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Landtagswahl und Tariftreue

Kaum Interesse an guter Arbeit

Landtagswahl und Tariftreue: Kaum Interesse an guter Arbeit
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Immer weniger Beschäftigte arbeiten in einem Unternehmen mit Tarifvertrag. Das bedeutet Unsicherheit, weniger Einkommen und weniger Steuern. Die baden-württembergische Landesregierung verweist da gerne auf ihr Tariftreuegesetz. Doch ein halbherziges Gesetz macht noch keinen Tarif.

In dieser Woche bringt die oppositionelle SPD im Landtag einen Gesetzesentwurf für ein ausgeweitetes Tariftreuegesetz ein. Wenig überraschend haben Grüne, CDU, FDP und AfD angekündigt, es abzulehnen. In dem Fall war das wahrscheinlich nicht allzu schädlich, denn der Entwurf sei zwar gut gemeint, handwerklich aber nicht besonders gut gemacht, so Thorsten Schulten, Tarifexperte von der Böckler-Stiftung, kürzlich im Rahmen einer Online-Veranstaltung des hiesigen DGB zum Thema Tariftreue. Seine Kritik: Im SPD-Gesetzentwurf heißt es, "das Wirtschaftsministerium kann durch Rechtsverordnung für Auftragnehmer der öffentlichen Hand Festlegungen mit Bezug auf einen jeweils einschlägigen Tarifvertrag vornehmen". Für Schulten ist das "kann" eine zu weiche Formulierung.

Im Südwesten fallen nur noch 52 Prozent der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag. Vor allem in großen Unternehmen wie Daimler und im öffentlichen Dienst können sich Beschäftigte darauf verlassen, dass sie ihren Lohn regelmäßig bekommen, dass es Urlaubs- und Weihnachtsgeld gibt und mehr Urlaub als gesetzlich vorgeschrieben. Doch wer für einen kleineren Automobilzulieferer arbeitet, wie zum Beispiel PSS, hat das alles nicht. Ganz schlecht sieht es im Einzelhandel aus, der zweitgrößten Branche: Gerade noch 28 Prozent der Beschäftigten arbeiten nach Tarif, hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung festgestellt, die regelmäßig die Tarifbindung in Deutschland erhebt. Tendenz: sinkend.

Teure Tarifflucht

Stetig fliehen Unternehmen aus Tarifen, jüngst erklärte die Buchhandelskette Thalia, sie beteilige sich nicht mehr am Branchentarifvertrag. Tesla hat bereits angekündigt, sich in seinem neuen Werk in Brandenburg nicht an den geltenden Tarifvertrag halten zu wollen. In Baden-Württemberg sank zwischen 2000 und 2018 die Anzahl der tarifgebunden Betriebe von 43 auf 23 Prozent und die der Beschäftigten von 68 auf 52 Prozent. Nach Berechnungen des DGB könnten sich die jährlichen Mindereinnahmen in Baden-Württemberg auf 1,6 Milliarden Euro Steuern, 2,6 Milliarden Euro Sozialversicherungsbeiträge und 3,7 Milliarden Euro verringerte Kaufkraft aufsummiert haben. (ges)

Grün-Rot in Baden-Württemberg erließ 2013 ein Tariftreuegesetz. Das verpflichtet die öffentliche Hand, Aufträge ab 20.000 Euro an Tarifverträge beziehungsweise branchenspezifische Mindestlöhne zu koppeln. Könnte man jedenfalls denken. Ist aber nicht so. Das Gesetz schreibt diese Tariftreue letztlich nur für Dienstleistungen, den Bau und den ÖPNV vor. Dabei ist der Mindestlohn in der Baubranche allgemeinverbindlich festgeschrieben, heißt: Den müssen sowieso alle Baufirmen zahlen. Das baden-württembergische Tariftreuegesetz ist also eher ein zahnloser Tiger. Dabei hätte die öffentliche Hand durchaus ein wirksames Steuerungsinstrument in der Hand: Nach DGB-Angaben gehen in Baden-Württemberg jährlich 10 bis 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die öffentliche Beschaffung und Vergabe, für 2019 wären das Aufträge im Wert von 52 bis 78 Milliarden Euro.

"Die nehmen ihr Gesetz nicht ernst"

Als die Macht an Grün-Schwarz ging, schrieben die beiden Parteien 2016 in ihren Koalitionsvertrag: "Wir werden Baden-Württemberg zu einem Musterland für gute Arbeit entwickeln." Und: "Wir stehen zu tariflich entlohnter Arbeit und zur Tariftreue." Vor zwei Jahren ließ man das Tariftreuegesetz evaluieren und fand heraus: Es ist kein Bürokratiemonster (hatten die Arbeitgeber stets behauptet) und der Wettbewerb hat sich nicht verändert (hatten die Arbeitgeber auch gerne behauptet). Ob die Tarifbindung gestiegen war, wurde nicht ermittelt. Ansonsten gab es seitens der Landesregierung keinerlei Bemühungen, sich für mehr Tarifbindung einzusetzen. Dabei hätte man wie andere Bundesländer das Tariftreuegesetz auf weitere – oder alle – Branchen ausdehnen und schärfen können, zum Beispiel indem man Kontrollen über die Einhaltung von Tarifverträgen vorschreibt. Kein Interesse bei Grünen und Schwarzen.

Der DGB fordert seit Jahren gebetsmühlenartig vom Land, sich für Tarifbindung einzusetzen und das Tariftreuegesetz zu verbessern. "Ein Schwachpunkt sind die fehlenden Kontrollen", moniert Stefan Rebmann vom DGB Baden-Württemberg. "Wir haben beim Ministerium nachgefragt, wie oft das passiert ist. Das wussten die nicht mal. Ich würde sagen: Die nehmen ihr eigenes Gesetz nicht ernst." Zudem sollte sich das Gesetz laut Rebmann, der von 2011 bis 2017 für die SPD im Bundestag saß, auch auf Lieferverträge und Konzessionen beziehen. Warum ist nicht vorgeschrieben, dass die Lieferanten von Schulspeisungen tarifgebunden sein müssen? Oder private Betreiber von Kitas? Oder Reinigungsfirmen? Müssten Reinigungsfirmen wie der öffentliche Dienst zahlen, hätten die Kommunen keinen Grund mehr, ihre Putzkräfte auszulagern.

Weitere Kritik: Weil das Gesetz die Tariftreue erst ab einer Leistung von 20.000 Euro vorsieht, seien ungefähr die Hälfte der Vergaben der öffentlichen Hand gar nicht berücksichtigt, so Rebmann. Und vom Rest, also den über 20.000-Euro-Vergaben, falle wiederum die Hälfte weg, weil sie nicht Bau oder Dienstleitungen sind. In anderen Bundesländern gilt Tariftreue für alle ausgeschriebenen Vergaben, egal wie hoch. In Gesprächen mit Politikern wundert sich Rebmann immer wieder darüber, dass ausgerechnet die öffentliche Hand sich schwertut, Tarifverträge verpflichtend zu machen. "Wir erleben die Debatten darüber ja auch auf kommunaler Ebene, denen muss man immer klarmachen, dass Bürgermeister nach Tarifvertrag bezahlt werden. Selbst nehmen sie einen Tarifvertrag also gerne in Anspruch."

In anderen Ländern geht das

Der Tarifexperte der Böcklerstiftung Schulten plädiert dafür, sich das Tariftreuegesetz des Landes Berlin zum Vorbild zu nehmen, da es das weitestgehende sei. Dass der nächste baden-württembergische Landtag das tut, scheint eher unwahrscheinlich. Im CDU-Programm kommt das Wort "Tariftreue" gar nicht vor, bei den Grünen heißt es etwas schwammig: "Wir wollen das Tariftreuegesetz weiterentwickeln und einen Vergabemindestlohn von zwölf Euro einführen." Die SPD wird konkreter: "Wir werden das Landestariftreue- und Mindestlohngesetz zu einem guten Vergabe- und Tariftreuegesetz weiterentwickeln. Hierzu gehört für uns, dass das Gesetz für alle öffentlichen Auftragsvergaben gelten soll." Die Sozialdemokraten wollen den vergabespezifischen Mindestlohn auf 12,47 Euro pro Stunde festlegen. Die Linke will 13 Euro und soziale sowie ökologische Kriterien an die Vergabe koppeln.

Dass im baden-württembergischen Tariftreuegesetz auf diese Kriterien komplett verzichtet wurde, wundert auch Rebmann vom DGB: "Immerhin ist das Gesetz ja von Grün-Rot gemacht worden." Rechtlich möglich wäre es, erläutert Tarifexperte Schulten. Die Länder hätten große Spielräume, um Tarifbindung zu fördern: "Zum Beispiel hat Mecklenburg-Vorpommern sogar festgelegt, Fördergelder ab einer bestimmten Höhe auch an Tarifbindung zu koppeln."

MarktwirtschaftlerInnen argumentieren gerne, es würde die Tarifparteien schwächen, wenn der Gesetzgeber sich in das Tarifgeschehen einmischt. Wenn Gewerkschaften stark wären, also viele Mitglieder hätten, würden sie eben gute Tarifverträge machen. Wenn nicht, hätten Beschäftigte wohl kein Interesse an abgesicherten Arbeitsbedingungen. Das hält Thorsten Schulten für Unsinn: Mit Blick auf unsere Nachbarn gebe es fast kein Land, wo Massen in Gewerkschaften organisiert seien. "Gewerkschaften sind immer darauf angewiesen, dass bestimmte Institutionen die ausgehandelten Verfahren verallgemeinern." So erklären Länder wie Belgien, Frankreich, Niederlande fast alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich. Tarifverträge gelten also auch für Firmen, die nicht im Arbeitgeberverband sind. In Österreich läuft es etwas anders. Dort sind etwa 28 Prozent der Beschäftigten in einer Gewerkschaft, Tarifverträge aber gelten für 95 Prozent. Denn in Österreich gilt in weiten Teilen eine Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen in Wirtschaftskammern, die die meisten Tarifverträge abschließt. Schulten folgert: "Es gibt also verschiedene Wege, Tarifbindung zu stärken."

Kein Weg sei dagegen der Trend in deutschen Arbeitgeberverbänden, Unternehmen eine OT-Mitgliedschaft (ohne Tarif) anzubieten. Damit wird die Idee zerstört, durch Branchentarifverträge ruinöse Wettbewerbe auf Kosten der Beschäftigten zu verhindern. Mal ganz abgesehen davon, dass dem Staat durch Billiglöhne Steuereinnahmen und Sozialbeiträge verloren gehen. Wer Tarifbindung tatsächlich stärken und keine USA-Verhältnisse haben will, müsste Schulten zufolge also wirksame Tariftreuegesetze verabschieden – auch auf Bundesebene. Doch dort blockiert die CDU dieses Vorhaben. Zudem könnten die herrschenden Parteien das Verfahren erleichtern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Möglich wäre es.


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