1) Der handschriftliche Eintrag vom 20.8.1942 lautet: "In was für einem Morast stecken wir. Wozu hat auch ein Mörike gelebt mit seinen zarten Liebesgedichten. Ein Goethe, ein Schiller, ein Hugo Wolf, ein Beethoven, ein Schubert, ein Schumann, ein Brahms! Was für eine Horde von Schandbuben regiert das deutsche Volk." Diese Stelle fehlt an besagtem Datum im nun veröffentlichten Typoskript, stattdessen setzte Anna Haag ihn stark abgeändert an dessen Anfang und gibt ihm das Datum 11.5.1940 (der Tag nach dem Beginn des deutschen Angriffskriegs gegen Frankreich): "Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören."
2) Im Typoskript steht am 20.1.44: "… ich kann keinem Soldaten mehr ins Gesicht blicken, ohne mich zu fragen: 'War er … vielleicht auch dabei?' Dabei, (…) als man Lidice vernichtete, war er in Oradour? In Amsterdam?" Diese Stelle wurde von Anna Haag erst nachträglich eingefügt, der eklatante zeitliche Widerspruch fiel ihr dabei nicht auf: Die im Amsterdamer Hinterhaus Versteckten, darunter Anne Frank, wurden am 4. August 1944 verraten; die SS-Massaker in Lidice und Oradour fanden statt am 10. Juni 1942 bzw. am 10. Juni 1944. Auch Verlag und Herausgeberin entdeckten den Widerspruch zunächst nicht, in der neuen Auflage soll er aber korrigiert sein, so Holleis.
3) Wie Anna Haag ihre Aufzeichnungen bisweilen änderte, zeigt ein weiteres Beispiel: Die Wände der kleinen Kammer, in der sie vier Monate lang (in einem Dorf) Asyl fand und nächtigte, waren laut Originalhandschrift "behangen mit Engeln, frommen Sprüchen, Christus- und Militärbildern". Im nach 1945 bearbeiteten Typoskript lautet der Eintrag so: "behangen mit Engeln, Bibelsprüchen, Generalen, Bismarck, Hitler, Christus." Anna Haags Absicht nach 1945 war offenbar, aus dem – selbst erlebten – winzigen Raum im übertragenen Sinn eine für sie typische deutsche Stube des "Dritten Reiches" zu machen, und sie füllte ihn auch mit Bildern, die in ihrer auswärtigen Schlafkammer nicht vorhanden waren.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Zeigen die angeführten Beispiele vor allem, dass Haag ihr handschriftliches Material fürs Typoskript sehr frei komponierte – so frei, dass es oft schwierig wird, hier noch von einem authentischen Tagebuch zu sprechen –, so beweisen einige Stellen aus ihrem Erinnerungsbuch von 1968, dass die Stuttgarterin durchaus geneigt war, ihre Handlungen im Nachhinein besser darzustellen.
Kein Publikationsverbot
So schildert sie darin in einem Tagebucheintrag ein angebliches Erlebnis aus dem Jahr 1942: Sie persönlich sei in der Straßenbahn aufgestanden und hätte einer Jüdin mit Davidstern Platz gemacht. Reaktion: "Volkswut" – "Judenknecht"-Rufe – "Hinaus!". Daniel Goldhagen hat in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" diese Szene zitiert. Aber dieser Vorgang steht so weder im Original-Tagebuch noch im Typoskript. Erlebt und etwas anders geschildert hat ihn dort ein "Freund L." am 4.3.1942: Nachdem ein "Jude mit Stern" in die Straßenbahn eingestiegen sei, habe sich ein hitziger Streit zwischen zwei Fahrgästen entwickelt, in dessen Verlauf einer den anderen als "Judenknecht" bezeichnete.
Auch zu Haags selbst veröffentlichtem Erinnerungsbuch von 1968 ließen sich noch weitere Beispiele anführen, in denen Unterschiede in Inhalt und Datum zu Original-Tagbüchern und Typoskript Fragen aufwerfen. Eine sorgfältige Edition hätte dies thematisieren können.
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Auch ein Ernst Jünger mogelte.
am 05.05.2021