Frank Müller ist Chef des IT-Dienstleisters Axsos, der Niederlassungen in Stuttgart, Solingen und in Ramallah unterhält. Ramallah? An die verdutzte Rückfrage ist er längst gewöhnt. Mit fünf Mitarbeitern hat er 2011 in der Westbank begonnen, bis 2030 sollen es zwischen 500 und 1000 sein. Der 48-Jährige glaubt an eine Zukunft trotz Sperranlagen und Repressalien. Israelis üben hier die volle zivile und militärische Kontrolle aus, und ihr Verständnis davon ist oft genug inakzeptabel. "Ich bin pro Frieden", sagt er, "aber gerade wir Deutsche tun gut daran, beide Seiten zu sehen und zu moderieren." Wichtig sei, "dass die junge Generation Palästinas ihr Leben nicht mit Steinewerfen verschwendet". Weil er aber weiß, wie eingeschränkt die Möglichkeiten der arabischen Beschäftigten unter israelischer Besatzung sind, wurden Heimarbeitsplätze eingerichtet, der immer wieder verhängten Ausgangssperren wegen.
Ende März hatten Müller und sein Aufsichtsratschef Rolf Stephan Besuch. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wollte nicht nur in Tel Aviv, sondern auch in der Westbank einen Einblick in die Start-up-Szene bekommen. Auch hier studieren junge Frauen schneller und machen die besseren Abschlüsse. Axsos hat deutsch-arabische Projektteams eingeführt. Kulturelle Vielfalt wird als besonders produktiv gerühmt und befördert. So hängen in den Räumlichkeiten in Ramallah ausschließlich Bilder deutscher Sehenswürdigkeiten an den Wänden, in Stuttgart nur solche aus dem Nahen Osten. In Deutschland seien im IT-Bereich zwischen 30 000 und 50 000 Stellen unbesetzt, weiß Müller, der in den Neunzigern Angestellter beim Evangelischen Jugendwerk Baden-Württemberg und zur Aufbauarbeit in Palästina war. Hier treffe er auf Gastfreundschaft, auf Zugewandtheit, auf die vielen Vorzüge der arabischen Welt. In seinem unternehmerischen Engagement sieht er "einen Beitrag zum Frieden im Heiligen Land". Es würden Brücken gebaut und soziale Marktwirtschaft exportiert, lobt Winfried Kretschmann. Der Blick aus dem Fenster neben ihm ist dennoch ernüchternd trist. Auf dieser Seite der Mauer, die Israel gegen den Terror schützen und im Endausbau rund tausend Kilometer lang sein soll, funktioniert nicht einmal die Müllabfuhr.
"Wir weigern uns zu hassen"
Keine 50 Kilometer weiter südlich funktioniert noch viel weniger. Daoud Nassar streitet seit 1991 um das Land, das sein Großvater vor hundert Jahren und mit Dokumenten lückenlos belegbar gekauft hat. Einen "Außenposten der Hoffnung" nennt er seine 42 Hektar. Dabei darf er, weil es die israelischen Behörden nicht wollen, nicht bauen, es gibt kein Wasser- und keine Stromleitung, dafür Zisternen und die Sonne. Geschlafen, diskutiert, gelebt und gelacht wird in Höhlen und Zelten. "Wir weigern uns zu hassen", steht auf Stein gemalt am Eingang zur Begegnungsstätte, "wir weigern uns, Feinde zu sein." Die Familie, die bisher 180 000 Dollar in die gerichtlichen Auseinandersetzungen gesteckt hat, ist jederzeit auf das Anrücken der Bulldozer gefasst. Einmal wurde, wenige Tage bevor die Aprikosen reif waren, die gesamte Ernte samt den Bäumen zerstört. Direkt gegenüber, jenseits einer schmalen Senke, entsteht gerade eine große Schule für die Kinder jüdischer Siedler. Nassar ist Betriebswirt mit österreichischem Abitur und bestem Deutsch. Er weiß, dass wenn das so weitergeht mit dem Bauen, ihr Besitz irgendwann von Siedlungen eingekreist sein wird und damit vom Umland abgeschnitten.
"Wenn du als Soldat einen Schritt in die besetzten Gebiete machst, dann ist das, als ob du deine Moral in den Reißwolf wirfst – nach einer Minute ist nichts mehr davon übrig", schreibt Jehuda Schaul. Früher diente er in Israels Armee, später hat er die <link http: www.breakingthesilence.org.il external-link-new-window>Organisation "Breaking the Silence" (Schweigen brechen) gegründet, auf Hebräisch "Schowrim Schtika". 146 Augenzeugenberichte versammelt das inzwischen auch auf Deutsch erschienene gleichnamige Buch. "Die jungen Männer und Frauen", heißt es im Vorwort von Avi Primor, einst Botschafter in Bonn, "wollen niemand verleumden, sie wiederholen keinen Tratsch und Klatsch, sie verbreiten keine Gerüchte, sondern sie erzählen das, was sie selbst gesehen haben oder sogar was sie selber getan haben".
Schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart die grausame Wirklichkeit. "Ihre Gliedmaßen waren auf der Mauer verschmiert" heißt ein Kapitel; "Mir war nicht bewusst, dass es Straßen nur für Juden gibt" ein anderes. Soldaten beschreiben ihren Auftrag mit "Stören und belästigen", Krankenwagen aufzuhalten, in einer "Art totaler Willkür" vorzugehen. Ein Palästinenser muss – Luftlinie keine 20 Kilometer von Yad Vashem entfernt – einen Kontrollpunkt nutzen. "Was ist das sonst", fragt ein Fallschirmjäger, "wenn nicht ein Ghetto?"
Eine Zwei-Staaten-Lösung ist schwer vorstellbar
Unter den Gästen aus Baden-Württemberg, die von Jerusalem aus auf erzwungenen Umwegen zu Axsos nach Ramallah fahren, die in der Frühsommerhitze den 30-minütigen Fußweg zum "Tent of Nations" zurücklegen müssen, weil die Straße von den Besatzern mit einem großen Felsblock unpassierbar gemacht wurde, kann sich niemand mehr vorstellen, wie eine Zwei-Staaten-Lösung, ein friedliches Nebeneinander aussehen könnte. Müller und Nassar eint ihre beeindruckende, an Realitätsverweigerung grenzende Zuversicht. Im nächsten Jahr, erinnert der Unternehmer, jähre sich die israelische Besatzung der Westbank zum 70. Mal – mit all den damit verbundenen Einschränkungen. Das habe "in den Köpfen der Menschen ein Opferbewusstsein hinterlassen", das aufgebrochen werden muss. Er wolle den jungen Menschen in Palästina vermitteln: "Ihr habt einen Gestaltungsspielraum, ihr könnt das Land verändern, damit vielleicht irgendwann einmal eine Augenhöhe zwischen Israel und Palästina entsteht."
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S. Holem
am 09.05.2017