Stuttgart mit seinen rund 600 000 Einwohnern ist Modellregion. Dennoch blieb bisher außerhalb aller Fachzirkel weitgehend undiskutiert, worum es wirklich geht: nicht nur um Kinder im Rolli, die auf ein mehr oder weniger barrierefreies Gymnasium gehen, oder um Seh- oder Hörbehinderte, die dank zusätzlicher Betreuung die allgemeinen Klassen- und Lernziele erreichen. Es geht um viel mehr. Es geht um Schüler und Schülerinnen, die an einem Unterricht teilnehmen, dem sie nicht zur Gänze folgen können, um Vielfalt und Miteinander, um Respekt und Teilhabe, um Anspruch und Wirklichkeit. "Um das Recht auf Bildung, das weder durch die Schwere der Behinderung noch durch leere Kassen der öffentlichen Hand in Frage gestellt werden darf", so die Forderung des Landesverbands für Menschen mit Körper-und Mehrfachbehinderung. Schule müsse "völlig neu gedacht werden".
In der Landeshauptstadt besuchen derzeit knapp 500 Kinder eines der 60 inklusiven Bildungsangebote, viele von ihnen gehen noch in die Grundschule. Wie schwierig der Übergang in eine fünfte Klasse werden kann, zeigt die Debatte um den Jungen mit Downsyndrom aus Walldorf, der mit seinen Freunden aufs Gymnasium gehen möchte. Eine Aufgabe, der sich das dortige Lehrerkollegium nicht stellen will und kann. Bisher wechselten nur Kinder, die auch das Abitur anstreben können.
"Nicht mehr als eine schöne Illusion"
In Stochs reiner Lehre wird es solch eine abwehrende Haltung nicht mehr geben. Dennoch mochte der Minister, verheiratet mit einer Sonderschulpädagogin, in den seit Wochen nicht zuletzt auf dem Rücken der Viertklässler ausgetragen Streit nicht eingreifen. Dabei haben die seit Jahren aktiven Eltern das zuständige Schulamt in Mannheim und die Stadt auf ihrer Seite. Inzwischen läuft eine Online-Petition. Und der Behindertenbeauftragte der Landesregierung, Stochs Parteifreund Gerd Weimer, appelliert an die Gymnasiallehrer, für sich keine Ausnahme von der Inklusion zu beanspruchen. Jede Schulart solle sich verantwortlich fühlen. Sönke Asmussen, Leiter des zuständigen Referats im Kultusministerium, ersetzt dieses "soll" sogar durch "muss" und sieht eine "einmalige Chance" für eine Öffnung gegenüber neuen pädagogischen Impulsen und Konzepten.
Anspruch und Wirklichkeit. Es gibt noch nicht einmal einen rechtlichen Rahmen, um den Elfjährigen tatsächlich aufzunehmen. Dennoch werde theoretisch "alles von allen verlangt", sagt Michael Hirn, Stuttgarts geschäftsführender Sonderschulleiter und mit zuständig für alle entsprechenden Einrichtungen in der Stadt. Das sei aber noch immer "nicht mehr als eine schöne Vision". In der Realität lassen sich in den von CDU und FDP vor vier Jahren auf den Weg gebrachten Modellregionen nur wenige Realschulen und Gymnasien auf jene konsequenten Formen der Teilhabe ein, welche die seit 2009 für Deutschland verbindliche UN-Menschenrechtskonvention verlangt.
Dabei ist der Weg im Südwesten besonders weit. Die ersten Kinder, deren Eltern einen gemeinsamen Unterricht vor Gericht erstreiten mussten, sind längst erwachsen. Noch 2009, nach jahrelangem Kampf und unzähligen ebenso eindringlichen wie vergeblichen Appellen an den damaligen Kultusminister Helmut Rau und die CDU/FDP-Landesregierung, sorgt erst ein Gerichtsentscheid dafür, dass die Waldorfschule in Emmendingen ihr integratives Konzept umsetzen darf.
4 Kommentare verfügbar
Jupp
am 19.05.2014Dürfte ich heute auf Versetzung klagen? Mich quasi wieder zu den Freunden inkludieren?
Im Ernst: Da bin ich mental noch nicht so weit um den Sinn von geistig behinderten Menschen in Gymnasien zu verstehen. Was…