Einmal haben sie für eine Ausstellung über zwei Monate lang jede Woche feministische und queere Manifeste gelesen. Sie performten Hermann Hesses "Stadt", eine Parabel über Aufstieg und Fall der Zivilisation. In Erinnerung an den 80. Jahrestag der Bücherverbrennung 1933 lasen sie im Chor Bertolt Brecht, Anna Seghers und Erich Kästner.
Seit dem Wiedersehen mit dem Studienfreund verbringen Grabowski und seine Frau jedes Jahr im Oktober ihren Urlaub im Ferienresort in der Ägäis. Als sie wieder einmal zu Gast in der Türkei waren, saßen sie am Abend zusammen mit den Gastgebern und deren Freunden. Kulturell Interessierte, sagt Grabowski, Intellektuelle, fest verwurzelt in der kulturellen Szene der Stadt Marmaris. Und Grabowski erzählte vom Bürgerchor und von der Kraft, die das gemeinsame Sprechen auf der Bühne entfaltet.
Seine Freunde waren begeistert. Ob er nicht einmal mit dem Chor im Resort proben wolle? Naja, sagte Grabowski, aber wenn wir hier proben, wollen wir auch was aufführen. Ein paar Gläser ökologisch angebauten Wein später stand die Idee, in Marmaris Homers Odyssee vorzusprechen. Das sei "jugendlicher Leichtsinn" gewesen, als hätte es nicht was Einfacheres sein können, sagt Grabowski heute, und erzählt von der berühmten Zwölfeinhalb-Stunden-Aufführung von Peter Stein. Ausgerechnet die Odyssee!
Der kulturelle Austausch ist gelähmt
Aber irgendwie war es ja auch eine Herausforderung. Die Sirenen für die Frauenstimmen, das ganze Projekt für alle Beteiligten. Und so spannte Grabowski Freunde ein, die altgriechisch können, um ihm beim Lesen des Originaltextes zu helfen, und sein Team dampfte eine Übersetzung von Homers Schrift auf 80 Minuten für das Sprechensemble ein. Das Kammerorchester Marmaris beauftragte einen Komponisten aus Aserbaidschan, die Musik für das Stück zu komponieren, holte geeignete Musiker aus Aserbaidschan und Georgien mit ins Boot. Zwei Jahre ist das nun her, fast drei.
In dieser Zeit hat sich die Politik in der Türkei erst langsam, dann schlagartig verändert. Bei seinen Freunden im Resort brachen die Touristenzahlen ein. Sie berichteten, dass die Intellektuellen und Künstler in der Türkei immer weniger Kontakte nach außen pflegen konnten und nach innen immer weniger miteinander sprachen, dabei seien sie doch gesellschaftspolitisch engagierte, "bewusste Menschen", sagt Grabowski. "Das Klima ist vergiftet, keiner weiß, ob der andere ihn als Gülinisten bezichtigt und man im Gefängnis landet". Das sei lähmend für den kulturellen Austausch.
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Yol Der Weg
am 06.12.2017