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Tagebücher der Anna Haag

Metamorphose eines Kriegstagebuchs

Tagebücher der Anna Haag: Metamorphose eines Kriegstagebuchs
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Die kürzlich erschienene Edition der Kriegstagebücher von Anna Haag, Stuttgarter Schriftstellerin und Politikerin, wird mit hymnischen Rezensionen gefeiert. Unbeleuchtet bleiben dabei eklatante Widersprüche.

Die Wiederentdeckung begann in England: Vor fünf Jahren hat der damals in Brighton lebende Germanistikprofessor Edward Timms (1937 bis 2018) das Kriegstagebuch der Stuttgarterin Anna Haag (1888 bis 1982) in einer Studie zum Thema "Feministin im Nationalsozialismus" ausführlich analysiert und lange Ausschnitte daraus dokumentiert. Seither erscheinen alle zwei Jahre Neuausgaben dieses "Secret Diary of the Second World War", 2019 auch eine deutsche Ausgabe. Jetzt, 2021, ist im Reclam-Verlag unter dem Titel "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode" das Typoskript des Tagebuchs erschienen, eine Bearbeitung von Anna Haag selbst, aus der Zeit nach Kriegsende 1945.

In ihren Aufzeichnungen aus den Jahren 1940 bis 1945 erzählt Haag vom täglichen Leben im Nationalsozialismus, beschreibt etwa, wie die Ideologie des NS-Regimes in die Gesellschaft hineinwirkte und sie selbst damit haderte, charakterisiert das Verhalten ihrer Mitmenschen. Und sie dokumentiert auch, was "einfache" Deutsche von den Verbrechen des Nationalsozialismus, von der Verfolgung und Ermordung der Juden wissen konnten – sehr viel laut Haag. Den Alltag in der Neubausiedlung in Sillenbuch (mit zahlreichen NS-Anhängern) schildert sie anhand vieler Gespräche. BBC und Thomas Mann sind unter ihren zusätzlichen Informanten und geben Orientierung. Dabei macht sie sich "keine Illusionen" über "uns Frauen". Viel zu viele seien "dem Rattenfänger nachgelaufen."

Timms kam zu dem Urteil, diese "hochkarätige Anti-Nazi-Chronik" sei "historisch gehaltvoll", "stilistisch gekonnt", "voller subtiler Reflexionen und scharfsinniger Urteile". Es ist die Rede von einer "schonungslosen Kritik an den Verbrechen des Nationalsozialismus". Der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Durs Grünbein bezeichnete 2019 in seiner Oxford-Vorlesung diese Chronik der Jahre 1940 bis 1945 als eine "Fundgrube ersten Ranges."

In diesen Tenor stimmen jetzt viele Rezensionen der Reclam-Ausgabe ein. "Zeit", FAZ, "Süddeutsche Zeitung" und "Deutschlandfunk" stellen Anna Haags Aufzeichnungen in eine Reihe mit denen Victor Klemperers. "Unbekannt", wie oft behauptet wird, ist die Autorin allerdings nicht geblieben. Auszüge aus dem Tagebuch sind auch schon vor der englischen Entdeckung hierzulande gedruckt worden: Unter dem Titel "Das Glück zu leben" veröffentlichte Haag selber 1968 ein Erinnerungsbuch, das auch viele Tagebucheinträge umfasste. Seitdem sind Tagebuchauszüge in fünf weiteren Büchern erschienen, zuletzt  2005/06. Oberhalb der Martin-Luther-Kirche in Stuttgart-Sillenbuch sind in einem Gedenkareal zu Ehren Anna Haags markante Sätze zu lesen. Zum Beispiel: "Wer gibt Menschen das Recht, uns unsere Kinder zu nehmen, sie zu Verbrechen zu zwingen, sie hinschlachten zu lassen?"

Hat Haag ihre Handlungen im Nachhinein beschönigt?

Im Stuttgarter Stadtarchiv sind Haags Aufzeichnungen aufbewahrt, 20 Quarthefte. Aber nicht diese ursprüngliche, handschriftliche Fassung des Tagebuchs ist nun publiziert worden, sondern eben die von Anna Haag nach 1945 selbst gekürzte und zum Teil abgeänderte, aber zu ihren Lebzeiten so nicht gedruckte Typoskript-Version. Weitgehend unberücksichtigt blieb die von Haag in Auszügen veröffentlichte Tagebuch-Version in ihrem Erinnerungsbuch von 1968. Die Herausgeberin der jetzigen Veröffentlichung bei Reclam, Jennifer Holleis, schreibt in ihrem Nachwort, Anna Haag habe ihre Tagebücher – was das Typoskript betrifft – lediglich komprimiert, nicht aber verändert, sie habe "weder ihre Gedanken zugespitzt, noch ihre Positionen verschärft". Und Haag habe nicht versucht, so Holleis, "im Nachhinein ihre Handlungen besser darzustellen", also "zu beschönigen". Aber stimmt das?

Eine Überprüfung der beiden Vorlagen ergibt: Zunächst einmal änderte Haag Ortsnamen; aus Stuttgart wurde "unsere Stadt", aus Daimler und Bosch wurden "große Fabriken". Auch Eigennamen und Berufsbezeichnungen wurden abgewandelt. Aber schrieb Anna Haag nachträglich – im Typoskript – anders, als sie es selber erlebt hat? Einige Beispiele zeigen, dass sie zumindest sehr frei mit ihren Aufzeichnungen umging:

"Nicht wissenschaftliches Werk"

Kontext hat Jennifer Holleis, Herausgeberin der bei Reclam erschienenen Tagebuch-Edition, um eine Stellungnahme zu den Kritikpunkten gebeten. Sie schreibt: "Jeglicher Diskurs ist in Anna Haags Sinn – und auch in meinem als Herausgeberin. Kritik an einem nicht wissenschaftlichen Werk muss angemessen sein. Im Zuge der Verdichtung hat Anna Haag Inhaltliches gestrafft, allerdings keine Veränderungen vorgenommen, die einen moralischen Wandel oder ein verbessertes Selbstbild zur Folge gehabt hätten. Für eine quellenkritische, wissenschaftliche Analyse, wie von Günter Randecker vorgeschlagen, wäre nicht nur ein neues Buch erforderlich, sondern ein vermutlich auf mehrere Jahre angelegtes subventioniertes Editionsprojekt, um den genannten editionsphilologischen Anforderungen zu entsprechen und die Verdichtungen im Detail aufschlüsseln zu können. Weder der Familie von Anna Haag noch mir sind Veröffentlichungen im Jahrbuch des BDM 1939/40 bekannt."

1) Der handschriftliche Eintrag vom 20.8.1942 lautet: "In was für einem Morast stecken wir. Wozu hat auch ein Mörike gelebt mit seinen zarten Liebesgedichten. Ein Goethe, ein Schiller, ein Hugo Wolf, ein Beethoven, ein Schubert, ein Schumann, ein Brahms! Was für eine Horde von Schandbuben regiert das deutsche Volk." Diese Stelle fehlt an besagtem Datum im nun veröffentlichten Typoskript, stattdessen setzte Anna Haag ihn stark abgeändert an dessen Anfang und gibt ihm das Datum 11.5.1940 (der Tag nach dem Beginn des deutschen Angriffskriegs gegen Frankreich): "Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören."

2) Im Typoskript steht am 20.1.44: "… ich kann keinem Soldaten mehr ins Gesicht blicken, ohne mich zu fragen: 'War er … vielleicht auch dabei?' Dabei, (…) als man Lidice vernichtete, war er in Oradour? In Amsterdam?" Diese Stelle wurde von Anna Haag erst nachträglich eingefügt, der eklatante zeitliche Widerspruch fiel ihr dabei nicht auf: Die im Amsterdamer Hinterhaus Versteckten, darunter Anne Frank, wurden am 4. August 1944 verraten; die SS-Massaker in Lidice und Oradour fanden statt am 10. Juni 1942 bzw. am 10. Juni 1944. Auch Verlag und Herausgeberin entdeckten den Widerspruch zunächst nicht, in der neuen Auflage soll er aber korrigiert sein, so Holleis.

3) Wie Anna Haag ihre Aufzeichnungen bisweilen änderte, zeigt ein weiteres Beispiel: Die Wände der kleinen Kammer, in der sie vier Monate lang (in einem Dorf) Asyl fand und nächtigte, waren laut Originalhandschrift "behangen mit Engeln, frommen Sprüchen, Christus- und Militärbildern". Im nach 1945 bearbeiteten Typoskript lautet der Eintrag so: "behangen mit Engeln, Bibelsprüchen, Generalen, Bismarck, Hitler, Christus." Anna Haags Absicht nach 1945 war offenbar, aus dem – selbst erlebten – winzigen Raum im übertragenen Sinn eine für sie typische deutsche Stube des "Dritten Reiches" zu machen, und sie füllte ihn auch mit Bildern, die in ihrer auswärtigen Schlafkammer nicht vorhanden waren.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Zeigen die angeführten Beispiele vor allem, dass Haag ihr handschriftliches Material fürs Typoskript sehr frei komponierte – so frei, dass es oft schwierig wird, hier noch von einem authentischen Tagebuch zu sprechen –, so beweisen einige Stellen aus ihrem Erinnerungsbuch von 1968, dass die Stuttgarterin durchaus geneigt war, ihre Handlungen im Nachhinein besser darzustellen.

Kein Publikationsverbot

So schildert sie darin in einem Tagebucheintrag ein angebliches Erlebnis aus dem Jahr 1942: Sie persönlich sei in der Straßenbahn aufgestanden und hätte einer Jüdin mit Davidstern Platz gemacht. Reaktion: "Volkswut" – "Judenknecht"-Rufe – "Hinaus!". Daniel Goldhagen hat in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" diese Szene zitiert. Aber dieser Vorgang steht so weder im Original-Tagebuch noch im Typoskript. Erlebt und etwas anders geschildert hat ihn dort ein "Freund L." am 4.3.1942: Nachdem ein "Jude mit Stern" in die Straßenbahn eingestiegen sei, habe sich ein hitziger Streit zwischen zwei Fahrgästen entwickelt, in dessen Verlauf einer den anderen als "Judenknecht" bezeichnete.

Auch zu Haags selbst veröffentlichtem Erinnerungsbuch von 1968 ließen sich noch weitere Beispiele anführen, in denen Unterschiede in Inhalt und Datum zu Original-Tagbüchern und Typoskript Fragen aufwerfen. Eine sorgfältige Edition hätte dies thematisieren können.

Darüber hinaus kann Anna Haags öffentliches schriftstellerisches Wirken in den Jahren 1933 bis 1945 nicht ausgeblendet werden. Es ist durchaus vergleichbar mit der Gratwanderung einer Luise Rinser (die sogar inhaftiert wurde): zwischen publizistischer Anpassung nach außen und oppositioneller innerer Emigration, in Form privater Tagebücher. Ein Leben in Widersprüchen also. Haag hatte in der NS-Zeit keineswegs Schreib- und Publikationsverbot, wie bis heute immer wieder behauptet wird, unter anderem in der FAZ (2019) und von Knud von Harbou in seiner aktuellen SZ-Rezension (worüber dieser Fehler auch auf Anna Haags Wikipedia-Eintrag gelangte). 1939/40 zum Beispiel erschien das Jahrbuch des "Bund Deutscher Mädel" (BDM) unter dem Titel "Wir Mädel". In der Erzählung "Kamerad Liselotte", unterschrieben mit Anna Haags vollem Namen, kamen die Abiturientinnen "braun wie knusprige Brezel" vom "BDM-Schilager". Der Schulleiter stieg bei der Abi-Feier aufs Podium, "das mit Fahnen ... überreich geschmückt ist." Die Erzählung schmückte eine Zeichnung mit der Hakenkreuzfahne (Bild rechts).

In einem weiteren Beitrag formulierte eine Autorin mit den Initialen "A.H." einen "Mutterbrief" an ihr "liebes Kind": "Unsere Große ist jetzt in die Jugendgruppe der NS-Frauenschaft eingetreten und lernt ... viel Neues." Der anderen Tochter empfahl sie: "In der Gemeinschaft der NS-Schwesternschaft wird sie das nötige Rüstzeug mit auf den Weg bekommen." Und ebenfalls in jenem BDM-Jahrbuch findet sich von "A.H." eine Stelle, die zum aktuellen Reclam-Titel "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode" (ein Tagebucheintrag von 1941) in einem gewissen Kontrast steht: "Der Staat sagt: Paßt auf, Ihr Frauen, volkswirtschaftlich mitdenken …" Dass  die mit A.H. gekennzeichneten Beiträge von Anna Haag sind, ist sehr plausibel; denn diese Initialen stehen im dem Jahrbuch auch bei einem Auszug aus Haags 1926 erschienenen Roman "Die vier Roserkinder".

Haag ließ 1968 in ihrem Erinnerungsbuch solche gedruckten Stellen weg, versäumte es, sich damit auseinanderzusetzen. Insofern kann man ihr ("geheimes") Tagebuch nicht auf eine Stufe mit den Aufzeichnungen von Victor Klemperer stellen.

Engagierte Politikerin nach dem Krieg

"Nie wieder Krieg" war Anna Haags Motto nach 1945. Ihre größte Lebensleistung war, als sie 1948 als SPD-Abgeordnete im Stuttgarter Landesparlament das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchsetzte. Und ihre Gründung des Anna-Haag-Hauses in Bad-Cannstatt ist eine weitere Errungenschaft dieser Friedensfrau.

Eine aktive Frau

Anna Haag, Schriftstellerin und SPD-Politikerin, geboren am 10. September 1888 in Althütte (heute Rems-Murr-Kreis), heiratet mit 21 den Mathematiklehrer Albert Haag, lebt mit ihm in Bukarest und Nürtingen, bis die Familie mit ihren drei Kindern 1926 nach Stuttgart zieht, wo Anna Haag mit "Die vier Roserkinder" ihren ersten Roman veröffentlicht.

Nach dem Krieg wird Anna Haag Mitglied des Vorläufers des späteren Gemeinderats, gründet die Stuttgarter Gruppe der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) neu, wird Gründungsmitglied in der neu formierten SPD und engagiert sich in vielen Frauenvereinen. 1946 wird Haag Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung von Württemberg-Baden und im gleichen Jahr für die SPD in den Landtag gewählt. Dort initiiert sie den Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung, der 1948 angenommen und 1949 ins Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen wird: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden."

1952 kandidiert Haag nicht nochmal für den Landtag. Sie hält Vortragsreisen, engagiert sich im Rat der Europäischen Bewegung, schreibt. Sie stirbt am 10. Januar 1982, beigesetzt ist sie auf dem Friedhof in Stuttgart-Birkach. (lee)

Es sind solche offensichtlichen Widersprüche und Ambivalenzen, die deutlich machen: Anna Haags handschriftliches Tagebuch hat eine sorgfältige Edition mit exakten Anmerkungen verdient, eine Edition, die auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen benennt und kenntlich macht. Zu solch mangelhaften Ausgaben, wie es jetzt passiert ist, kann es kommen, wenn sich weder Verlag noch Herausgeberin ausreichend um die originäre Quelle kümmern. Auch das Stuttgarter Stadtarchiv, das die Handschrift verwahrt, ist gefordert. Wie erklären sich etwa Archiv und Nachlassverwaltung, dass wesentliche Anna-Haag-Einträge bis heute ungedruckt geblieben sind? Zum Beispiel solche wie jener vom Dezember 1941: "Man erzählt mir heute: die Juden seien auf dem Killesberg (Stuttgarter Anhöhe) gesammelt und dann ostwärts abtransportiert worden. Ach …. ich fürchte, sie alle kommen um."
 

Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode. Tagebuch 1940–1945", herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jennifer Holleis, Reclam, 2021, 448 Seiten, 35 Euro.


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4 Kommentare verfügbar

  • Auch ein Ernst Jünger mogelte.
    am 05.05.2021
    Antworten
    Auch ein Ernst Jünger hat in den zwanziger Jahren zur Verklärung dessen beigetragen, was er bis 1918 im ersten Weltkreif sehr zufällig überlebt hatte. In seinen Kriegsbüchern, das berühmteste ist "In Stahlgewittern", hat dieser den Krieg zwar nicht verarbeitet, aber sprachlich dennoch so weit und…
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