Ab dem dritten Lebensjahr gehen alle Kinder in den gemeinsamen Kindergarten, der politisch und verwaltungstechnisch im Schulressort verankert ist. Erzieherinnen und Lernpersonen – wie es geschlechtsneutral so schön heißt – absolvieren eine gemeinsame Ausbildung mit Bachelor und Master und können den sogenannten Integrationslehrer draufsatteln. In den betroffenen Klassen unterrichten die meiste Zeit zwei Pädagogen, außerdem steht den Kindern, je nach Benachteiligung, ein Mitarbeiter ausschließlich für die technische und persönliche Hilfe zur Verfügung: beim Essen, im Klassenraum, aber auch in der Ruhephase, sollte der Unterricht zu stressig werden.
Viele Jugendliche, etwa mit Downsyndrom, absolvieren auf diese Weise die allgemeine staatliche Abschlussprüfung nach acht Jahren, zumindest in bestimmten Fächern. Selbst ohne diese Abschlussprüfung steht allen(!) behinderten Schülern und Schülerinnen der Wechsel aufs Gymnasium offen. Der Übergang ins Berufsleben ist zumindest eine so große Hürde wie in Deutschland. Aber die Schule, die Einheitsschule, sagt eine der Professorinnen stolz, die funktioniert, weil sie "ohne Abstriche jedes Kind willkommen heißt". Noch so eine skeptische Abgeordnetenfrage: Es darf also quasi niemand abgelehnt werden? Die Antwort der Brunecker Professorin Edith Brugger-Paggi steht für's System: "Quasi gibt es bei uns nicht."
Südtirol blickt stolz auf eine funktionierende Einheitsschule
Der Aufholbedarf im Südwesten ist deshalb so immens, weil die Schulrealität insgesamt modernen Anforderungen nicht entspricht. Die CDU verweigert sich – selbst entgegen eigenen Bundesparteitagsbeschlüssen – einer Strukturreform. "Besonders in den Ländern, in denen das tradierte dreigliedrige Sekundarschulsystem noch stark ist, findet Inklusion in der Exklusion statt", schreibt ihr der Bildungsforscher Klaus Klemm per Studie im Auftrag der unverdächtigen Bertelsmann-Stiftung ins Stammbuch. Was allerdings auch nichts nützt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Gebetsmühlenhaft beschwören die CDU-Experten ihr Credo vom besseren Schulerfolg durch die Trennung nach Klasse vier.
Selbst PISA, so gern ins Feld geführt, wenn es ums vergleichsweise gute Abschneiden Baden-Württembergs in bestimmten Teilbereichen geht, kann nicht überzeugen. Dabei liegt Südtirol im Länder/Provinzen-Vergleich beim Lesen sogar vor dem Dauersieger Finnland, in Mathe etwa gleichauf mit Baden-Württemberg und ausgerechnet in den Naturwissenschaften mit stolzen 530 Punkten im direkten Vergleich deutlich vorn. Trotz – oder wegen, wie die Verantwortlichen in Bozen sagen würden – der Einheitsschule bis zum 14. Lebensjahr. "Warum behalten Sie die Zweigleisigkeit?", will eine der Bildungswissenschaftlerinnen von den Gästen wissen und appelliert an sie, die Reform "doch mit Mut und ohne Hintertürchen" anzugehen. Der Direktor der Sozialdienste im Bezirk Überetsch berichtet von einem Besuch jüngst im renommierten Spastikerzentrum in München, in das tagtäglich Hunderte Kinder aus der ganzen Region zum Unterricht gebracht werden. Unverständlich sei das für die Südtiroler Verantwortlichen, "schockierend eigentlich".
Botschaften aus der pädagogischen Steinzeit
Inklusion ist nicht nur eine Frage der Haltung. Für Politiker und -innen ist es eine Charakterfrage. Weil es nicht um Wirtschaftskraft und Wettbewerb, um Schienen- oder Straßenbahn geht, sondern um Kinder. Da dürften gesicherte Erkenntnisse nie beiseitegeschoben werden, um sich an die eigene Ideologie zu klammern. Der Fortschritt ist hierzulande auch deshalb eine derartig phlegmatische Schnecke, weil CDU und FDP im Kampf um Wählerstimmen Vorurteile untermauern, statt bei der Überwindung mitanzupacken. Selbst in Pionierregionen im Land wie in Freiburg, wo Eltern ihre Kinder in den Achtzigern sogar in den Regelkindergarten einklagen mussten, ist die Tendenz zur Sonderschule dementsprechend ausgeprägt: Von den gut 500 Kindern zur Einschulung, die der sonderpädagogische Dienst im vergangenen Herbst testete und deren Eltern eingehend beraten wurden, fiel nur für 77 die Entscheidung zugunsten des inklusiven Bildungsangebots.
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Judith Dibiasi
am 10.07.2015