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Bahnpannen und Stuttgart 21

Ein Loch ist im Schotter

Bahnpannen und Stuttgart 21: Ein Loch ist im Schotter
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Plötzlich tat sich Mitte Juni unter den Bahngleisen bei Stuttgart-Obertürkheim ein Loch auf. Wochenlang fuhren die Züge im Schneckentempo. Liegt es an den S-21-Tunneln, die hier verlaufen? Es wäre nicht die erste Panne in diesem Bauabschnitt.

"Das war ein Verräter", sagt Christoph Hofrichter, Schauspieler, dazu: zum Foto vom Loch im Gleisbett zwischen den Stuttgarter Stadtteilen Untertürkheim und Obertürkheim, das dann auch in den Zeitungen und auf der SWR-Website erschien. Es war zuerst am 15. Juni auf der Facebook-Seite des Blogs "Der Eisenbahner" zu sehen und zeigt, aufgenommen am Vorabend um 20:54 Uhr, wie sich unter fünf Schwellen des zweiten der vier Gleise ein Loch auftut. Viele, auch Kritiker des Projekts Stuttgart 21, glaubten zunächst an einen Fake. Doch die Deutsche Bahn bestätigte: Das Bild war echt.

Was Hofrichter, der auf der Theaterbühne und im Fernsehen schon viele Bösewichte gegeben hat, einen Verräter nennt, könnte man auch als Whistleblower bezeichnen. "Der Eisenbahner" ist offenkundig eine Seite von Eisenbahnern. Der Blog bringt "kuriose Geschichten" und Interviews, es gibt eine Rubrik "Bahnunternehmen stellen sich vor" und "Insider News". Unter dem Stichwort "Über mich" steht nur: "(Folgt in Kürze)". Die Facebook-Seite zeigt überwiegend Pleiten, Pech und Pannen des realen Bahnbetriebs in aller Welt: Entgleisungen, Zugbrände, Zusammenstöße und dergleichen.

"Der Eisenbahner", Facebook-Post vom 15. Juni 2022, Link.

Die Stelle, wo das Loch war, ist überhaupt nur direkt vom Bahndamm aus einsehbar, wie ein Versuch ergibt, den Ort des Geschehens näher einzukreisen. Hofrichter war sofort hingefahren, als er von dem Malheur erfahren hatte, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch die Stelle ist praktisch unzugänglich. Das Loch befand sich auf der Höhe einer Spedition an der Ecke Augsburger-/Hafenbahnstraße, die im Hintergrund des Fotos zu sehen ist: ein niedrigeres Bauteil links und ein höheres rechts. Das Betriebsgelände ist nicht öffentlich zugänglich.

Auf der anderen Seite, von wo das Foto aufgenommen ist, fällt der geschotterte Bahndamm steil zu einem Baustellengelände ab, das wiederum von der Hafenbahnstraße durch einen dichten Baumbewuchs abgeschirmt ist. Kurioserweise führt hier die Hafenbahnstraße über die Hafenbahnstraße, denn ein Arm überquert als Brücke zwei Güterzuggleise zum Hafen, aber auch den anderen Arm, der im Bogen den Bahndamm unterquert, auf die Ostseite, wo sich die genannte Spedition befindet.

Die Stelle liegt knapp neben der Tunnelröhre

Kein Mensch käme auf die Idee, von dem hinter Bäumen versteckten Baustellengelände aus den steilen Bahndamm zu erklimmen. Es sei denn, er hätte hier zu tun als Gleisarbeiter, als Lokführer, der aus einem stehenden Zug aussteigt, oder eben als Mitarbeiter des Bautrupps. Genau hier verlaufen die beiden Tunnelröhren des Projekts Stuttgart 21 nach Obertürkheim, unter dem Bahndamm hindurch, wie die Karten des Bürgerinformationssystems oder noch genauer der Open Railway Map zeigen.

Ein S-Bahn-Fahrer, so ist Hofrichter zu Ohren gekommen, habe das Loch entdeckt, sofort abgebremst und den Schaden gemeldet. Es ist anzunehmen, dass es sich nicht erst in der letzten Viertelstunde davor aufgetan hat. Im Bahnforum "Drehscheibe online" meint ein Nutzer "Jürgen aus Stuttgart" sogar: "Als Fahrgast der S-Bahn war das sogar subjektiv wahrnehmbar. […] Wenn man dort jeden Tag fährt, fällt einem das sofort auf." Ein anderer bemerkt, wenn das Material in die Tunnelbaustelle gerutscht wäre, wäre das dort ja sofort entdeckt worden. Tatsächlich scheint sich die Stelle knapp neben der östlichen Tunnelröhre zu befinden.

Fest steht, dass die S-Bahn in den Tagen nach dem 14. Juni auf die Fernbahngleise ausweichen musste und dass noch bis in den Juli hinein sämtliche S-Bahnen, Fern- und Regionalzüge die Stelle im Schneckentempo passierten. Natürlich stellt sich die Frage, wie das passieren konnte. Und wie sichergestellt werden kann, dass es sich nicht wiederholt. Der Tunneleinbruch von Rastatt im August 2017 ist noch nicht vergessen.

Die DB weiß die Ursache nicht – und gibt Entwarnung

Einsilbig bleibt die Auskunft der Bahn. "Weshalb sich der Schotter abgesenkt hat, ist noch nicht abschließend geklärt", antwortet S-Bahn-Sprecher Reinhold Willing auf Kontext-Anfrage an die Pressestelle des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm. "Die Absenkung wurde umgehend bemerkt und behoben. Dabei kam zum Verdichten des Schotters, wie in solchen Fällen üblich, eine der gängigen Stopfmaschinen zum Einsatz. Seitdem ist die Gleislage stabil."

Das mag sein. Und die Züge verkehren inzwischen auch wieder im gewohnten Tempo. Trotzdem sollte so etwas eigentlich nicht vorkommen. Und solange die Ursache nicht feststeht, lässt sich genau genommen auch nicht ausschließen, dass es sich wiederholt. Warten, bis etwas passiert und dann Langsamfahrstellen einrichten, wie es die Bahn nach dem verheerenden Zugunglück bei Garmisch am 3. Juni dieses Jahres getan hat, reicht nicht. Die Sicherheit sollte gewährleistet sein.

Es ist nicht die erste Panne in der rund 1,5 Kilometer langen Obertürkheimer Kurve, die von der Verzweigung unter dem Neckar bis zu der Stelle reicht, wo die Schienen bei Obertürkheim wieder an die Oberfläche gelangen. 2018 drang so viel Wasser in die Baustelle ein, dass das Projekt für zwei Jahre zum Stillstand kam. 30 Liter pro Sekunde: kein Pappenstiel. Wo heute die Hafenbahnstraße verläuft, befand sich bis 1968 das Bett des Neckars. Christoph Hofrichter kann sich noch gut daran erinnern, damals war er 20 Jahre alt.

"Ungünstige geologische Verhältnisse"

In der Planänderung vom Dezember 2015 zum S-21-Planfeststellungsabschnitt 1.6a heißt es, in diesem Bereich würden "ungünstige geologische bzw. hydrogeologische Verhältnisse angetroffen. Für die Durchführung eines sicheren bergmännischen Tunnelvortriebs ist deshalb eine vorauseilende Abdichtung des Baugrundes bzw. eine Reduktion des der Tunnelröhre im Bauzustand zufließenden Grundwassers erforderlich". An anderer Stelle ist festgehalten: "Zur Sicherstellung des Bahnbetriebes auf dem Bahndamm ist ein setzungsarmer Vortrieb vorgesehen."

Für beide Zwecke, zur "Abdichtung des Untergrundes und somit zur Reduktion des Grundwasserzuflusses" wie auch zur "Erhöhung der Festigkeit" des Baugrunds, um "eine setzungsarme Unterfahrung der o.g. Gleise" zu erreichen, wählten die Planer das Düsenstrahlverfahren: eine "im Sinne der Richtlinie 853 'Eisenbahntunnel planen, bauen und instand halten', Stand 1.11.2014 nicht geregelte Bauart", die einer einzelfallbezogenen unternehmensinternen Genehmigung (UiG) bedürfe. Also keiner Genehmigung durch das Eisenbahnbundesamt (EBA).

Auch 2021 war der Wasserandrang noch hoch. Deshalb entschied sich die Bahn in der letzten Überarbeitung des Plans vom 4. November 2021, auch bei der Unterfahrung der Bruckwiesenwegbrücke das Verfahren zu ändern. Wie die Hafenbahnstraße ist auch der anschließende Bruckwiesenweg rund 150 Meter weit aufgeständert, weil dort ein weiteres Güterbahngleis zum anderen Neckarufer nach Wangen abzweigt. Die Fundamente der Pfeiler stecken 15 Meter tief im Grund – das ist ungefähr die Höhe der Tunnelgleise. Vier Pfeiler treffen genau auf die Tunnelröhren, zwei weitere knapp daneben.

Nur ein Unternehmen fand sich für die Ausführung

Das Gewicht dieser Pfeiler wird nun auf Betonringen um die Tunnelröhren abgefangen. Es handelt sich um ein neuartiges Verfahren, das die Planer eigens für diesen Zweck entwickelt haben. Nur ein Unternehmen fand sich bereit, dies auszuführen, die Firma Wayss und Freytag. Dass dies die Kosten in die Höhe treibt, ist klar. Und ein zweijähriger Baustopp wegen hohen Wasserandrangs ebenso.

Zu früheren Zeiten wurden Eisenbahntunnel nur dort gegraben, wo Berge im Weg standen. Auch dabei gab es Risiken – etwa von Erdrutschen oder aufquellendem Gipskeuper. In den Talauen der Großstadt Stuttgart aber vervielfachen sich die Probleme. Zum einen bestehen die Täler nicht aus festem Gestein, sondern aus heterogenem, angeschwemmtem Material, das auch Hohlräume und Wasseradern enthält. Darauf hatte der Architekt Frei Otto hingewiesen, als er aus dem Projekt Stuttgart 21 ausstieg.

Zum anderen gibt es im Untergrund einer Stadt wie Stuttgart kaum eine Stelle, wo noch nichts ist. S-Bahn- und Stadtbahntunnel, Unterführungen, Tiefgaragen, Keller, Leitungen aller Art und eben auch Fundamente: Die Planer nennen das Zwangspunkte. Sicher: Die Ingenieure finden für alles eine Lösung. Aber wenn bei einem "der am besten und umfassendsten geplanten Projekte der DB AG", wie es in einer Pressemitteilung einmal hieß, dauernd unvorhergesehen Probleme auftauchen, die wiederum Planänderungen und neue Verfahren nach sich ziehen, wird eben alles immer teurer und später fertig. Damit nicht genug: Neue, noch unerprobte Verfahren sind nicht risikofrei zu haben.

Hans-Jörg Jäkel ist noch etwas anderes aufgefallen: Genau an der Stelle, wo das Loch war, so der Bahn-Fachmann und Stuttgart-21-Kritiker, also dort, wo auch die beiden Tunnelröhren den Bahndamm unterqueren, sind erst vor drei Jahren die Bahngleise in Richtung Neckar verschwenkt worden. Eben um den aus dem Untergrund auftauchenden Schienen Platz zu machen. Demzufolge ist der Bahndamm dort, wo der Schotter eingebrochen ist, ganz neu. War er also nicht gut genug gebaut? Jäkel meint – und er habe dies damals auch angeregt –, wenn die Schienen über einer Brückenkonstruktion geführt worden wären, hätte nichts passieren können.


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5 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 10.08.2022
    Antworten
    Murks bleibt halt Murks.Es wurde echt genügend davor gewarnt. Jetzt müssen wir leider alle die Folgen tragen. :(
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