Die behinderten Elitesportler haben die Inklusion längst geschafft. Es ist sozusagen die Inklusion innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft, die immer, überall und von jedem Leistung verlangt. Fast scheint es so, als dürfe es keinen leistungsarmen oder gar -freien Bereich mehr geben, in dem rücksichtsvolles Miteinander mehr zählt, als Bester und Erster zu sein. Diesen oft sehr anspruchsvollen Elitesportlern geht es jedenfalls nicht ums Teilnehmen, sondern ums Siegen, ihre Verbissenheit ist mindestens so groß wie die der Olympioniken. Stolz hat Marc Woods, ehemaliger Behindertensportler und zwölfmaliger Goldmedaillengewinner, als Sprecher der Londoner Spiele gesagt: "Wer den Siegeswillen bei den Paralympics infrage stellt, sollte sich einmal eine Runde Rollstuhl-Rugby ansehen oder 'Mörderball', wie es manchmal auch genannt wird. Bei diesem äußerst aggressiven Spiel brechen sich manche Teilnehmer oft gleich mehrere Knochen."
Nein, am Siegeswillen wird nicht gezweifelt. Die Ideologie, dass alle mit allen Mitteln versuchen müssen, sich durchzusetzen, hat auch die Paralympics erfasst. Die Freude am Sport, an der Bewegung, am Spiel scheint sich mehr und mehr zu verflüchtigen. Stattdessen schleichen sich Neid und Eifersucht ein. Seit Langem etwa bekämpfen sich die deutschen Leichtathletik-Stars Wojtek Czyz und Heinrich Popow nicht nur im Stadion, sondern auch verbal. Czyz hat dem 100-Meter-Sieger Popow in London vorgeworfen, mit einem Hightech-Kniegelenk zu laufen, das anderen vorenthalten werde. Popow hat dies bestritten ("Wenn man nicht verlieren kann, muss man eben irgendeine Scheiße labern!"), wirft nun in Rio aber seinerseits Amerikanern und Brasilianern vor, sich mit zu langen Laufprothesen Vorteile zu verschaffen. "Das ist Affentheater, das hat nichts mit Leistungssport zu tun." Eine Aussage, in der die Angst des Profisportlers um seinen Arbeitsplatz zu spüren ist.
Die Diskussion um die Länge der Prothesen gehört in den Bereich "Techno-Doping". Das teurere und bessere Material kann zum Sieg führen. Auch deshalb werden prothesentragende deutsche Leichtathleten im Medaillenspiegel immer vor denen aus Kambodscha liegen, obwohl es dort, wegen der immer noch explodierenden Landminen, viel mehr Beinamputierte gibt. Die Athleten werden übrigens in einem komplizierten System nach dem Grad ihrer Behinderung in Klassen eingeteilt, es gibt in Rio beispielsweise nicht nur ein Männerfinale über 100-Meter, sondern gleich sechzehn!
Beschissen wird bei der Klassifizierung der Behinderung
Was dazu führt, dass weniger Konkurrenz als bei den Olympischen Spielen da ist: Wie viele Menschen betreiben schon Dressurreiten in jener Schadensklasse, in die Unterarmamputierte eingestuft werden? Es führt auch dazu, dass mehr Medaillen als bei Olympischen Spielen vergeben werden. Und dazu, dass oft dieselben gewinnen, dass etwa die 63-jährige Marianne Buggenhagen bei fünf Paralympics neun Goldmedaillen im Diskus- und Speerwerfen und Kugelstoßen gewonnen hat – und in Rio auf ihre zehnte hofft.
Gerade bei der Klassifizierung wird auch beschissen. Wer als weniger leistungsstark eingestuft wird, als er tatsächlich ist, startet in einer niedereren Klasse und hat Vorteile gegenüber der Konkurrenz. Der Kampf um diese Abstufungen vergiftet die Atmosphäre, die Athleten verdächtigen sich gegenseitig, erklären die Regeln für unfair, beschimpfen die Kampfrichter. Der Physiotherapeut Jürgen Schmid, der Sportler auf die Schwere ihrer Beeinträchtigungen prüft, hat im "Spiegel" erklärt: "Wir testen hart, aber wer uns wirklich ein Handicap vorspielen will, schafft das."
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Roger Hahn
am 18.09.2016