Henri zieht sich zuerst immer Schuhe und Strümpfe aus und sitzt im Schneidersitz auf seinem Stuhl. Als Oberbekleidung findet er ein Unterhemd völlig ausreichend. Seine Lehrerinnen möchten, dass er alles anbehält. Sie haben keine Chance. Drehen sie sich um, hat Henri – zack – den Pulli ausgezogen. Wir versuchen bei der Fußbekleidung eine Zeit lang einen Kompromiss: Wenigstens Hausschuhe soll er im Unterricht tragen. Auch das ist nicht wirklich erfolgreich. (...)
Henri ist, wie viele Menschen mit Downsyndrom, sehr klein. Bei seiner Einschulung ist er gerade mal so groß wie ein Vierjähriger. Doch er soll seinen Schulranzen unbedingt allein ins Gebäude tragen, das ist den Lehrerinnen wichtig. Keiner seiner Klassenkameraden darf ihn ihm abnehmen. Sie tun es trotzdem. Mit seinem Schulranzen, der oft auch viel zu schwer für ihn ist, sieht Henri aus wie eine Schnecke, die ihr etwas zu groß geratenes Haus auf dem Rücken mit sich herumschleppt. Ich bespreche mit den Lehrerinnen, dass im Ranzen wirklich nur Dinge sein müssen, die Henri von einem Tag auf den anderen braucht. Andere Kinder können das selbst aussortieren. Henri benötigt dabei Unterstützung. Man kann Henri leicht davon überzeugen, einen leichten Schulranzen zu tragen. Einen schweren lässt er einfach im Foyer stehen.
Bunt anmalen ist in der Grundschule sehr wichtig. Das weiß ich noch von seiner Schwester Emily. Da hatten wir uns bei so mancher Hausaufgabe darauf geeinigt: Emily rechnet, Mama malt an. Henri aber malt und schreibt alles mit Bleistift. Für seine Verhältnisse liebevoll angemalt hat er das Bauernhofbild, das er eines Tages mit nach Hause bringt. Alles natürlich in Grau mit seinem Lieblingsbleistift. Darunter steht: "Bitte sorgen Sie dafür, dass Henri alles noch einmal bunt anmalt." Ich lese Henri diesen Satz vor. Henri schaut mich entgeistert an und sagt: "Aber ich liebe Grau!" Ich schreibe seine Antwort als direktes Zitat unter das Bild. Henri packt es in den Ranzen, und fertig sind die Hausaufgaben. Von den Lehrerinnen höre ich dazu nichts mehr. (...)
Henri ist langsam. So langsam wie Franklin, die kleine Schildkröte in seinen Bilderbüchern. Gehetzt zu werden hasst er. Dann wird er noch langsamer. Wer als Lehrer schon einmal mit einem Kind mit Downsyndrom zu tun hatte, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit genau das erleben, denn viele – nicht alle – Menschen mit Downsyndrom sind genauso wie Henri. Die erwachsene Tochter einer Freundin sagt immer: "Schnell kann ich nicht." Henri drückt es anders aus. Wenn jemand "Zack, zack" zu ihm sagt, setzt er seinen Wichtig-wichtig-Blick auf und sagt sehr bestimmt: "'Zack, zack' sagt man nicht!" Wer einmal im Schneesturm mit Henri zu Fuß von der Schule nach Hause gegangen ist, erlebt eindrucksvoll und frierend, dass sich Henri nicht beschleunigen lässt. Er hat sein Tempo. Und Punkt. (...)
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johanna henkel-waidhofer
am 31.07.2015