelt es nur so: "Du arbeitest, plötzlich steht neben dir ein Chinese, schaut zu. Dann fängt er an, mitzuarbeiten. Dann gehst du in die Pause, kommst wieder und an deinem Arbeitsplatz steht der Chinese und du hast nichts zu tun." Der nächste: "Die Chinesen arbeiten auch am Wochenende. Das merken wir daran, wie unsere Arbeitsplätze am Montagmorgen aussehen. Und dann haben wir nichts zu tun." Der nächste: "Im Werk in den Heidhöfen gibt es keine Klobrillen mehr auf den Toiletten, woanders bringen die Kollegen ihr eigenes Klopapier mit." Der nächste: "Wer mit den Medien redet, bekommt das im Werk zu spüren, wird gemobbt."

Chinesischer Kapitalismus

Die Fuyao Glass Industry Group beschäftigt weltweit 26.000 Frauen und Männer und gehört mit einem Umsatz von zwei Milliarden Euro zu den größten Autoglas-Zulieferen der Welt. Gegründet wurde der Konzern nach eigenen Angaben 1987 vom heutigen Inhaber Cho Tak Wong als kleine Glasfabrik in Fuzhou, China. Kunden sind unter anderem die VW-Gruppe, BMW und Daimler. (lee)

Eingeladen zur Kundgebung hat die IG Metall auch PolitikerInnen von der lokalen, der Landes- und Bundesebene. Mehrere lassen Grüße ausrichten, gekommen ist nur eine: die frisch wieder gewählte SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier, die hier ihren Wahlkreis hat. "Ich habe verstanden", versichert sie den Streikenden per Mikrofon. "Und ich werde das nach Berlin tragen." Schließlich habe man im Bundestag lange an einem Lieferkettengesetz gearbeitet, das Konzerne dazu verpflichte, bei Importen auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen ihrer ausländischen Zulieferer zu achten. "Und dann werden Menschen hierher importiert, um ausgebeutet zu werden. Das können wir nicht dulden."

Betriebsratschef Bechtle, sein Kollege Vida und IG Metaller Purschke befürchten, dass Fysam mittelfristig das Werk komplett nach China verlagern will. Deswegen wären die chinesischen Arbeitskräfte jetzt da – sie sollen wohl die Abläufe lernen. Purschke kommentiert: "Hier werden gerade die Lager voll gemacht. Da liegen Teile für drei Monate, schätze ich. Normal sind ein paar Tage Vorrat." Das dementiert Fysam: "Kunden verlangen von uns den Aufbau eines Sicherheitsbestandes von vier bis acht Wochen. Fysam soll nicht komplett verlagert werden."

Nach zwei Stunden fahren Busse die TeilnehmerInnen wieder an ihre Arbeitsplätze in Böhmenkirch und in die Heidhöfe. Das Heidhöfe-Werk liegt idyllisch am Ende einer Straße, die gesäumt ist von Bauernhöfen. Gegenüber vom Werkstor grasen Pferde. Die rund 20 Männer bummeln langsam zur Schicht. Einer dreht sich um und ruft: "Schöne Gegend, scheiß Firma."


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3 Kommentare verfügbar

  • Andy
    am 07.10.2021
    Antworten
    Ein Hallo an alle die den Bericht und die Kommentare lesen!
    Wenn ihr zum Beispiel nach Ramstein in die Air Base kommt werdet ihr sehen das dies Amerikanischer Grund auf deutschem Boden ist.
    Genau das Selbe spüren die Mitarbeiterin diesem Betrieb, nur anstatt mit Amerika hier mit China, es herscht…
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